Die Pädagogin und Bildungsexpertin Christine Mitterlechner, 76, über das Lernen im Alter, über Herzensbildung und das von ihr entwickelte Lernmodell der Montessori-Geragogik.
Was braucht es aus Lernperspektive für ein gelingendes Altern?
Um gut alt werden zu können, braucht es einen ganzheitlichen Ansatz, der den Geist genauso betrifft wie den Körper. Alte Menschen haben schon eine Menge Erfahrungen – gute wie schlechte. Bei ihnen geht es immer auch um die Frage: Wie gut schaffe ich meinen Alltag? Also muss Lernen im Alter Sinn ergeben. Es muss Interesse da sein und das Gelernte im Alltag etwas nützen.
Wie sind Sie auf die Idee zur Ihrem Lernmodell der Montessori-Geragogik gekommen?
Meine Mutter, die mit 93 gestorben ist, war diagnostizierte Alzheimer-Patientin und mein Vater, der fast 97 wurde, hatte Parkinson. Ich konnte also direkt in der Familie miterleben, wie in der Persönlichkeit dieser gebildeten Menschen, die auch sehr viel Herz hatten, Veränderungen eingetreten sind. Beide waren Pädagogen, und das hat mich geprägt. Ich habe mir überlegt: Es muss doch möglich sein, bestimmte Lernprinzipien von Maria Montessori, die ja von uns allen nur als Reformpädagogin für Kinder und Jugendliche gesehen wird, auch auf die Geragogik, also auf die Pädagogik für ältere und alte Menschen umzulegen, damit der Alterungsprozess trotz aller Einschränkungen freud- und sinnvoll erlebt werden kann.
„Hilf mir, es selbst zu tun“ ist einer der Kernsätze der Montessori-Pädagogik. Wie haben Sie diesen auf das Lernen mit alten, oft körperlich oder auch kognitiv eingeschränkten Menschen umgelegt?
Ich habe ihn für die Montessori-Geragogik adaptiert und auf vier Leitsätze erweitert. Erstens: Hilf mir, es so lange wie möglich selbst zu tun. Zweitens: Hilf mir, dass ich es wieder kann – zum Beispiel nach Erkrankungen. Drittens: Hilf mir, dass ich es neu kann. Wir wissen aus vielen Studien, dass auch alte und hochaltrige Menschen noch in der Lage sind, neues Wissen zu generieren, allerdings brauchen sie dafür viel länger. Der Prozess verändert sich, aber möglich ist es nach wie vor. Und schließlich viertens: Hilf mir, mich selbst sein zu lassen.
Hierzu passt das Stichwort der Herzensbildung, das Sie in Ihrem neuen Buch über Montessori-Geragogik so hervorheben.
Die Herzensbildung ist mir sehr wichtig. Wenn es um die Themen Lernen und Bildung geht, ist es zu wenig, wenn sich alles nur im Kognitiven abspielt. Ich kann mir im Leben viel Wissen aneignen, aber ohne dass ich das Gelernte reflektiere und für mich evaluiere, werde ich nie zu einem wirklichen Bildungsgut gelangen. Für mich gehört dazu nicht nur das Hirn, sondern auch Herzensbildung und ein Wertekanon.
Das Thema Herzensbildung ist sicher auch ein Thema für die LernbegleiterInnen, die Sie im Rahmen Ihrer Montessori-Geragogik für die Arbeit mit alten Menschen ausbilden.
Das stimmt. Dahinter steht aber die grundsätzliche Frage: Wie gehen wir miteinander um? Der Umgang mit Personen, die körperlich oder kognitiv eingeschränkt sind, ist nicht immer leicht. Es geht darum, mit ihnen wertschätzend und auf Augenhöhe zu kommunizieren. Das Gegenüber muss meinen Respekt und meine Achtung spüren.
„Alte Menschen lassen sich motivieren, wenn man ihnen das Gefühl von Gleichwertigkeit und Respekt vermitteln kann. Dann erzählen sie von sich aus, lernen einander wieder zuzuhören und blühen als Menschen auf!“
Das Praxismodell, das Sie für die Montessori-Geragogik entwickelt haben, heißt „L3M“. Wofür steht das?
Das steht für „Lebensbegleitend Lustvoll Lernen nach Montessori“ – auch wenn mein Mann immer scherzt, das M stehe für „nach Mitterlechner“.
Was beinhaltet dieses Praxismodell?
Das L3M umfasst mehrere Säulen. Die eine ist, dass Montessori-Prinzipien auf die Geragogik umgelegt wurden. Dabei geht es um die Förderung der geistigen Fähigkeiten, der Selbstbestimmung und Selbständigkeit von älteren und alten Menschen. Dafür wurden Montessori-Materialien adaptiert beziehungsweise völlig neu für das Lernen mit alten Menschen gestaltet und produziert. Andererseits umfasst das L3M-Programm ein Curriculum, das wir entwickelt haben, um Personen aus dem Bildungs-, Gesundheits- und Pflegebereich, aber auch Angehörige von alten Menschen zu LernbegleiterInnen nach der Montessori-Geragogik auszubilden. Das Herzstück dabei ist die sogenannte „Freie Lernphase“, ein sechsstufiges Phasenkonzept fürs Lernen mit alten Menschen.
Finden solche „Freie Lernphasen“ vor allem in SeniorInneneinrichtungen statt?
Wir haben das schon in SeniorInnenheimen, in Bildungshäusern, in Pfarrhöfen, sogar in Hinterzimmern von Gasthäusern praktiziert. Prinzipiell ist eine Freie Lernphase für SeniorInnen überall durchführbar. Man braucht nur einen Raum mit ein bisschen Bewegungsfreiheit, damit auch Personen mit Rollator oder Rollstuhl Zugang haben. Möglich wäre es überall. Das ist ja meine Vision, dass es an möglichst vielen Stellen stattfindet und angeboten wird!
Wie kommen die Lerngruppen nach der Montessori-Geragogik an?
In den 17 Jahren, in denen ich mich mit Montessori-Prinzipien in der Geragogik beschäftige, habe ich gelernt: Nicht die älteren und alten Menschen sollen sich an irgendein Lernkonzept anpassen müssen, sondern es muss ein Konzept sein, das für sie passt. Darum frage ich die Leute auch immer nach ihren Interessen und entwickle danach neue Lernmaterialien. Es handelt sich um sehr haptische Lernmaterialien. Über das Hantieren mit ihnen schafft man die Verbindung von der Motorik zur Kognition. Jedes Übungsmaterial hat in sich eine sogenannte Selbstkontrolle, damit der alte Mensch nach getaner Arbeit feststellen kann, ob seine Lösungen richtig sind oder nicht. Das heißt: Er oder sie braucht niemanden, der ihm sagt: „Das stimmt“ oder: „Das stimmt nicht“. So wird niemals in der Gruppe verglichen.
Warum ist das wesentlich?
Es wird immer die geben, die sehr rasch mit den Lernübungen fertig sind, einige, die im mittleren Bereich liegen, und einige, die langsamer als die anderen sind. Den Nachzüglern geht es immer schlecht. Das ist furchtbar. Genau das vermeiden wir, weil jeder seine Übung mit einem anderen Material macht.
Weil geragogische Lerngruppen so heterogen sein können?
Genau so ist es. Die Gruppen sind sehr heterogen. Es kommt durchaus vor, dass eine 55-jährige Alkoholikerin mit kognitiven Einschränkungen neben einem 90-jährigen Mann sitzt, der geistig topfit, aber körperlich eingeschränkt ist. Diese beiden können ihre Lernergebnisse gar nicht vergleichen, weil der eine etwa mit einem Ordnungsbrett, die andere hingegen mit Bildkarten arbeitet. Und genau so soll das auch sein. Es wird nicht verglichen.
Ein paar Worte zu Ihrer persönlichen Bildungsbiographie: Sie haben als Elementarpädagogin begonnen?
Ja. Das war hochspannend. Später war ich Direktorin einer Volksschule. Daneben war ich Ausbildungslehrerin für Studierende an der Pädagogischen Akademie und Dozentin an zwei pädagogischen Instituten in Wien, habe an Lehrplänen mitgearbeitet und war in verschiedensten Arbeitskreisen und Kommissionen tätig. Von meinen Anfängen als Volksschullehrerin bis zu meiner Pensionierung im Jahr 2003 habe ich parallel dazu immer weiter Fortbildungen und Ausbildungen gemacht und bin so in die Erwachsenenbildung hineingerutscht. Ich wurde LIMA (Lebensqualität im Alter)-Trainerin, Motogeragogin, Dipl.-Geragogin, Dipl.-Erwachsenenbildnerin und Trainerin für Lebensgeschichte und Biografiearbeit.
Von der Pädagogik über die Andragogik, also Erwachsenenbildung, zur Geragogik?
Genau so ist es. Es gibt Situationen im Leben, wo man das Gefühl hat, die diversen Puzzlesteine des eigenen Bildungsweges ergeben ein Bild. Für mich wird dieses Bild immer konkreter und bunter.
Was kann Montessori-Geragogik im Idealfall bewirken?
Der Idealfall ist, dass Menschen dazu ermutigt werden, den Alterungsprozess auch positiv sehen zu können. Erfahrungen und Wissen sind ein Schatz, aber man muss sich auch trauen, sie anzuwenden, um seinen Alltag möglichst gut zu bewältigen. Ältere Menschen, besonders wenn sie in Heimen leben, verstummen oft. Sie sitzen nebeneinander und kommunizieren nicht. Wenn ich aber Lerngruppen habe, die durch unser L3M-Phasenmodell immer wieder angeregt werden – durch Gegenstände, durch Bilder, durch Dinge, die in die Hand genommen werden können –, können wir wieder ins Gespräch kommen.
Alles eine Frage der Motivation?
Alte Menschen lassen sich motivieren, wenn man ihnen das Gefühl von Gleichwertigkeit und Respekt vermitteln kann. Dann erzählen sie von sich aus, lernen einander wieder zuzuhören und blühen als Menschen auf! Und wenn sie lange genug mit unseren Lernmaterialien hantieren, werden zum Beispiel auch ihre Finger wieder weniger steif. Plötzlich geht es dann wieder, sich den Kaffee selbst einzuschenken! Jetzt sind wir wieder an dem entscheidenden Punkt angelangt: Darf ich mein Leben bis zuletzt gestalten? Möchte ich das gerne bis zuletzt? Dafür braucht es bestimmte Fähigkeiten, und diese trainieren wir. Es geht darum, alte Menschen zu bestärken und ihnen zu sagen: „Je öfter ihr übt, desto länger seid ihr autonom.“ Es handelt sich – wie es bei Maria Montessori heißt – um Übungen des praktischen Lebens.
Buch:
Christine Mitterlechner:
Montessori-Geragogik.
Der alternde Mensch im Mittelpunkt.
Facultas, 28,90 €
Montessori-Geragogik-Ausbildung:
Institut für Lebensbegleitendes Lernen
https://www.lifelong-learning.at