Es klingelt an Verenas Wohnungstür in Wien-Brigittenau. „Das ist ein Überfall!“ Mit diesen Worten marschieren drei verkleidete Kinder wild entschlossen ein. Alles, was nicht niet- und nagelfest ist, wandert (vorübergehend) in den Beutesack. Entzückend in ihrem Spiel waren die drei doch bewusst am Grat zwischen Erlaubtem und Ungebührlichem unterwegs. Die Bilderbuchkünstlerin Verena Hochleitner hat sich zu ihrem Debut als Autorin von dieser wahren Begebenheit inspirieren lassen, wie sie am Telefon erzählt.
Entstanden ist vergnüglichster Lesestoff für SelbstleserInnen ab acht oder auch Vorlesefutter der Spitzenklasse für Familien mit Kindern ab fünf Jahren – mit überaus liebevoll gestalteten Bildern voll kurioser Details in einer neuartigen Technik. Wie die bemalten, gekratzten, geschabten und geschnittenen Folien, die Verena Hochleitner übereinander komponiert, collagiert und danach fotografiert hat, so legt sich in der Vorstellung der Kinder die Ebene des Räuberwaldes über das Stiegenhaus. Ebenso schiebt sich das, was man als gewissenhaftes und mitfühlendes Kind tun soll oder darf wiederholt über das, was die Räuberinnen in ihren furchterregenden Rollen tun. Und das ergibt ein ständig wechselndes, lustiges Handeln der Kinder. Das folgsame Ausziehen der Straßenschuhe vor einem Überfall ist für Räuber doch eher unüblich, genauso wie das gefügige Verteilen von Werbeprospekten auf Anweisung der Postbotin gleich nach dem Erbeuten. Gutes zu tun passiert der Bande quasi unabsichtlich nebenbei.
Die Schulkinder Maja und Bruno und der jüngere Kaspar bauen sich an einem langweiligen Nachmittag ihr eigenes Abenteuer. Begonnen hat alles mit einer Räuberhöhle aus Decken unterm Hochbett. Und mit den Anziehsachen aus dem gelben Sack, ganz hinten im Kasten: Ein Hut, ein gestreiftes Hemd, ein breiter Gürtel, in dem sich locker sieben Messer unterbringen lassen, und eine rote Sturmhaube. Aus Maja wird Wanda, aus Bruno Bronski und Kaspar, der bleibt lieber Kaspar. Und außerdem wäre er ein ganz kleines bisschen lieber Spider-Man gewesen. Mit einem leeren Deckenüberzug als Beutesack ziehen sie los, und machen der Reihe nach bei jeder Türe der bunt zusammengewürfelten HausbewohnerInnen Station. Das gezeichnete Personenregister am Nachsatz-Papier erinnert an Hochleitners textloses Bilderbuch „Hundesalon“ und fasst die handelnden Personen zusammen.
Zuerst läuten sie beim computerspielenden Oskar, der zu cool ist, um Teil der Bande zu sein, und wollen seine Playstation und die Katze rauben. Auf Pause stellen geht beim Online-Spiel nicht. „Ich muss es durch den Wald schaffen … es gibt jede Menge Hindernisse und so … wenn ich ein Schwammerl abschieß, krieg ich Extrapunkte.“ Computerwald und Stiegenhaus-Räuberwald liegen knapp beieinander. Das ist zu respektieren, also wandert nur ein leerer Pizzakarton als Pfand in den Sack.
Die drei treiben weitgehend von Erwachsenen unbehelligt ihr räuberisches Unwesen. Einzig Wandas Mutter will ihrer Tochter jetzt auf der Stelle die dreckigen Fingernägel schneiden: „Es war zum Heulen (…) Wer soll mich mit so feinen Händen noch ernst nehmen?“ – Die Mutter kriegt die Kurve und lackiert allen drei Kindern die Nägel schwarz. Auf einen Nagel malt sie Totenköpfe. Für eine aufstrebende Räuberin kann das nur nützlich sein, um sich gegebenenfalls wortlos und frech zu wehren. Klar, dass Wanda nicht einfach Teil einer Räuberbande sein kann. Sie ist schließlich eine Räuberin. Spätestens beim Singen des selbstgedichteten Räuberliedes „Im Wald, da sind 3 Räuber“ regt sich ihr Widerstand. Und weil in „Räuberinnen“ das Wort Räuber schon drin steckt, nennen sie sich ab sofort „Die drei schrecklichen Räuberinnen“, wohlgemerkt, nicht RäuberInnen, Räuber*innen oder Räuber_innen, sondern Räuberinnen. Das ist nur gerecht.
Vielseitige Alltagswirklichkeiten zwischen Computer und Smartphone integriert die Autorin gewitzt in ihre Geschichte. Es sind die Erwachsenen, die an ihren Geräten hängen und Anlass für reflektierende Gespräche beim Vorlesen bieten. Ein Aspekt, der die Lektüre vor dem Hintergrund des zunehmenden Handybesitzes von Volksschulkindern um eine Facette reicher macht.
„Wischfinger“ ist auf der Suche nach gutem Handyempfang unansprechbar, „Chipsbrösel“ repariert beim fahlen Licht der Monitore tagein tagaus Computer und ernährt sich hauptsächlich von Chips und Cola. Oder auch der dauercomputerspielende Oskar: Durch die väterliche Maßnahme, den Laptop zu kassieren, wird Oskar zugänglich. Er nähert sich der Kindesbande an und ist auch dabei beim gemütlichen Filmschauen, „Spider Man“ in der Räuberhöhle, und Übernachtung inklusive Katze Lilly – welch rundum herzenswarmes Happyend!
Eine meiner Lieblingsfiguren ist Hausmeister „Stubenrein“ mit seinen sieben unsichtbaren Neffen, die ihm beim Saubermachen helfen. Eine männliche Putzbrigade! Als skurrile Parallelhandlung begleiten sie das Geschehen und finden zum Abschluss eines jeden der kurzen Kapitel Erwähnung. Zu gerne würde ich mehr von diesen kleinen hilfreichen Geisterchen erfahren! Möglicherweise gibt es im nächsten Jahr eine Fortsetzung der 3 Räuberinnen, aber das ist eine andere Geschichte …
Verena Hochleitner:
Die 3 Räuberinnen
Tyrolia 2019
Ab 8 Jahren
Veronika Mayer-Miedl
wurde 1971 geboren, ist Buchhändlerin, Mutter von 3 Kindern und lebt in Ottensheim, wo sie 17 Jahre im Kleinen Buchladen tätig war. Ein Fernkurs für Kinderliteratur an der „STUBE Wien“ war wegweisend. Glückliche Begegnungen bei Seminaren im „Kinderbuchhaus im Schneiderhäusl“ inspirierten zu Bilderbuch-Stunden für Eltern-Kind-Gruppen, zu Literaturvermittlung für Vorschulkinder und zu Referententätigkeit für Kindergartenpädagogik. Aktuell rollt sie mit Eisenbahn oder Fahrrad die Donau entlang nach Linz, wo sie als Mitarbeiterin der Buchhandlung ALEX am Hauptplatz Bücher empfiehlt, die auf den zweiten Blick noch Überraschendes bereithalten. Mit ihrer Freundin vom Figurentheater [isipisi] teilt sie die Leidenschaft für das japanische Erzähltheater „Kamishibai“ und gibt Vorführungen in Bibliotheken, Kindergärten und Schulen. Fallweise tritt sie als Grille, rebellische Juliane oder sogar Meerjungfrau auf.