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04-05/24

Kinderbuch: Abenteuer in einer bitteren Zeit – ab 12–14 Jahren

Kinderbuch: Abenteuer in einer bitteren Zeit – ab 12–14 Jahren

Die Handlung basiert auf historischen und geografischen Tatsachen kombiniert mit einer fiktiven Verschwörungsgeschichte, in der die Jugendlichen detektivisch agieren. Und indem Morosinotto mehrere Perspektiven wählt und die erzählenden Personen über innere Zweifel und moralische Skrupel nachdenken lässt, wird das Lesefutter zugleich zum überzeugenden Anti-Kriegs-Roman.

Die deutsche Belagerung Leningrads im Jahr 1941 als Kulisse für einen Abenteuerroman aus russischer Sicht – ich hatte da meine Zweifel. Grausame Hungerpolitik und die Schrecken des sibirischen Winters als Hintergrundszenarien einer spannenden Lektüre für Zwölfjährige, ohne diese Gräuel zu verharmlosen, kann das gelingen? Ja, und sehr gut noch dazu. Die Handlung basiert auf historischen und geografischen Tatsachen kombiniert mit einer fiktiven Verschwörungsgeschichte, in der die Jugendlichen detektivisch agieren. Und indem Morosinotto mehrere Perspektiven wählt und die erzählenden Personen über innere Zweifel und moralische Skrupel nachdenken lässt, wird das Lesefutter zugleich zum überzeugenden Anti-Kriegs-Roman.

„Zwei [deutsche] Soldaten in langen Mänteln bewachten den Eingang. Sie rauchten Zigaretten und unterhielten sich. Sie sahen nicht wirklich gefährlich aus, sondern wie ganz normale Menschen. Ich dachte, dass genau das einen Krieg ausmacht: dass ganz normale Menschen auf einmal schreckliche Dinge tun. (Nadja, S. 288)“

Die Eltern der Zwillingsgeschwister Nadja und Viktor arbeiten in der Eremitage, dem berühmten Museum im heutigen St. Petersburg. Überstürzt müssen sie im Juni 1941 die Kunstwerke vor den Invasoren in Sicherheit bringen. Zeitgleich steht die Evakuierung der Kinder bevor. Die Mutter beschwört die beiden, nur ja beisammen zu bleiben. Doch die Systematik der Verschickung reißt sie in der Menge am Bahnhof auseinander, sie landen in den Zügen 76 und 77. Viktor arbeitet zuerst in einer Kolchose. Dann verschlägt es ihn in ein Strafgefangenenlager nach Sibirien. Der Ausbruch gelingt, er kämpft sich durch Eiswüsten mit dem Ziel, zurück zu Nadja zu kommen. Die hält sich mit anderen Jugendlichen versteckt, auf der Inselfestung Oreschek bei Schlüsselburg am Ladogasee.

Dorthin zu gelangen, hat Nadja gemeinsam mit anderen Kindern nur aufgrund einer waghalsigen Aktion mit einem Boot über die Newa geschafft, angeführt von einer durchsetzungsfähigen tatkräftigen Frau, mit der sich Nadja innerlich solidarisiert. Für die Verteidigung der Festung gegen die deutschen Belagerer, die vom Ufer aus Oreschek unter Beschuss nehmen, hat Nadja den rettenden Geistesblitz: Mit uniformierten Vogelscheuchen lässt sich zahlenmäßige Übermacht vortäuschen. Die Angreifer sind einschüchtert. Doch ohne Kontakt zur Außenwelt ist die Lage ausweglos. Nadja leitet mit dem Mut der Verzweiflung eine nächtliche Expedition ans Ufer zum Stützpunkt der Deutschen, um an ein Funkgerät zu kommen. Nur durch ihr entschlossenes Handeln gelingt es, Verstärkung zu rufen. Und auch Viktor erfährt endlich, wo seine verlorene Schwester ist.

Wenig später entdeckt er gemeinsam mit anderen Jugendlichen mit einem gestohlenen LKW eine Route über den zugefrorenen Ladogasee direkt zur Festung. Dass es diese Eisstraße tatsächlich gegeben hat, lässt sich von jungen Leser*innen leicht recherchieren: Laut Wikipedia die Militärische Autostraße 101, inoffiziell „Straße des Lebens“. Durch sie konnte die Blockade durchbrochen werden, doch der Hunger in Leningrad wurde nur notdürftig gelindert.

Abwechselnd berichten die Zwillingsgeschwister von ihren Erlebnissen. Fünf Hefte, die ihnen der Vater vor dem Aufbruch noch rasch zugesteckt hat, haben die beiden im Lauf ihrer gefahrvollen Reisen von Juni bis November 1941 gefüllt. Nadja erzählt in wohl reflektierendem Tonfall, gesetzt in dezentem Blaugrau, Viktor dagegen ungestüm, fast hitzköpfig in kräftigem Rot. Die kontrastierenden Textblöcke markieren die wechselnde Erzählperspektive.

Die beiden sind nahezu telepathisch verbunden. Sie „wissen einfach“, dass die Schwester, der Bruder, noch am Leben ist, allen Zeitungsmeldungen zum Trotz vertrauen sie aufeinander. Mit dieser faszinierenden Verbindung, die zwischen Zwillingen bestehen kann, räumt Morosinotto dem geheimnisvoll Irrealen einen Stellenwert ein. Der historische Roman mit all den Schrecken des Krieges bekommt so einen zuversichtlichen Grundton.

Im Dezember 1946, nach Kriegsende, kommentiert ein gewisser Waleri Gawrilowitsch Smirnow, Oberst des Volkskommissariats für innere Angelegenheiten, die Aufzeichnungen der beiden Dreizehnjährigen mit amtlich-nüchternen Randbemerkungen. Er konstatiert zahllose Gesetzesverstöße. Zwischen „schuldig“ und „unschuldig“ hat er zu entscheiden. Loyalität mit der UdSSR (kyrillisch CCCP) steht über jeder Menschlichkeit. Nicht die Moral, einzig das Gesetz mit seinen Paragrafen zählt bei der Beurteilung der (Helden-/Übel-)Taten. Gewissensfragen sind irrelevant.

Dass die Unterscheidung gut/böse oder richtig/falsch in Kriegszeiten noch komplexer ist, wird drastisch klar. Und dass Informationen zur Kriegsführung verfälscht werden, Fake-News also keinesfalls neu sind, zeigt der Zeitungsbericht eines Zugsunglücks, der zu Propagandazwecken bewusst Falschinformationen liefert.

Morosinotto illustriert seinen Roman nicht nur mit geografischen Karten, Skizzen, Zeitdokumenten wie Fotos, Flugzettel und Zeitungsausschnitten. Er lässt Nadja ein Gedicht von Puschkin zitieren, verweist auf Märchen – die menschenfressende Hexe Baba Jaga – und macht neugierig auf die russische Literatur. All das sorgt auch bei nicht so routinierten Leser*innen für Abwechslung. Zusätzlich motiviert das historische Bild- und Kartenmaterial zur Recherche. Auf Wikipedia ist beispielsweise nachzulesen, dass die Schülerin Tanja Nikolajewna Sawitschewa in der belagerten Stadt Tagebuch geführt und zuletzt nur noch das Sterben all ihrer Familienangehörigen protokolliert hat: Das Dokument wurde zum Beweismittel in den Nürnberger Prozessen. Gut möglich, dass Morosinotto sich davon inspirieren hat lassen, seinem Roman die Form von Tagebuchaufzeichnungen zu geben, auch wenn er das nicht erwähnt.

Im „Nachwort für wissbegierige Leserinnen und Leser“ nennt der Italiener nur seinen Großvater, der an der Seite Deutschlands gegen die Sowjetunion gekämpft und ihm viel über Russland erzählt hat. Er denkt an

„ihn und all die Menschen, die infolge der Machenschaften einer irrwitzigen Diktatur ihre Heimat verlassen und sterben mussten. (…) Ebenso wie Nadja glaube ich daran, dass wir nicht vergessen dürfen, was in der Vergangenheit geschehen ist. Und dass wir dafür kämpfen müssen, damit es sich nicht wiederholt.“

Tröstlich ist schließlich, dass Morosinotto den jungen Leser*innen eine hoffnungsvolle Perspektive auf eine friedliche Zukunft der Zwillingsgeschwister mitgibt: Inmitten all des Elends des Überlebenskampfes – Gefährten sterben entkräftet, fieberkrank auf Schlitten nachgezogen, oder gehen bei riskanten Flussüberquerungen von Bord, Viktor verliert im Kampf eine Hand – begegnet beiden, sowohl Nadja als auch Viktor, so etwas wie die erste Liebe. Es gibt zaghafte Annäherungen und sogar einen ersten Kuss. Der Autor macht das so geschickt und keineswegs platt, dass meine letzten Zweifel endgültig ausgeräumt waren:

Ein toller Roman, komplex, facettenreich, unterhaltsam und informativ, zart und kraftvoll – unbedingt lesen!

Davide Morosinotto:
Verloren in Eis und Schnee.
Die unglaubliche Geschichte der Geschwister Danilow.
Aus dem Italienischen von Cornelia Panzacchi
Thienemann 2018
Für junge Leser*innen ab 12-14

Veronika Mayer-Miedl

wurde 1971 geboren, ist Buchhändlerin, Mutter von 3 Kindern und lebt in Ottensheim, wo sie 17 Jahre im Kleinen Buchladen tätig war. Ein Fernkurs für Kinderliteratur an der „STUBE Wien“ war wegweisend. Glückliche Begegnungen bei Seminaren im „Kinderbuchhaus im Schneiderhäusl“ inspirierten zu Bilderbuch-Stunden für Eltern-Kind-Gruppen, zu Literaturvermittlung für Vorschulkinder und zu Referententätigkeit für Kindergartenpädagogik. Aktuell rollt sie mit Eisenbahn oder Fahrrad die Donau entlang nach Linz, wo sie als Mitarbeiterin der Buchhandlung ALEX am Hauptplatz Bücher empfiehlt, die auf den zweiten Blick noch Überraschendes bereithalten. Mit ihrer Freundin vom Figurentheater [isipisi] teilt sie die Leidenschaft für das japanische Erzähltheater „Kamishibai“ und gibt Vorführungen in Bibliotheken, Kindergärten und Schulen. Fallweise tritt sie als Grille, rebellische Juliane oder sogar Meerjungfrau auf.

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  • Veröffentlicht: 22.02.2019
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