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04-05/24

Franziskusweg Tag 5: Vom Ablegen von Lasten und dem „Binkerl“, das jeder zu tragen hat

Franziskusweg Tag 5: Vom Ablegen von Lasten und dem „Binkerl“, das jeder zu tragen hat

Von La Verna nach Assisi: Begleiten Sie Chefredakteurin Sabine Kronberger beim Pilgern am Franziskusweg. Tag 5.

Vom Ablegen von Lasten und dem „Binkerl“, das jeder zu tragen hat

Können Sie sich erinnern? Ich hatte Ihnen gestern geschrieben, dass ich heute wieder, im pilgernden Sinne, angreifen möchte. Wohl deshalb wachte ich schon vor dem Wecker um 6.45 Uhr auf (mein Mann kann bezeugen, dass das nur einmal im Jahr – wenn überhaupt – passiert). Obwohl ich am Vortag noch bis weit nach Mitternacht am Pilgertagebuch geschrieben hatte, gelang der Sprung aus dem Bett. Kein Telemark, versteht sich, aber immerhin, ein fast schmerzfreier Hopser. Hatte es also doch Sinn, vor dem Journalismus Physiotherapie studiert zu haben (Liebe Mama, ich hoffe, du liest mit ?), denn mit dem alten, aber doch noch vorhandenen Wissen und einigen Tapes, konnte ich mein Knie und das meiner Pilger-Knieschmerz-Kollegin Veronika wieder auf Schuss bringen, sodass wir beide die 23 Kilometer in Angriff nahmen.

Start war die Nudelhauptstadt Sansepolcro: Vorbei an der Buitoni-Nudelmanufaktur brachte uns der Bus zu einer alten Burg, dem Ausgangspunkt unserer heutigen Tagesetappe. Ihr Standort in Citerna war ein verschlafenes, aber putzig-sauberes Dörfchen am Westhang des Tibertals. Klassisch italienisch hingen die Wäscheleinen von Fenster zu Fenster, die Blumentöpfe waren an die Hausmauern platziert und als wir morgens ankamen, fegten Frauen an den Türen, Fenstern und vor den Häusern. Ein Moment wie aus einer anderen Zeit.

Nach einem Impuls von Lydia, die uns als Tagesthema die Begriffe „Gemeinschaft/Rückzug“ an die Hand gab, übernahm kurzerhand eine der Pilger-Kolleginnen das Ruder. Weil sie fand, wir bräuchten ein bisschen Dehnung und Aufwärmübungen, motivierte sie uns, ihr zu folgen. Oh, wie wohl das tat, den Körper durchzustrecken.

Danach führte Christa die Truppe an eine Terrasse mitten im Ort, die uns einen wetterbedingt trüben, aber herrlichen Ausblick über das Tal lieferte. Unsere Pilgerleiterin war mitten in ihren Ausführungen, als eine der fegenden Italienerinnen laut schrie und italienisch gestikulierte: „Antonio!“ Sie hatte ihr Dörfchen im Griff, denn kaum war der Name gerufen, war Antonio zur Stelle. Obwohl wir eigentlich aufbrechen wollten, entführte er uns in die örtliche Kirche, um uns die stolz gehüteten Schätze des Ortes zu zeigen. Und da es als Untugend gilt, eine Einladung auf Pilgerreise nicht anzunehmen, willigten wir ein.

Danach ging eine zauberhaft umbrisch-toskanische Wanderung los. Postkarten-Häuser, die vor Postkarten-Idyllen mit Postkarten-Zypressen unsere Augen verwöhnten, machten den ersten großen Abschnitt einfach wunderbar. Immer wieder dazwischen säumten Olivenbäume, Weinplantagen oder kleine Höfe unseren Weg.

Als der schöne Weg endete und es wieder bergauf gehen sollte, die Überraschung: Der vor uns liegende Pfad war eine einzige Schlammspur des Grauens. Matschiger Boden, kaum Halt mit den Schuhen, steile Waldwege, die uns PilgerInnnen ordentlich forderten. Es dauerte nur wenige Minuten und wir konnten uns über eine Schuhplateau-Erweiterung von fünf bis acht Zentimetern freuen. Ich hab den lieben Gott als Jugendliche immer gebeten, dass ich noch wachse. So hatte ich das aber nicht gemeint. Klassischer Zustellfehler.

Das Matschgleichnis – ein Versuch

Beim Abendessen später meinte Lydia, wie spannend dieser Weg voll Matsch gewesen sei und wir resümierten, welche Parallelen es zwischen ihm und dem Leben geben könnte: Während die einen nämlich stur den Weg weitergingen, suchten andere nach einem seitlichen Ausweichpfad, wieder andere wurden immer stiller, die Lustigen lachten lauthals über den Dreck, der sich kiloschwer an beiden Füßen befand. Andere streiften immer wieder die schwere, nasse Erde ab.

Kann man so eine Beobachtung überhaupt aufs Leben umlegen? Muss man immer einen anderen Weg suchen? Muss man immer jede Last ertragen, die einem mitgegeben wird? Und darf man nicht immer wieder einmal schwere Last abstreifen, damit man leichter vorankommt?

Lydia ergänzte um ihre Erkenntnis: Egal, wer du bist. Wenn du eine Last zu tragen hast, wirst du langsamer, du hast einen schwereren Weg. Egal ob du zu den Schnellen oder den Langsamen, den Erfolgreichen oder dem guten Durchschnitt zählst …

Doch zurück zur Tagesetappe. Verschwitzt aber glücklich wanderten wir nach der Matschstrecke zu Patricia, einer Bäuerin mit Zimmervermietung, einem Agriturismo, die uns dank Christas und Lydias guter Vernetzung hier in Italien, authentische Leckereien auftischte und uns mit der  tiefkratzigen Stimme ihre Mehlspeisvariationen in rau-herbem, aber liebevoll-bestimmtem Italienisch anpries. Sie war die Verkörperung der italienischen „La Mamma“. Würde sie mich zum Aufessen auffordern, ich hätte unter Umständen Angst zu verweigern. Wir sitzen eine Weile, verkosten, wechseln die nasse gegen mitgebrachte, frische Kleidung aus. Eine neue Angewohnheit, die ich auf dieser Reise lernen musste, weil verschwitzte oder vom Regen durchnässte Kleidung immer auch Frieren bedeutete. Es regnet hier, seit wir losgegangen sind, also wichtiges Wissen!

Jeder hat sein „Binkerl“ zu tragen

Als wir uns verabschiedeten, weiterpilgerten und das Friedensbild mit Patricia machen wollten, ersuchte Lydia uns, noch gemeinsam ein Lied für Patricia zu singen. Auch sie hatte im Moment schwer zu tragen. Wie wir erfuhren, leidet ihre Tochter an Brustkrebs, lebt aber in London, was es der Mutter unmöglich macht, immer nach ihr zu sehen. Also sangen wir ihr ein Segenslied. Die Tränen füllten ihre Mutteraugen, während sich die starke Frau schwach zeigte und danach noch viele Male für dieses Weinen entschuldigte.

Auch das war also Pilgern. Geben und Nehmen. Nehmen und Geben. Auch eine unserer Pilgerkolleginnen stach mir ins Auge, weil sie weinte. Als ich sie ansprach, erfuhr ich, dass sie erst vor acht Monaten ihren Mann an Krebs verloren hatte. Der Moment hatte noch offene Wunden getroffen. Einmal mehr auf dieser Reise waren auch meine Augen nass. Einmal mehr erkannte ich, dass jede hier ihre eigenes „Binkerl“ zu tragen hat.

Unser aller „Binkerl“ trugen wir schließlich weiter, kamen vorbei an malerisch-toskanischen Häusern, wanderten durch Wälder, in denen Stachelschweinborsten zu finden waren. Der vorletzte Punkt unserer Etappe war die „Erema del Buon Riposo“ – die Einsiedelei zur guten Rast. Hausmeister und gute Seele des Hauses, Andrea, empfing uns mit heißem, dampfendem Kaffee aus der typisch italienischen Bialetti. Aus Eigeninitiative öffnet er immer wieder dieses Haus einer umbrischen Familie, in dem auch Franziskus schon Rast gehalten hat. Die zauberhafte kleine Kapelle, der märchenhafte Innenhof mit einem Olivenbäumchen im Zentrum, luden zur gastfreundlichen Pause. Wer uns nachpilgert, kann sich für einen Besuch bei ihm anmelden. Wir waren in diesem Jahr seine erste Pilgergruppe.

Beim Marsch zu unserem Hotel ins Tal schließlich ein unglaublicher Moment: Die Sonne – ich buchstabiere d-i-e S-o-n-n-e tauchte nach schier unendlicher Abwesenheit auf. Herzen, Gesichter und Gemüter strahlten, denn ihr wärmendes Licht geleitete uns nach Citta di Castello, wo wir den Tiber überquerten und in unser Hotel gelangten. Einmal mehr stand dort vor dem verdienten Abendessen, nach 23 Kilometern bergauf und bergab, das Waschen der Schuhe, Jacken, Stöcke und Hosen an.

Kurz vor dem zu Bett gehen dann die Hiobsbotschaft: Morgen sollte es weiter regnen und – kein Aprilscherz – sogar schneien. Hauptsache, ich hab kurzärmelige T-Shirts mit dabei … nicht wahr? Was sind schon 15 Kilometer im Schnee beim Frühlingspilgern! Ich freue mich schon, Ihnen von unserer weiteren Etappe nach Gubbio zu berichten…

Ihre Sabine Kronberger

Pilgern Sie mit mir!

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  • Veröffentlicht: 02.04.2022
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