Kinderheirat ist in Indien nach wie vor gelebte Praxis. Während der Pandemie sind die Zahlen in einigen Regionen des Landes erneut angestiegen. Die Aktion Familienfasttag der Katholischen Frauenbewegung unterstützt Organisationen, die gegen diese Tradition auftreten.
Es war beschlossene Sache. Mit einem Schlag sollte ihre Kindheit zu Ende sein, sie zur Ehefrau werden – Ehefrau eines Burschen, den sie kannte, aber definitiv nicht liebte. „Ich war sehr unglücklich, aber ich hatte nicht die Möglichkeit, mich gegen den Willen meiner Eltern zu wehren“, schildert Sabina die Situation. Sabina ist heute 16 Jahre alt. Ein Alter, in dem Mädchen in Österreich noch über ihren weiteren Bildungsweg nachdenken oder erste Erfahrungen im Beruf sammeln können. Ein Alter, in dem Teenager gerne ausgehen, feiern, FreundInnen treffen, Spaß haben wollen und gerade einmal die ersten großen Fälle von Liebeskummer hinter sich haben. Ein Alter, das sich für Mädchen in Indien anders gestaltet. Sabina könnte bereits seit zwei Jahren Ehefrau sein. Inzwischen vielleicht auch schon Mutter.
Ein Mitglied der Dorfgemeinschaft zog die Notbremse: Der Mann rief die staatliche Kinderhotline auf den Plan, und mit vereinten Kräften konnten die Eltern von Sabina doch noch überzeugt werden, dass ihre Tochter mit 14 Jahren zu jung war für eine Ehe. Nicht nur aus ethischen Gründen und zum Schutz ihrer körperlichen und seelischen Gesundheit. Auch ganz offiziell aus Sicht des Staates: Mädchen unter 18 Jahren und junge Männer unter 21 zu verheiraten, ist strafbar. Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts wurden erste Gesetze hierzu erlassen. Eltern droht eine saftige Geldbuße oder Gefängnis. Dennoch zählt Indien nach wie vor zu den Ländern mit der höchsten Rate an Kinderhochzeiten.
Wegen mehrfacher Überarbeitung der Gesetze, teils eigener Gesetzgebung für einzelne Bevölkerungsgruppen sowie unterschiedlicher Zuständigkeiten von staatlichen Stellen und Dorfgemeinschaften ist die Lage in ländlichen Regionen oft unklar, das Verbot schlicht nicht bekannt. Und so wird Kinderheirat weiterhin als Teil einer jahrhundertealten Tradition gelebt. Wie tief diese Tradition verwurzelt ist und als wie selbstverständlich sie noch betrachtet wird, zeigt das Beispiel eines populären indischen Films, in dem ein zehnjähriger Bub eine 19-Jährige heiratet – im Jahr 2017 ausgestrahlt zur besten Sendezeit.
„Die vorwiegenden Probleme, die der heranwachsenden Frau drohen könnten, seien etwa sexuelle Belästigung und Vergewaltigung.“
Das Mädchen als Ware
„Eltern denken, je früher sie ihre Töchter verheiraten, desto weniger Probleme gibt es“, sagt Afreen Ashraf von der „Savera Foundation“, die die staatliche Kinderhotline betreibt. Die vorwiegenden Probleme, die der heranwachsenden Frau drohen könnten, seien etwa sexuelle Belästigung und Vergewaltigung. Nach Entführungen mit Gruppenvergewaltigungen, die vor wenigen Jahren für öffentliche Empörung gesorgt hatten, war es zumindest in den Medienberichten wieder ruhiger geworden. Während der Pandemie sei die Gefahr von Übergriffen gegen und Vergewaltigung von Frauen auf den menschenleeren Straßen aber massiv gestiegen.
Auch die Angst vor gesellschaftlicher Ächtung sei ein Grund, Töchter noch im Kindesalter zu verheiraten, ergänzt Zabi Darnei, die in einem Büro im Bundesstaat Assam als Bindeglied zwischen verschiedenen PartnerInnenorganisationen der Katholischen Frauenbewegung (kfb) tätig ist. „Was, wenn das Mädchen sich in einen Mann verliebt, der nicht von seinen Eltern ausgesucht wurde? Das würde der Familie einen schlechten Ruf eintragen“, so die 30-Jährige.
Die Coronapandemie habe die Situation in ihrer Region verschärft, berichtet Pooja R. von der kfb-PartnerInnenorganisation „Srijan Foundation“, die in Jharkhand, einem der ärmsten Bundesstaaten Indiens, mit Stammesgemeinschaften arbeitet. „Normalerweise besuchen die Mädchen Schulen außerhalb der Dörfer, kommen nur rund um die Feiertage nach Hause. Dadurch sind weniger dem sozialen Druck ausgesetzt. Aufgrund des Lockdowns waren die Schulen geschlossen, die Mädchen zu Hause – und die Verwandten stellten fest, dass sie schon so groß aussehen und folglich heiraten müssen.“ Wo Eltern die Tochter nicht verheiraten wollten, werde Druck durch die Gemeinschaft ausgeübt, so Pooja R. und nicht zuletzt seien es auch finanzielle Gründe, deretwegen Mädchen verheiratet würden. Zum einen, weil die Familie somit selbst eine Esserin weniger im Haushalt habe und gleichzeitig hoffe, dass es dem Mädchen bei den Schwiegereltern besser ergeht. Zum anderen würden Mädchen häufig noch als Ware angesehen, die von Gläubigern für sich oder für Verwandte eingefordert werden könne, wenn Schulden nicht beglichen werden, berichten die kfb-PartnerInnen.
Sabina ist glücklich, diesem Schicksal entgangen zu sein. Glücklich, keine Ware zu sein. Glücklich, mit ihren 16 Jahren noch nicht Ehefrau und Mutter sein zu müssen. Wie die meisten Mädchen in ihrem Alter hat sie Wünsche und Träume. „Ich möchte die Schule abschließen“, sagt sie und lächelt schüchtern. Und heiraten? „Ja – aber erst später. Und ich möchte mir meinen Mann selbst aussuchen.“
Gemeinsam gegen Kinderheirat
PartnerInnenorganisationen der kfb arbeiten unter anderem mittels Bewusstseinsbildung und Intervention daran, die Zahl der Kinderheiraten in Indien zu senken und dadurch Mädchen weitere schulische und universitäre Ausbildung zu ermöglichen.
Informationen zu weiteren Hilfsprojekten für Frauen im Globalen Süden finden Sie auf www.welt-der-frauen.at/familienfasttag.
Weitere Informationen:
Dieser Artikel ist in der „Welt der Frauen“ Oktober 2021-Ausgabe erschienen. Erhältlich als Einzelheft in unserem Shop, zum Testabo geht es hier.