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Familie
11/12/24

Von Menschlichkeitsbrillen und Mitgefühlsverbänden

Von Menschlichkeitsbrillen und Mitgefühlsverbänden
Foto: AdobeStock

Welche fünf Hilfsmittel es für die Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen geben sollte und was Altenpflege mit dem Elternwerden gemeinsam hat.

Mit einem überdimensionalen Wattestäbchen befeuchtet meine Mama den offenstehenden Mund meines Opas. Die spröden Lippen freuen sich über diese Zuwendung genauso wie die Schleimhäute, die vom Atmen ausgetrocknet sind. Bis zu diesem Zeitpunkt habe ich noch nie miterlebt, dass so etwas bei einem alten Menschen durchgeführt wird. Seit einigen Wochen geht es Opa gesundheitlich deutlich schlechter. Ein ausgefülltes Leben scheint sich dem Ende zu neigen.

Überhaupt, merke ich, habe ich wenig Ahnung davon, was es bedeutet, eine hochbetagte Person zu pflegen. Windeln wechseln, beim Anziehen helfen oder das Essen eingeben, kenne ich. Vermutlich aus Fernsehberichten oder Erzählungen, jedoch nicht aus der Praxis. Wie komplex, fordernd und umfassend es ist, die Pflege für Angehörige zu übernehmen, weiß man bekanntlich erst, wenn man es selbst macht. Und auch ich berichte jetzt nur aus der zweiten Reihe.

Ein sozialer Akt

Während ich so dasitze und Opas Hand halte, kommt mir ein Gedanke. Der Start ins menschliche Leben ist ähnlich geprägt von fürsorglichen Handlungen durch andere Menschen wie das Ende. Zumindest bei natürlichem Verlauf. Wie nach der Geburt sind wir auch im Alter auf sozialen Kontakt angewiesen. Die Familie oder andere Personen kümmern sich um uns, wenn wir es selbst noch nicht oder nicht mehr können. Pflege ist also neben dem notwendigen ein beziehungsstärkender, sozialer Akt an unseren Mitmenschen.

„Wenn ich meiner dementen Oma die Hand halte und zehnmal hintereinander geduldig dieselbe Frage beantworte, ist das liebevolle Zuwendung.“

Wenn ich ein Baby wippend herumtrage, um es in den Schlaf zu begleiten, mache ich das nicht nur, um danach die ersehnte Ruhe zu genießen, sondern es ist körperliche und emotionale Fürsorge. Wenn ich meiner dementen Oma die Hand halte und zehnmal hintereinander geduldig dieselbe Frage beantworte, ist das liebevolle Zuwendung. Wenn ich meiner Schwester im Wochenbett nahrhaftes Essen koche und bringe, damit sie sich schonen kann, ist das empathische Unterstützung in fordernden Zeiten. Kurz gesagt: Es ist Pflege.

Ein leises, zischendes Geräusch unterbricht meinen Gedankenfluss. Die Wechseldruckmatratze, die dafür sorgt, dass Opa sich nicht wundliegt, pumpt sich gerade auf. Auch von der Existenz solcher Utensilien hatte ich bislang keinen Schimmer. Wenn die Mikrobewegungen wegfallen, die vitale Menschen automatisch und unbewusst machen, wird es für die Haut gefährlich. Ich lerne, dass dadurch Geschwüre entstehen können, die große Schmerzen verursachen. Also achtet man besonders in der Altenpflege darauf, dass starres Liegen vermieden wird.

Pflegehilfsmittel für Zwischenmenschliches

„Alles, was lebt, will gepflegt werden!“, dämmert es mir langsam. Das geht weit über Neugeborene und bettlägerige Menschen hinaus! Selbst Pflanzen und Tiere brauchen ein Mindestmaß an Fürsorge, wenn sie existieren sollen. Mit Ausnahme der Nacktschnecken in meinem Hochbeet! Die scheinen trotz massiven Widerstands meinerseits in großer Zahl zu existieren.

Meine Hypothese trifft aber definitiv auf zwischenmenschliche Beziehungen zu. Obwohl sie weder Flora noch Fauna angehören und auch nicht auf zwei Beinen gehen, sind Beziehungen lebendige Gefüge. Wenn ich mich nicht um sie kümmere, sterben sie ab wie die Haut bei einem Druckgeschwür. Wovon leben diese immateriellen Verbindungen nun? Was sind die Salben, Pflaster oder Verbände für unsere Sozialkontakte? 

Die Menschlichkeitsbrille

Sie sorgt dafür, dass wir andere Menschen sehen, wie sie sind. Wenn wir durch diese Brille schauen, können wir andere in ihrer Einzigartigkeit und Unvollkommenheit betrachten. So können wir andere nicht nur offener wahrnehmen, sondern auch selbst auf diese Art gesehen werden.

Die Gemeinsamkeitssalbe

Wenn man sich gemeinsam dem zuwendet, wofür sich der/die andere interessiert, entfaltet diese Salbe ihre Wirkung. Sie ist ein einfaches Hilfsmittel, mit dem an Themen, Geschichten oder Erfolgen, die das Gegenüber begeistern, Anteil genommen werden kann. Auch wenn ich selbst nicht dafür brenne, brenne ich für den Menschen – deshalb interessiert mich, was ihn interessiert!

Der Mitgefühlsverband

Er eignet sich nicht nur, wenn jemand traurig, verletzt oder deprimiert ist. Man kann ihn ebenso an verliebten, erfolgreichen oder euphorischen Menschen verwenden. Wenn ich ihn anlege, signalisiere ich: Ich sehe deine Gefühle, erkenne sie an und fühle mit dir, ohne mich selbst in deinem Gefühl aufzulösen. 

Der Aktivitätsrollator

Gemeinsam einfache Projekte umzusetzen, also aktiv zu werden, ist ein unglaublich verbindendes und beziehungsstärkendes Element. Wenn wir von der Bequemlichkeit in die aktive Beziehungsgestaltung wechseln, ist der Aktivitätsrollator das Hilfsmittel erster Wahl. Bei den Aktivitäten kann es sich um kleine Dinge wie gemeinsames Kochen bis hin zu großen Projekten wie etwa einer Umgestaltung des Gartens handeln. Das fördert die Motivation in Beziehungen.

Die Motiverkennungsprothese

Absichten hinter dem Handeln anderer Personen zu erkennen, ist zugegebener Weise die Königsklasse in der Beziehungspflege. Meist brauchen wir dafür eine scharfe Beobachtungsgabe, intuitive Fähigkeiten und vor allem klare Kommunikation. Mit der Motiverkennungsprothese lernen wir unsere lieben Mitmenschen, PartnerInnen oder Kinder besser zu verstehen, was in bedeutungsvollen Beziehungen mit viel Tiefgang mündet.

Ohne Pflege kein Leben

Ich wünschte, es gäbe eine Apotheke oder einen Bandagisten, wo ich diese Sonderartikel erwerben könnte. Einmal auf die Tube drücken, Brille aufsetzen oder Verband anlegen und die Beziehung wäre gesichert. So einfach ist es halt leider weder in der Beziehungspflege noch in der Säuglings- oder Altenpflege. Wir Menschen sind gefragt, wenn es um diese lebenswichtigen Handlungen geht.

Meine Godi kommt herein und salbt Opa mit wohlriechenden ätherischen Ölen. Mit klingenden Namen wie „Peace and Calming“ und „Release“ sorgen sie für angenehmen Duft und Stimmung im Raum. Auch wenn die Pflege meiner Großeltern für die Familie bei Weitem nicht immer so bilderbuchartig und idyllisch war, so hat sie mich ganz sicher demütig gemacht. Für die Leistung und Arbeit aller, die Care-Arbeit (also Fürsorgearbeit) leisten. Egal ob am Anfang, in der Mitte oder am Ende eines wertvollen Menschenlebens. Ohne Pflege gäbe es keine und keinen von uns.

Foto: Marie Bleyer

Kerstin Bamminger

Psychologische Beraterin, Elementarpädagogin & Supervisorin

Web: kerstinbamminger.com
Mail: [email protected]
Instagram: @die.beziehungsweise

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  • Veröffentlicht: 02.11.2023
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