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04-05/24

Das Niemandsland

Das Niemandsland

Notiz #8: Über weiße Nächte in Karelien & und meine abenteuerliche Reise ins Niemandsland. Von Natalie Halla.

Die verkehrte Welt

Wieder sitze ich am Ufer eines Meeres. Über mir tiefschwarzer Himmel und unter mir Regentropfen, die vom Wasser abprallen, so als wäre das Meer jetzt die Wolke, aus der es ohne Unterlass regnet. Ich probiere es aus und lege mich auf den Rücken, um die warmen Tropfen direkt im Gesicht zu spüren. Auch die verkehrte Welt ist so schön. Manchmal sogar schöner. Ich denke dabei an die weißen Sommernächte in Karelien, in denen sich der Himmel im silbernen Blau der Seen so seltsam widerspiegelt, dass man nicht mehr weiß, wo die Erde endet und der Himmel beginnt. Damals hatte ich mich auch mit dem Blick in den Himmel auf die Erde gelegt und auf einen Sonnenuntergang gewartet, der niemals kam.

Ein Ort voller Mythen und Sagen

Karelien ist ein verzauberter Ort voller Mythen und Sagen, der, wie so viele Orte dieser Erde, eine heiß umkämpfte Vergangenheit hat. Es gibt dort einen vierzig Kilometer breiten, nur von Bären bewohnten Streifen Niemandsland, der zwei ideologische Welten voneinander trennt. Niemandsländer üben einen starken Reiz auf mich aus und Karelien mit seinen Birkenwäldern und silberfarbenen Seen soundso. So beschloss ich als Sechzehnjährige während meines Austauschjahres in Russland, gemeinsam mit einer kanadischen Freundin dieses karelische Niemandsland aus Spaß zu suchen. Mit dem Nachtzug fuhren wir von Moskau nach Sankt Petersburg, dann weiter bis Wyborg und per Autostop – ein russischer Fernfahrer nahm uns kopfschüttelnd mit – Richtung Nordwesten, der finnischen Grenze entgegen. Je näher wir kamen, desto dichter wurden die Wälder. Zivilisten trafen wir keine mehr, dafür war jetzt die einsame Straße von russischen Militärs gesäumt. Hier schien die Zeit stehen geblieben zu sein. Man fühlte sich wie in Zeiten des kalten Krieges.

Das Niemandsland

Zwei Mädchen im Niemandsland

An der Grenze angelangt winkten die russischen Grenzsoldaten den Fernfahrer durch, ohne uns Mädchen zu beachten. Sie kannten ihn schon und hielten uns für seine Töchter. Doch wir hatten unser Abenteuer nicht zu Ende durchdacht, weil wir nicht erwartet hatten, es wirklich so weit zu schaffen. So standen wir plötzlich jenseits der russischen Grenze mit einem one way Visum, das uns keine Rückreise nach Russland ermöglichte. Zwei gestrandete Mädchen im Niemandsland. Die russischen Soldaten wirkten ratlos und waren total überfordert. So einen Fall wie den unseren hatten sie noch nie gehabt. Denn wer reist schon aus Spaß ins Niemandsland? Je länger wir dort standen, desto banger wurde uns. Irgendwann fasste sich der zuständige russische Grenzoffizier ein Herz und eskortierte uns mit seinem Militärwagen zurück nach Russland, um uns im nächstgelegenen,  karelischen Dorf mit gespielt strenger Miene abzusetzen und uns das Versprechen abzuringen, nie mehr aus Spaß das Niemandsland zu betreten. Denn dort gäbe es nur wilde Bären und sonst nichts.

Es schüttet immer stärker und ich drehe mich mit dem Gesicht nach unten, weil mir der Regen langsam lästig wird. Das Meer ist jetzt wieder dort, wo es hingehört und alles andere sehr weit weg. Ich habe Karelien und seine silbernen Seen noch mehrmals besucht, doch im Niemandsland bin ich nie mehr gewesen. Mein Versprechen an den russischen Offizier muss ich halten.

Natalie Halla

Natalie Halla

spricht sechs Sprachen, ist weitgereist und arbeitet als unabhängige Filmemacherin. Ihre „Notizen einer Abenteurerin“ bieten sehr persönliche Einblicke in eine unbekannte, spannende Welt abseits üblicher Reiserouten und befassen sich auch mit sozialen und humanitären Ungerechtigkeiten, denen sie begegnet ist.
www.nataliehalla.com

Foto: Alexandra Grill

Fotos: Marko Röhr & Wikimedia Commons (Aleksander Kaasik)

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  • Veröffentlicht: 14.09.2020
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