Aktuelle
Ausgabe:
Nahrung
09/24

Termine in Zuckerschrift und knallrote Gummistiefel

Termine in Zuckerschrift und knallrote Gummistiefel
Foto: Privatarchiv Bamminger

Fassungslos blicke ich meinen Mann an. „Das hab’ ich dir hundertprozentig erzählt!“, schwört er. Während ich meinen kleinen Schock verarbeite, krame ich verzweifelt in meinem Gehirn. Bin ich eine so grauenhafte Zuhörerin, ist das eine Vorstufe von Alzheimer, oder täuscht sich am Ende mein liebes Gegenüber?

„Dieses dreitägige Meeting steht schon seit Monaten fest, ich werde zu dem Datum nicht da sein können“, bekräftigt mein Mann noch einmal. Da haben wir also den Terminsalat. Augenblicklich beginnt in meinem Kopf die Suche nach Lösungen. Einige Telefonate mit den Omas und ein paar Gespräche mit den Kindern später ist das Betreuungsleck auch schon wieder gestopft. Später auf der Couch grüble ich, wie es sein kann, dass ich mich an die Information meines Partners beim besten Willen nicht erinnern kann. „Hier in der Küche sind wir gestanden, du hast gerade noch den Einkauf weggeräumt, da hab’ ich’s dir erzählt!“ Komischerweise erinnere ich mich genau, wo ich die Feigen positioniert habe. Für den Geschäftstermin meines Liebsten hatte ich jedoch scheinbar keine Ablage in meinem Gedächtnis frei.

„Warum kann ich mich an das Skigewand meines Mannes beim ersten Date vor über zwanzig Jahren erinnern, vergesse aber die Info zur besagten Tagung?“

Wie kommt es, dass ich mich an manche Dinge so gut erinnere, mir aber andere völlig entfallen? Warum kann ich mich an das Skigewand meines Mannes beim ersten Date vor über zwanzig Jahren erinnern, vergesse aber die Info zur besagten Tagung? Ich beginne, das Thema zu ergründen, und stoße auf Erklärungen, die mir als gelernte Elementarpädagogin durchaus vertraut sind. Sich zu erinnern, ist eine Art Lernleistung, und wie Lernen funktioniert, kenne ich von der Pike auf.

Wir können uns besser und leichter an Dinge erinnern, wenn …

… wir sie oft im Kopf wiederholt haben. Durch Gedanken, in Erzählungen oder Gesprächen.

… sie eine starke emotionale Qualität aufweisen. Große Gefühle sind der ultimative Verstärker!

… sie eine hohe Relevanz mitbringen – schließlich können wir uns nicht alles merken!

… verschiedene Sinneserfahrungen mit der Erinnerung, dem Lerninhalt einhergehen.

Als ich im Kindergarten ein Englischprojekt durchgeführt habe, machte ich mir genau das zu Nutze. Wir lernten Vokabeln nicht einfach nur mit Bildern, als wir vom Obst sprachen. Ich schleppte Erdbeeren, Bananen und Äpfel an, die die Kinder nicht nur betrachtet und befühlt haben, sie haben sie auch beschnuppert und verkostet, während wir die englischen Begriffe gefühlt tausendmal aussprachen. Aus demselben Grund wäre es gut, Vokabeln zu tanzen, Zahlen zu kneten oder Lerninhalte laut vorzulesen. Je mehr Sinne involviert sind, desto besser werden sie behalten. 

Da kommt mir eine Idee, mit der ich sogleich meinen Mann beglücke: „Nächstes Mal bitte den Auslandsaufenthalt in Zuckerschrift auf einem Stückerl Torte servieren.“ Die Begeisterungsstürme bleiben aus, stattdessen ernte ich einen ungläubigen Gesichtsausdruck.

Vom Horrorfilm zur tragischen Komödie

Ob wir uns an etwas erinnern, hängt auch davon ab, wie oft wir eine Erinnerung wieder hervorkramen, nochmal erzählen und durchleben. Damit graviert sie sich tiefer in unser Gedächtnis ein und wird besser gespeichert. Das ist der Grund, warum ich mich so hervorragend an die Geburten meiner Kinder, diverse Urlaube oder die bestandene Matura erinnere. Ich habe diese Ereignisse oft wiederholt, mit Gefühlen angereichert und ihnen somit Bedeutung gegeben. Diese Bedeutungen überragen den tatsächlichen Moment, in dem sie stattfanden. So wird die Summe unserer Erinnerungen und Erfahrungen gleichsam unsere Identität.

Ein Beispiel: Unser Sardinienurlaub vor ein paar Jahren war gespickt mit kleineren und größeren Hopplas. Manche Dinge liefen so schief, dass wir die ganze Reise als Fehlentscheidung verbuchten. Von Bierflaschenscherben über den Wocheneinkauf und das ohrenbetäubende Getöse des Meeres bis hin zum Seeigel, den der Jüngste mit seinen zarten Füßchen aufgabelte, ließen wir kein Missgeschick aus. Nach dieser Woche waren wir wütend, enttäuscht und frustriert. Ich erinnere mich lebhaft, wie alles am Ufer des Gardasees heulend aus mir herauskam.

Mittlerweile unterhalten die Erlebnisse dieser Woche so manche gesellige Runde. Womöglich wegen der Schadenfreude, die andere gern zum Lachen bringt. Vor allem ist es aber die veränderte Bedeutung, die wir diesem Urlaub geben. Er ist nicht der Horrorfilm geblieben, der er anfangs war, sondern entwickelte sich in eine tragische Komödie, aus der wir auch gelernt haben. Ohropax als Muss im Reisegepäck, Wasserschuhe für die Kleinen und kein Bier mehr im Urlaub. Also gut, Letzteres ist geflunkert. Wir haben aber geschafft, die Erinnerung daran in ein positiveres Licht zu rücken.

Eine Frage der Perspektive

Genau das Gegenteil passiert übrigens beim sogenannten Gaslighting. Wenn ein Mensch dir dauernd eintrichtert, dass das Erlebte gar nicht wahr ist oder in dieser Form passiert, ist das eine fürchterliche Manipulation. Im schlimmsten Fall hältst du dich selbst für verrückt und zweifelst an dir. Wenn solche Einordnungen beständig von einer bestimmten Person kommen, liegt der Verdacht des Gaslighting nahe. Die Beziehung zu so einem Menschen sollte dringend auf den Prüfstand.

Im Positiven nützen wir diese Möglichkeit zur Veränderung von Erinnerungen in der psychologischen Beratung. Wir bieten neue Perspektiven für geschilderte Ereignisse an. Einen besseren Rahmen für ein vorhandenes Bild. Dieser Umgang mit Erlebtem bestätigt sich in einem Zitat von Max Frisch, der sagt: „Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält, oder eine ganze Reihe von Geschichten.“ So ergibt die Summe unserer Erfahrungen – beziehungsweise unserer Erinnerungen daran – die eigene Identität.

Wie ich mich selbst sehe, Begebenheiten meines Lebens einstufe und welchen Wert diese Aspekte meines Erlebens bekommen, liegt zum überwiegenden Teil bei mir. Die Tatsache, dass wir unsere Gedanken beeinflussen können, ist ein mächtiges Werkzeug für ein zufriedenes Leben. Keinesfalls soll das heißen, dass ich schlimme Dinge verharmlosen, verletzende Begegnungen verdrängen oder erschütternde Nachrichten vergessen soll. Ich will Dinge aber nicht noch bedrohlicher, größer und negativer machen, als sie sind. Im Kleinen und im Großen.

Die guten ins Köpfchen, die schlechten ins Töpfchen

Es gibt ein Foto von mir als etwa Zweijährige. Knallroter Overall, knallrote Gummistiefel und knallrote Zipfelmütze – so stehe ich neben den Ferkeln im großelterlichen Stall. In meinem Kopf ist es ein bewegtes Bild, in dem ich die jungen Schweine mühsam zum Trog schleppe und unendlich viel Freude daran habe. Ob die Quelle dieser Erinnerung das Foto, die Erzählungen meiner Eltern oder mein Gedächtnis ist, finde ich nicht so wichtig. Es ist eine der Erinnerungen, in denen ich noch schwelgen werde, wenn ich alt und grau bin. Genau so wünsche ich mir das auch.

Als wir spät an diesem Abend ins Bett fallen, ist aller Ärger über die Terminpanne verflogen. Ich stoße mich nicht länger an meiner vermeintlichen Schusseligkeit, sondern bin dankbar, dass mein Köpfchen genau so funktioniert und nicht anders. Bei geschätzten 70.000 Gedanken pro Tag, die ein Mensch verarbeitet, müssen auch welche in den mentalen Mülleimer. Ich bin überaus dankbar, dass nicht alles an mir haften bleibt, was ich irgendwann schon mal gedacht oder erlebt habe. Wie langweilig wäre es, wenn ich später meinen Enkelkindern davon berichten würde, dass ich damals dieses dreitägige Meeting vergessen habe, das mir beim Wegräumen des Einkaufs mitgeteilt wurde. Zurecht wird mein Gedächtnis die Info verworfen haben. Weil es stattdessen die lebendigsten, emotionalsten und bedeutungsvollsten Momente speichert.

 

Foto: Marie Bleyer

Kerstin Bamminger

Psychologische Beraterin, Elementarpädagogin & Supervisorin

Web: kerstinbamminger.com
Mail: [email protected]
Instagram: @die.beziehungsweise

  • Teile mit:
  • Veröffentlicht: 23.11.2023
  • Drucken