Wie geht man mit einem Verstorbenen um und wie mit dessen Angehörigen? Fragen, die unsicher machen, aber auf die es ruhige Antworten gibt.
Anita Groß ist unsicher, soll sie die Leiche zudecken oder nicht? Wie werden die Angehörigen reagieren? Die Medizinjournalistin aus Oberösterreich arbeitet seit 23 Jahren ehrenamtlich als Rettungssanitäterin. Todesfälle hat sie in dieser Zeit einige erlebt – und doch ist ihr die Situation nie zur Gewohnheit geworden. Im Gegenteil, immer wieder beschleichen sie Zweifel, ob sie alles richtig macht, wenn der Arzt mit einem klaren „Aufhören“ die Reanimation beendet. Nicht selten beschleicht sie das schlechte Gewissen, wenn sie sich selbst bei dem Gedanken ertappt: „Das könnte auch ich oder mein Angehöriger sein.“
Was Groß beschreibt – das Gefühls- und Gedankenchaos im Angesicht des Todes –, kennen viele Berufsgruppen, Pflegekräfte genauso wie Ärztinnen und Ärzte oder Bestatter, aber auch Angehörige. Häufig wird die Leiche rasch entfernt, Halt gebende Rituale, wie sie früher gang und gäbe waren, entfallen. Hat die Gesellschaft verlernt, mit dem Tod umzugehen?
WAS DIE LEICHE MIT UNS MACHT
Diese Frage wird Martin Prein, Leiter des Instituts für Thanatologie in Linz, oft gestellt. Prein, der selbst mehr als 15 Jahre Bestatter war, hat sich nach Abschluss seines Psychologiestudiums ganz der Wissenschaft von Tod, Sterben und Bestattung mit ihren soziologischen und psychologischen Aspekten verschrieben. Die Bezeichnung „Thanatologie“ leitet sich vom griechischen Totengott Thanatos ab.
Privat und beruflich spürte er mehr als einmal, wie stark die „Strahlkraft“ einer Leiche sein kann, wie er es heute nennt – und wie hilflos wir letztlich alle angesichts eines toten Menschen sind. Prein, selbst auch in der Krisenintervention tätig, hat die Not zur Tugend gemacht und eine wissenschaftliche Arbeit über den Umgang mit dem toten Körper geschrieben. Dabei wurde ihm vor allem eines klar: „Die Anwesenheit einer Leiche ist extrem kulturell aufgeladen.“ Im Laufe der Geschichte seien viele Mythen entstanden, die sich teilweise bis heute hartnäckig halten, wie etwa, dass Leichen giftig seien oder schwangere Frauen den Raum mit einem Toten nicht mehr betreten sollten.
DEN GEFÜHLEN RAUM GEBEN
Prein hält mittlerweile Seminare, die den Titel „Letzte Hilfe Kurs“ tragen, eben ist sein erstes Buch zu dem Thema erschienen. Co-Autorin ist Rettungssanitäterin Anita Groß. Die beiden lernten sich 2011 anlässlich eines von Preins Seminaren kennen, die Groß als Fortbildung besuchte. „Für mich war es damals extrem hilfreich, zu hören, dass alle Gefühle, die in der Situation des Todes kommen, normal seien“, erzählt Groß im Rückblick. Manche Menschen würden plötzlich Ehrfurcht empfinden, andere Ekel. „Alles, was kommt, darf sein“, fasst sie die Quintessenz des gemeinsamen Buches zusammen, „und das sowohl bei den Angehörigen als auch bei den Helfern.“
ES BRAUCHT KEINE WORTE
Als Psychologe ist es Prein besonders wichtig, dass die Gefühle, die unmittelbar nach dem Versterben auftauchen, nicht „gedämpft“ werden. „Ein gut gemeintes ,Er war ja schon alt‘ kann mehr schaden als helfen“, sagt der Experte und verweist dabei gerne auf sein Motto: „Lindern ist gleich behindern.“ Wir alle hätten verständlicherweise oft Angst vor den starken Emotionen der Angehörigen, dabei sei gerade in der Akutsituation das Zulassen der Gefühle so wichtig.
Gerne erzählt Prein das Beispiel einer Frau, die er im Rahmen seiner Tätigkeit als Krisenhelfer kennenlernte. Als professionelle Stütze wurde er damals nach dem plötzlichen Tod eines Mannes im mittleren Alter geholt. Beim Eintreffen am Unfallort sei die Frau weinend, schreiend und an ihren Mann geklammert auf dem Boden gelegen. Minutenlang hätte sie sich nicht von der Stelle bewegt. Prein redete in der Zwischenzeit mit ihrem Sohn; groß war die Unsicherheit, wie er am besten mit der Trauernden umgehen soll. Intuitiv tat Prein damals nichts, blieb schweigend im Hintergrund und ließ zu, dass die Frau ihre Gefühle zeigte, überzeugt, dass sie ihn nicht einmal wahrnahm. Als später der Bestatter eintraf und die Frau sich von ihrem Mann löste, bedankte sie sich überschwänglich bei Prein: „Danke, dass Sie da gewesen sind!“ – „Das war einer der Momente, in denen ich begriffen habe, dass es einzig und allein darum geht, da zu sein und die Situation gemeinsam auszuhalten“, erzählt Prein und fügt hinzu: „Häufig wird gleich viel zu viel geredet.“
GEMEINSAMES AUSHALTEN
Auch Anita Groß hat aus ihrer Auseinandersetzung mit dem Thema gelernt, dass mitfühlende Anwesenheit in der Akutsituation genug ist. „Das Seminar bei Martin Prein konnte mir die Frage, ob ich die Person nach dem Versterben zudecken soll, nicht beantworten“, sagt die Journalistin. Heute wisse sie aber, dass es darum eigentlich gar nicht gehe. Vielmehr sei es wichtig, in solchen Momenten einfach da zu sein und die eigene Ohnmacht ebenfalls auszuhalten. „Letztlich ist das schon schwierig genug“, sagt Groß.
EINEN GUTEN ABSCHIED FINDEN
In ihren Seminaren und im Buch geht es Prein und Groß auch darum, den Menschen zu vermitteln, welch große Bedeutung die persönliche Gestaltung des Abschiedes hat. Es sei eben nicht egal, ob man die kranke Großmutter kurz vor ihrem Tod im Spital das letzte Mal sieht oder später als Verstorbene in der Aufbahrungshalle. „Wer sich von einem geliebten Angehörigen persönlich verabschieden möchte, sollte sich nicht scheuen, das auch einzufordern“, sagt Groß.
Prein weiß aus eigener Erfahrung als Bestatter, dass Gründe wie „Der Sarg ist bereits verschlossen“ nicht zählen dürfen. „Viele Menschen brauchen den leiblichen Abschied vom Toten, um sein Sterben realisieren zu können“, sagt Prein und fügt das Beispiel einer Frau an, der man es nach dem Unfalltod ihres Sohnes verwehrt hatte, ihn noch einmal zu sehen. Noch zwei Jahre später sei sie jeden Abend um dieselbe Zeit in die Garage gegangen, um auf die Ankunft ihres Kindes zu warten. Sich auf jeweils eigene Art und Weise zu verabschieden, kann für den Trauerprozess und das Zurückfinden ins Leben sehr hilfreich sein.
Martin Prein und Anita Groß möchten den Gefühlen, die mit Tod und Trauer verbunden sind, neue Wertschätzung geben.
Martin Prein/Anita Groß: „Letzte Hilfe Kurs.“
Styria Verlag, 22,00 Euro
Foto: Shutterstock, Grill
Erschienen in „Welt der Frauen“ 10/2019