Neue Patienten nimmt Frau Doktor erst wieder ab November auf. Was hat denn die Mutter, ist es arg?“ Zum Wartezimmer gehört die Sprechstundenhilfe als festes Inventar dazu. Wir kommen später darauf zurück. Erst einmal sitzen wir bei Frau Dr.in H. im zweiten Wiener Gemeindebezirk, Ankunft 9.15 Uhr wie bestellt, doch schon sieben Menschen sind wie ungleiche, stumme Perlen in den leidlich abgewetzten Freischwingersesseln aufgereiht. Auf einem Tischchen liegen Zeitschriften älteren Datums und eine Broschüre: „Tägliche Pflege für ein angenehmes Leben mit atopischem Ekzem“. Die Frau im Sitz gegenüber starrt vor sich hin, mit traurigen, wässrigen Augen, sie atmet flach.
Es geht die Klingel, der Summer, das Klacken der sich öffnenden Tür. Der Raum füllt sich weiter im Minutentakt. „Ham S’ Schmerzen a?“, hört man Sprechstundenhilfe Monika hinter ihrem Tresen, der am Eingang des offenen Wartebereichs liegt. Ein übergewichtiger Herr mit Krückstock tritt heran, er trägt ein Pflaster über einer sehr dunklen Stelle auf seiner Wange und ein noch größeres, das sich über einen Wulst auf seinem kahlen Schädel bläht. Er lässt sich auf den Stuhl neben mir fallen. „Bitte um Desinfektion der Hände“, steht auf einem kleinen Schild an der Toilette, „Grippeschutz“. Niemand spricht, nur Monika und eine der Wartenden am Mobiltelefon: „Ist der Stefan scho’ kommen? Es wird lang dauern. Da geht nix weiter.“
Das Interieur von Wartezimmern atmet die unvergleichliche Mischung aus Funktionalität und verhaltener Freundlichkeit, zu der immer die robuste Topfpflanze gehört, ein abstraktes Bild an der Wand, das Beistelltischchen mit Lesematerial und die Stühle natürlich, die in der Form gern eine weiche Verschnörkelung aufweisen dürfen – eine Rundung hier, eine Delle da –, während das Material selbst hart sein muss, Metall, Kunststoff, dickes Leder, starkes Holz, so glatt poliert, dass möglichst wenig von den wechselnd wartenden Körpern daran haften bleibt.
Wenn es nicht allzu sachlich zugeht, wie bei Dr.in V., Radiologin in Wien, deren Wartebereich kein Zimmer ist, sondern nur eine Ausbuchtung im Flur ohne Tageslicht, dann verstecken sich im Interieur oft Hinweise aufs abgelegte Privatleben der Ärzte. Dr. M., Orthopäde und Hobbyfotograf, hängt jährlich wechselnde, groß abgezogene und gerahmte Urlaubsbilder ins Wartezimmer, das wirke entspannend und breche das Eis im Gespräch mit PatientInnen. Bei den Teppichen, manchen Bildern, den tschechischen Kinderbüchern aus den 1960er-Jahren oder den zwei Sofas, die bei Dr.in L., praktische Ärztin, als Sitzgelegenheiten dienen, denkt man unwillkürlich, dass die sicher einmal in ihrem Wohnzimmer standen, bevor sie hierher ausrangiert wurden. In dieser Praxis machen es sich ganze Familien bequem, manche kommen gleich in Hausschuhen.
Am Freischwinger bei Frau Dr.in H., in deren Praxis wir immer noch sitzen, löst sich jetzt endgültig die zuvor schon wackelige Verkleidung der Armlehne und fällt herunter. Es ist jetzt 9.50 Uhr, und es ertönt die Stimme von Sprechstundenhilfe Monika: „Seit wann haben Sie den Ausschlag?“ Die zugehörige Patientin tritt in den Raum. Ich schaue unauffällig zu ihr hinüber, kann den Ausschlag aber nicht erkennen.
Die Sprechstundenhilfe ist die große Mutter des Wartebereichs, auf halbem Weg zu Gott sozusagen. Die imposanteste Vertreterin ihrer Zunft trifft man in der Allgemeinarztpraxis Dr. L. im vierten Wiener Gemeindebezirk. Sie thront in einem Kasten mit Schiebefenster so gewaltig, als sei sie darin festgewachsen. Meist trägt sie ärmellose Kittel und reicht, den Blick seitlich zum Bittsteller auf ihren Computer gerichtet, mit mächtigen, nackten Armen die jeweils notwendigen Dokumente heraus. Sie ist gütig und streng, hat Nerven wie Drahtseile. Doch im äußersten Fall dreht sie sich frontal zum Patienten hin: „Sie haben noch keine Zeckenschutzimpfung? Ja sind’s wahnsinnig?“, und unterschreibt, in Tateinheit mit Frau Doktor gewissermaßen, die Rezepte gleich selbst.
Es ist 10.00 Uhr in der Praxis von Dr.in H., mittlerweile sind alle Sitzplätze belegt, Neuankömmlinge müssen stehen. Eine Patientin hat angefangen zu husten, eine zweite macht es nach. Es heißt zwar, Gemeinschaft verkürze das Warten, dennoch sind das eigentliche Problem hier natürlich die anderen, bei denen man sich anstecken könnte. Sie haben ja etwas Ähnliches, vielleicht aber schlimmer. Und vielleicht leiden sie zusätzlich an einer Krankheit, die man selbst noch gar nicht hat. Bleischwer hängen die privaten Besorgnisse zum Kollektiv gebündelt im Raum, ein hochexplosives Gemisch aus Konkurrenz und erzwungener Solidarität. Nie geht der Blick direkt auf die anderen, er ist schräg nach vorn gerichtet, und dorthin wird auch das „Guten Tag“ gemurmelt, wenn ein Neuankömmling beim Eintreten die Runde der Versammelten grüßt. In diesem Raum der Kontamination rückt man besser ein Stückchen ab von denen, die zu dicht aufsitzen, zu laut reden und vielleicht sogar vorgezogen werden in der Reihe.
Manchmal hört man etwas aus dem Behandlungszimmer, es dringt ein Murmeln durch die Doppeltüren, ein lauteres Wort. Drinnen weiß der Arzt, die Ärztin natürlich, wie viele da draußen wie lange schon sitzen. Ein Klick auf den Button „Wartezimmer nachsehen“ in der Software „MediStar“ enthüllt die geballten Erwartungen des Vorraums. 30 Minuten, so die Faustregel, sind westeuropäisch geprägte Menschen bereit, auszuharren, ab 45 Minuten wächst die Ungeduld rasch und will etwas zurückhaben für die eigene investierte Zeit. Je länger ein Patient wartet, desto mehr wird er im Behandlungszimmer auf dem Herzen haben, sagt Dr. M. aus langer Erfahrung.
Nein, in Wartezimmern herrscht nicht wirklich Langeweile, im Gegenteil, diese Räume sind aufgespannt in einem Dreieck zwischen Warten, Furcht und Endlichkeit. Sie sind Orte erstickter Unruhe. In manchen – beim Dermatologen, bei der Orthopädin, beim praktischen Arzt – zeigen sich die Hinweise aufs Gebrechen, in anderen, den unheimlicheren, liegen sie versteckt. Wer weiß schon, was das Labor im Blut findet, was die Radiologie erst sichtbar macht, was da drinnen im Körper irgendwo noch schlummert. Wartezimmer schwitzen Angst. Man tritt ein in sie wie in einen dumpfen Brei gedämpfter Lebendigkeit, zum Stillstand gefesselter Gegenstrebungen von Hoffnung und Verzweiflung, Aufruhr und Ergebenheit, Vorwärtswollen und Nach-rückwärts-Fliehen. Gelacht wird hier selten. Die Zeit scheint nicht wirklich vorzurücken, und auch der Raum bewegt sich nicht, nur die Perlenreihe der PatientInnen geht weiter auf dem Weg zu dem Zimmer hin, in dem vielleicht Heilung liegt.
Bei Dr.in H. geschieht sehr lange nichts. Es ist jetzt 10.20 Uhr. Ich höre auf zu denken. Irgendwann öffnet sich die Tür. Mein Name, endlich. Was kommt jetzt? Nach langem Warten ist die Zeit wie neu.
Zum Fotoprojekt
Die seltsame Atmosphäre von Arztpraxen und Krankenhäusern faszinierte „Welt der Frau“-Fotoredakteurin Alexandra Grill. Ohne gesundheitliche Notwendigkeit, dafür aber mit der Kamera samt Spezial-Objektiv, machte sie sich auf den Weg in diverse Wartezimmer und -zonen.
Erschienen in „Welt der Frau“ 02/16 – von Andrea Roedig