Notiz #4: Über Sonnenuntergänge in Kroatien und einen kleinen Jungen, der nie geboren wurde.
Das Segelboot
Ich sitze am Bug eines Segelbootes, das langsam der untergehenden Sonne entgegenfährt. Irgendwo in Kroatien. Auf diesen Moment habe ich lange gewartet. Ich dachte schon, er käme nie. Denn menschengemachte Grenzen kann auch ich nicht durchbrechen. Monatelang bin ich nur mehr im Kopf gereist. Je anstrengender mein Leben in Zeiten Coronas als berufstätige Mutter wurde, desto weiter bin ich in Gedanken gereist. Zurück an jene Orte, die aus mir das gemacht haben, was ich bin.
Über das Glück
Die Welt, die mich jetzt hier umgibt, erscheint unwirklich vor Schönheit. Eine blutrote Sonne über dem silbernen Horizont des Meeres. Ich habe diese Sonnenuntergänge hundertfach erlebt, alleine, mit Freunden, mit dem geliebten Menschen, mit meinen Kindern. An vielen Orten der Erde. Und doch werde ich mich niemals an dieses Glücksgefühl gewöhnen, das mich jedes Mal erfasst, wenn die Zeit still zu stehen scheint. Diese Minuten zwischen Tag und Nacht, in denen sich die Erde noch einmal gegen die Dunkelheit aufbäumt – wie ein Kind, das nicht einschlafen will.
Das erschöpfte Meer
Das Meer in der einsamen Bucht, in der wir ankern ist spiegelglatt. Selbst im Dämmerlicht sieht man noch die Fische über dem türkisblauen Grund. Davor hatte die Bora unser kleines Boot stundenlang zum Spielball der Wellen gemacht. Doch jetzt ist das Meer völlig erschöpft und wir sind es auch. Wie schnell sich doch alles verändern kann. Nicht nur das Meer.
Ein kleiner Junge
Lange Zeit traut sich niemand von uns die Stille zu durchbrechen. Jeder ist mit seinen Gedanken alleine. Ich denke mir, die großen Ideen entstehen in Momenten wie diesen. Ich beobachte das Farbenspiel der untergehenden Sonne und warte auf die dünne Sichel des Mondes, als Vorboten einer jener unendlich klaren Sternennächte, die mich weit zurück in die Vergangenheit werfen. Denn es gibt einen Stern, der einem kleinen Buben gehört. Einem Buben, der sich vor fünfzehn Jahren entschieden hatte, nicht geboren zu werden. Er ging beinahe unbemerkt und ließ mich zurück in Fieberträumen, die nicht enden wollten. Als alles vorüber war schenkte ich ihm einen Namen und den leuchtensten Stern im Sternenbild des Skorpions. Auf diesen Stern warte ich jetzt, um nicht zu vergessen.
Die Stimmen meiner Freunde durchbrechen die Stille und reißen mich aus den Gedanken. Auch die magischen Minuten gehen irgendwann vorüber. Zurück bleibt jedoch ein unbeschreibliches Glücksgefühl und die Erinnerung an einen kleinen Jungen.
Natalie Halla
spricht sechs Sprachen, ist weitgereist und arbeitet als unabhängige Filmemacherin. Ihre „Notizen einer Abenteurerin“ bieten sehr persönliche Einblicke in eine unbekannte, spannende Welt abseits üblicher Reiserouten und befassen sich auch mit sozialen und humanitären Ungerechtigkeiten, denen sie begegnet ist.
www.nataliehalla.com
Foto: Alexandra Grill