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 Die Welt hat eine neue Rasse erfunden

  Die Welt hat eine neue Rasse erfunden

Der Roman beginnt und endet mit einem Blick in ein Flugzeug; am Beginn des Romans landet der junge Arzt Hammoudi am internationalen Flughafen in Damaskus. Er kommt heim, kurz nur: Er will mit seiner Familie und Freunden feiern, ja, er hat es geschafft, er ist jetzt Arzt. Und ja, Hammoudi ist gern in Syrien, als Gast, als Besucher, der wieder wegfahren kann und nicht bleiben muss. Hammoudi, Facharzt für plastische Chirurgie, Abschluss mit Auszeichnung – da muss er wohl doch im Nobel-Hotel Four Seasons absteigen: Der Kurzurlaub will zelebriert werden. Amal, die junge Schauspielerin, hat Angst, hat Lampenfieber, zweifelt an sich. Auch sie hat ein gutes Leben hier in Damaskus: Sie beobachtet die Menschen, studiert deren Gesten und Stimmlagen, die Übereinstimmung zwischen Körperhaltung und Emotion.

Damaskus ist eine laute, unordentliche und hektische Stadt, übervoll vom Hupen der Busse und Taxis, dem Geschrei der Straßenverkäufer, dem Summen und Tröpfeln der Klimaanlagen an den Häuserfassaden, die sich mit der lärmenden Musik, die aus Autofenstern und Bars dröhnt, vermischen. In Damaskus ertrinkt man in der Geschichte und ihren Superlativen. (S. 17)

Zwei junge Menschen, so wie sie Reportagen aus Syrien erzählen: Gebildet, hoffnungsvoll, die eine bereit, in Syrien zu bleiben, der andere glücklich, in Paris zu arbeiten, dort bald eine Familie zu gründen. Dann der Schnitt: Hammoudi erhält keine Ausreisebewilligung, obwohl seine Familie doch mit Generälen, Mitarbeitern des Geheimdienstes und Funktionären sehr sehr gut befreundet ist. Auch Amals Vater, der mehrere Restaurants führt, kennt die, die an der Macht sind. Ein Freund bietet Hammoudi seine Wohnung an, hinterlegt die Schlüssel bei Amal: So treffen sich die beiden Protagonisten, nehmen wenig Notiz voneinander und tauchen wieder in ihre eigenen Welten ein. Doch, da ist der Widerstand gegen das Regime, da sind Begegnungen, da sind Traditionen und die ersten Übergriffe des Regimes. Verhöre, Gewalt gegen Amal, die wiederum Erinnerungen an ihre Mutter heraufbeschwört: Warum ist die schöne Russin gegangen, wie hat der Vater reagiert? Und dann die Überfahrt auf dem Schlauchboot, die Menschen, die ertrinken, die Kinder, die weinen, die Schlepper, die befehlen und lügen. Amal und Hammoudi überleben die Überfahrt, Ertrunkene liegen an der Küste, so wie früher die Leichen der zu Tode Gefolterten in spärlich beleuchteten Räumen lagen. Amal und Youssef kommen mit Amina, deren Mutter bei der Überfahrt im Mittelmeer ertrank, nach Berlin, das Asylverfahren schwierig, sie bewirbt sich bei einem Casting für eine Kochshow.

Sie hat bereits gelernt, dass die Menschen im Westen nur noch Symbole konsumieren. Bei ihren dritten Casting hat sie Artischocken mit Foie Gras und Poularde in Halbtrauer, also mit Trüffeln unter der Haut serviert, um zu signalisieren, dass sie durchaus auch anspruchsvolle Wünsche befriedigen kann. (S. 292)

Ihr Essen wird als orientalisch, ihre Kleidung bzw. Aufmachung als ethnisch bezeichnet, meistens stammt es von Dolce und Gabbana und wird von der Stylistin herbeigeschafft. Klar muss sie es zurückgeben, alles Fake. Hammoudi kommt in ein Heim in der Provinz, dort wird ein Brandsatz geworfen, die Lokalzeitung wird über ihn, das einzige Opfer, knapp berichten, ein Foto, sein Alter, seine Nationalität.

 

Was Sie versäumen, wenn Sie diesen Roman nicht lesen: Auffrischung der Geschichte, Interesse an Biografien, Wissen, wie es zu Fluchtbewegungen kommt, Erkennen, wie Gewalt und Spaltung der Gesellschaft entsteht, Außensicht auf die Mehrheitsgesellschaft, Außensicht auf deren Arroganz, deren Missverständnisse, deren Voreingenommenheiten, Humor in Alltagsszenen, etwa in den Kochshows mit orientalischem Touch.

Die Autorin, 1984 in Baku/Aserbaidschan geboren, hat mit ihrem Debütroman „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ mehrere Preise kassiert und sich einen Namen erschrieben; sie ist lakonisch im Ton, bewusst reduziert, will nicht mit Sprachfirlefanz locken, setzt auf Fakten, einfache Sprache und Formulierungen, deren Tiefe beim zweiten Lesen zu gluckern beginnt.

 

 

Olga Grjasnowa:

Gott ist nicht schüchtern.

Roman.

Berlin: Aufbau-Verlag 2017.

309 Seiten.

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  • Veröffentlicht: 17.05.2017
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