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04-05/24

Meine wunderbare Enkeltochter Katrin

Meine wunderbare Enkeltochter Katrin

Unsere Leserin Helga Huber & ihre Enkeltochter Katrin Oberrauner im „Welt der Frauen“-Gespräch.

„Welt der Frauen“-Leserin Helga Huber (81) aus Liezen ist Witwe und hat drei Kinder und sieben Enkelkinder. Ihre älteste Enkelin Katrin Oberrauner (35) ist Anthropologin, Spanisch- und Portugiesisch-Dolmetscherin, Tanz- und Bewegungspädagogin, Yogalehrerin und Coachin für Verkörperungsarbeit.

Ihr Joballtag veränderte sich aufgrund der Pandemie-bedingten Veranstaltungsverbote radikal. Doch die Grazerin fand Wege, um ihre Berufung neu auszuüben. Warum die Frauen diese ungewöhnliche Zeit als Chance sehen? Wir fragten erst bei der Großmutter nach und baten anschließend die Enkelin zum Gespräch.

„Am meisten bewundere ich Katrin für ihr großes Vertrauen ins Leben, mit dem sie sich in die Welt hinaus traut. Sie war schon allein in Brasilien, Argentinien und Indien – immer für mehrere Monate. Die Menschen, denen sie begegnet, scheinen ihr Vertrauen zu spüren, sonst würden sie sich ihr nicht so leicht öffnen. Auch mir konnte Katrin die Angst vor dem Fremden und Unbekannten nehmen. Ich erinnere mich noch gut daran, als sie als 15-Jährige ihre erste Reise alleine antrat, um eine Freundin auf der Insel Elba zu besuchen. Mein verstorbener Mann und ich brachten sie damals zum Bahnhof und hatten schreckliche Angst um sie, denn Katrin nahm im Zug ausgerechnet neben einem verwahrlost wirkenden Mann Platz. Wir waren voller Sorge und deuteten ihr vom Bahnsteig aus an, dass sie sich woanders hinsetzen soll. Aber das half nichts. So blieb mir nichts anderes übrig, als es Katrin gleich zu tun und ebenso zu vertrauen. Als Kriegskind, das 1940 geboren wurde, tue ich mir damit schwer.“

Helga Huber

„Veränderungen laden dazu ein, sich von undienlichen Gewohnheiten zu lösen“

Katrin Oberrauner im Interview

Katrin Oberrauner

Petra Klikovits: Ihre Großmutter hat mir erzählt, dass zwischen ihr, Ihnen und Ihrer Mutter regelmäßig „Generationengespräche“ stattfinden. Wie kam es zu diesem Ritual?

Katrin Oberrauner: Schon als Kind sehnte ich mich danach, mehr Zeit mit meiner Mutter zu verbringen, weil sie oft mit meinen beiden jüngeren Brüdern beschäftigt war. Umsetzen ließ sich das aber erst, als ich bereits erwachsen war. Seither verreisen Mama und ich gerne gemeinsam an verschiedene Orte. Eines Tages kam uns die Idee, auch Oma mitzunehmen. Die Gespräche, die wir auf unseren Touren führen, bringen uns drei einander näher. Sie helfen auch, uns selbst besser zu verstehen und wiederkehrende Beziehungsthemen aus unserem Familiensystem heraus zu betrachten. Es ist unglaublich, wie sehr Erfahrungen von AhnInnen auf einen selbst rückwirken können. Oma, Mama und ich gehen zum Beispiel mit dem Selbstverständnis durchs Leben, dass wir nichts machen müssen, was wir nicht wollen. Den Grundstein dafür legte meine Urgroßmutter Frieda.

Wie gelang ihr das?

Als Oma in jungen Jahren vor lauter Heimweh ihre Friseurinnen-Lehre abbrach und in den Schoß der Familie zurückkehrte, hatte meine Urgroßmutter vollstes Verständnis dafür. Das erstaunt, denn diese war einst von ihren Eltern verstoßen worden, als sie mit ihrem ersten Sohn Emil unehelich schwanger wurde. Das war damals eine Riesenschande in ihrer oberösterreichischen Gemeinde Pinsdorf! Deshalb musste sie ihr Kind bei ihren Eltern und ihren acht Geschwistern zurücklassen. In Bezug auf Omas Heimkehr hätte meine Urgroßmutter also auch ablehnend reagieren können. Aber das tat sie nicht. Sie reagierte liebevoll! So wirkte sich diese entgegenkommende und mitfühlende Haltung auch auf uns nachkommende Frauen positiv aus.

Wurden auch leidvolle Familienthemen von Generation an Generation übertragen?

Ja, das Thema „Existenzangst“ zum Beispiel. Um ohne Kind und elterlichen Rückhalt trotzdem neu beginnen zu können, verschlug es meine Urgroßmutter in die Obersteiermark, wo sie im Gastgewerbe arbeitete, meinen Urgroßvater heiratete und drei weitere Kinder bekam: meine Großtante Erika, meine Oma und meinen Großonkel Dagobert. Leider war das Geld immer knapp, vor allem als der Zweite Weltkrieg ausbrach und mein Urgroßvater wenige Jahre später bei einem Motorradunfall tödlich verunglückte. Die Rolle des Ernährers übernahm ausgerechnet Omas älterer Halbbruder Emil, also der unehelich geborene Sohn meiner Urgroßmutter. Um die Familie durchfüttern zu können, musste er seinen ganzen Lohn, den er in der VOEST verdiente, abtreten, sonst wären sie alle verhungert. Auch meine Urgroßmutter krempelte die Ärmel hoch und übernahm eine Gastwirtschaft in Liezen, wo sie immer wieder Gesangsauftritte hinlegte. Neben einem Gastgarten gab es eine Musikbox und einen großen Saal, den auch die örtliche Tanz- und Musikschule und diverse Vereine nutzten. Oma und ihre Schwester halfen in der Küche und im Service mit. Doch nach einigen Jahren ständiger Arbeit entwickelte sie ein Nierenleiden und starb kurze Zeit darauf an Gebärmutterhalskrebs. Es war ein friedlicher Tod. Sie wusste, wann es soweit war und rief nochmals alle Kinder zu sich, um sie zu segnen und sich am Totenbett von ihnen zu verabschieden. Sie war eine liebevolle Mutter und eine selbstbestimmte Frau, die bewiesen hat, dass sie die Dinge, die ihr wichtig sind, auch ohne Mann und finanzielle Mittel umsetzen kann.

Ihre Großmutter war somit mit 16 Jahren Vollwaise. Wie ging sie mit diesem Schicksal und den vererbten Existenzängsten um?

Ein paar Monate führte sie mit ihrer Schwester das Wirtshaus weiter. Als das nicht mehr ging, heuerte sie in einem Café in Schladming an, denn sie wollte finanziell unbedingt auf eigenen Beinen stehen. Auch als Ehefrau und dreifache Mutter hat sie immer als Kindergärtnerin und Saison-Kellnerin gearbeitet, weil sie das ständige Sparen satt hatte. Plagten Oma dennoch Sorgen, wandte sie sich an ihre „Sorgenpuppen“. Das waren Stoffpuppen, denen sie ihre Ängste anvertraute: „Können wir überleben? Ist genug für alle da?“ Als ich geboren wurde, schenkte Oma auch mir so eine Sorgenpuppe. So wurde das Thema „Existenzangst“ unbewusst auf mich übertragen.

Familie

Konnten Sie dieses alte Familienthema inzwischen auflösen?

Ja, aber erst, als ich merkte, dass das viele Sorgenmachen gar nicht zu mir gehört. Schließlich wuchs ich im Wohlstand und nicht in der Not auf. Doch das Denken, dass das Leben „hart“ sei, war in unserer Familie bereits so tief verankert, dass es auch mich mental blockierte. Als mir das bewusst wurde, begab ich mich mit meiner Mutter an die Donau. Dort bedankten wir uns bei den „Sorgenpuppen“ und übergaben sie symbolisch dem Fluss des Lebens. Seither fühle ich mich befreit und begegne dem Leben mit Zuversicht. Auch andere Themen, die sich in der Familie wiederholten, anerkenne ich, weil es wichtig ist, die Wunde zu kennen. Das reicht, um weitergehen zu können und Muster nicht fortzusetzen. Was mir noch auffällt, ist, dass Krisen die Frauen in meiner Familie immer schon erfinderisch machten. Auch von diesem „Erbe“ profitiere ich.

Inwiefern?

Indem ich beweglich bleibe. Nach der Gymnasium-Matura wollte ich Psychologie studieren. Dann merkte ich, dass mir Graz als Stadt zu klein ist und ich erstmal in Ruhe überlegen möchte, welchen beruflichen Weg ich einschlage. Weil es einer Freundin von mir damals nicht so gut ging, entschieden wir, in Spanien als „willing workers“ auf verschiedenen Bauernhöfen anzuheuern. Dabei wussten wir nie, was uns am nächsten Ort erwartet. Diese Erfahrung stärkte mein Vertrauen ins Leben enorm, weil ich immer an gute Menschen geriet. In Madrid ergab sich ein Praktikum bei der „Österreich Werbung“. Mein Chef war ein Österreicher, der ausgewandert war. Da spürte ich: Das kann ich mir auch für mich vorstellen! Kurze Zeit später besuchte ich eine Freundin in Brasilien. Die offene Art der Menschen dort und ihre Lebens- und Kontaktfreude berührten mich sofort. Ich wollte mehr über diese kulturellen Gepflogenheiten erfahren und so entschied ich, in Wien Anthropologie und Dolmetsch für Spanisch und Portugiesisch zu studieren. Doch schon während des Studiums merkte ich, dass ich nicht als Anthropologin und Dolmetscherin arbeiten möchte. Als Dolmetscherin muss man nämlich Stress lieben, weil man ständig neue Vorträge lukrieren muss. Außerdem war mir die Vermittlung zwischen Nord und Süd wichtiger als das Übersetzen. Deshalb fokussierte ich mich nach dem Abschluss meines Studiums auf die Entwicklungszusammenarbeit und fing als Bildungsreferentin bei der Wiener NGO „Licht für die Welt“ an. So erfuhr ich, wie Entwicklungszusammenarbeit von Österreich aus funktioniert. Ich durfte viel reisen, sogar nach Afrika! Fünf Jahre lang war das mein Traumberuf.

Was passierte dann?

Im ersten Jahr war da so viel Euphorie, weil alles so eintrat, wie ich es mir gewünscht hatte. Ich war voller Energie, verausgabte mich für meinen Vollzeitjob regelrecht. Dass mir für meine Hobbys – etwa das Tanzen – kaum noch Zeit und Kraft blieb, merkte ich gar nicht. Doch meine TanzkollegInnen merkten es. Sie meinten: „Was ist los mit dir? Früher bist du über den Tanzboden gefegt und jetzt bist du nur noch müde!“ In der Selbstreflektion wurde mir bewusst, dass es tatsächlich so war. Diese Müdigkeit hatte sich ganz unauffällig in mein Leben geschlichen. So fing ich an, mein Engagement zu hinterfragen und registrierte, dass ich für eine Sache unterwegs war, die nicht mehr zu hundert Prozent meinen Anliegen entsprach. Ich fragte mich: Was ist mein Auftrag? Was ist mir wichtig im Leben? Ich wollte tiefer gehen, zur Essenz kommen.

In dieser Umbruchzeit 2012 lernten Sie beim Tanzen Ihren Lebensgefährten Ben (41) kennen. Warum, glauben Sie, haben Sie einander angezogen?

Ben steht in meinen Augen für die weite Welt: Seine Mutter ist Israelin, sein Vater Ire. Zu dieser Zeit arbeitete er in einem angestelltenähnlichen Arbeitsverhältnis im IT-Bereich. So wie ich sehnte auch er sich nach mehr Freiheit und Autonomie. Also bestärkten wir uns gegenseitig darin, den Schritt in die berufliche Selbstständigkeit zu wagen. Im Zuge dessen wurden wir ein Paar und entschieden, dass wir immer unterwegs sein und das tun können, was uns Freude macht. Das war in meinem Fall tanzen.

Ben und Katrin Oberrauner

Warum ausgerechnet tanzen?

Als Kind war ich sehr ehrgeizig und dachte, dass ich alles schaffen muss. Damit überforderte ich mich oft selbst. Jeden Tag, wenn ich von der Schule nachhause kam, tanzte ich vor dem Spiegel. Dadurch fühlte ich mich freier und unabhängiger. Dieses Ritual behielt ich auch als Studentin bei. Da tanzte ich in unserem leerstehenden WG-Zimmer. Über diese Leidenschaft und diverse USI-Kurse kam ich zur „Kontakt Improvisation“. Diese Erfahrung war großartig, denn bei dieser Art von Tanz kann man mit sich selbst und mit anderen auf der Gefühlsebene in Kontakt treten. Tanz kann jede Sprache ersetzen. Außerdem kann man mit jedem tanzen. Welches Mindset ein Mensch hat, spielt keine Rolle. Deshalb ist der Tanz für mich so befreiend und gleichzeitig verbindend. Ich tanze mit dem Menschen, nicht mit seiner Herkunft, seinem Beruf oder seiner Religion. Deshalb passiert es öfter, dass man sich mit jemandem auf der Tanzfläche sehr gut versteht, aber abseits davon wenig Dialog möglich ist, weil dann wieder die Vernunft hineinspielt. Jedenfalls war ich von dieser Art des Tanzes so fasziniert, dass ich eine Ausbildung zur Yogalehrerin und Tanzpädagogin machte, um mich selbst besser kennen zu lernen.

War Ihre Sinnsuche damit vorbei?

Nein. Sie fing erst richtig an! (lacht) 2015 ging ich in Bildungskarenz, doch auch an der Uni fand ich keine Antworten auf meine Fragen. Also kündigte ich und brach 2016 mit meinem Partner und unserem Campingbus zu einer sechsmonatigen Reise durch Europa auf. Wir starteten in Norwegen und fuhren dann über Schweden, Deutschland, Frankreich, Portugal, Spanien und Italien zurück nach Österreich. Finanziert haben wir diese Reise mit unserem Ersparten und dem Geld, das wir über die Untervermietung unserer Wohnung einnahmen. In jedem Land verweilten wir solange, wie es unserem Gefühl entsprach. Dadurch etablierte sich in mir ein neues Denken, ein Feeling für innere Impulse. Zudem registrierte ich, wie wenig ich brauche, um glücklich zu sein, und was mir gut tut: freie Zeiteinteilung, die Natur und das Erforschen dessen, was Menschen zu ihrem Wesentlichen führt. Diese Erfahrung war so wertvoll, dass wir nach einem weiteren halben Jahr in Wien für sechs Monate nach Indien aufbrachen. Im Rahmen dieses Aufenthalts verbrachten wir auch einige Zeit in einem südindischen Dorf, wo der „Integrale Yoga“ gelehrt wird und Hindus, Christen, Buddhisten und Juden friedlich zusammenleben, weil sie eine gemeinsame Ausrichtung haben: das Göttliche auf Erden wahrzunehmen und diesem zu dienen – jede und jeder auf seine eigene einzigartige Weise.

Welche Frage steht dabei im Fokus?

Die Frage, was der Einzelne tun kann, um mehr Freude zu erfahren und dadurch auch zu mehr Harmonie und Einklang in der Gemeinschaft beitragen kann. Denn es geht nicht nur um persönliche, sondern auch um kollektive Weiterentwicklung. Das Schöne an diesem Dorf ist, dass es sich um kein abgetrenntes Ashram handelt, indem man sich aus der Welt zurückziehen kann. Sondern dass Weiterentwicklung dank des Integralen Yogas auch im unmittelbaren Zusammenleben und mitten in den Turbulenzen des Alltags möglich ist. Entscheidend ist die Achtsamkeit und Präsenz, mit der wir Dinge denken, sagen und tun. Das durfte ich auch den indischen Kindern, die ich vor Ort in Integralem Yoga und Kontaktimprovisation unterrichtete, vermitteln.

Was ist beim Integralen Yoga anders als bei anderen Yoga-Richtungen?

Beim Integralen Yoga geht es nicht um ein Nirwana, einen Idealzustand nach dem Tod, sondern um das Glück im Hier und Jetzt. Oft sehen wir es nicht. Daher ist es wichtig, sich frei zu machen von allen Schleiern, die unseren Blick für das Göttliche trüben. Nur so lässt sich die eigene Schönheit, die eigene Freiheit, die eigene Zufriedenheit erkennen. Ein zweites Merkmal ist die Einbeziehung des Körpers. Ältere Yoga-Richtungen haben diese vermieden, weil man dachte, dass der Körper dem Menschen nur Last sei. Beim Integralen Yoga, das zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstand, spielt der Körper aber eine wichtige Rolle! Nicht umsonst wird unser Korpus als Tempel bezeichnet. Er ist wie ein Seismograf, der sofort meldet, wenn etwas nicht (mehr) passt. Er führt uns zu einer tieferliegenden Wahrheit, also zu dem, was unter dem Gedankenstrudel liegt. Zu dem, was ruhig und zufrieden ist und uns wissen lässt, dass alles gut ist. Dort hinzufinden, immer öfter und auch im Alltag, ist das Ziel. Die wahrhaftige Rückmeldung unseres Körpers hilft uns aber auch dabei, uns aus Situationen heraus zu bewegen, die sich nicht (mehr) stimmig anfühlen. Dieses Hinausbewegen kann physisch erfolgen, indem man eine Situation verlässt. Oder mental, indem man Gedanken, die einen gefangen halten, durch bewusstes Ein-und Ausatmen loslässt. Dafür reicht es, wenn wir präsent und ehrlich mit uns selbst sind. Hilfreich ist auch die Frage: „Was macht mir Freude? Wann fühle ich mich authentisch? Wo fließt es in mir?“ Dadurch können alte Routinen durchbrochen und Situationen verändert werden. Diese Momente sind große Geschenke, weil wir durch sie über uns selbst hinauswachsen und uns als Schöpferinnen und Schöpfer erfahren können.

Yoga

Wie kann man mit seinem Körper kommunizieren?

Wenn Sie zum Beispiel vor dem Computer sitzen und einfallen oder eine Tätigkeit ausüben, bei der Sie verspannen oder sich gestresst fühlen, können Sie die Augen schließen, nach innen blicken und Ihrem Körper eine Frage stellen, etwa so: „Lieber Körper, was tut mir jetzt gut? Was empfiehlst du mir?“ Durch diesen Dialog mit der sogenannten Körperintelligenz kann die Antwort aus der Tiefe herauskommen. Meist kommt die Aufforderung, aus der aktuellen Situation, aus einer Emotion oder einem Gedankengefängnis auszusteigen und sich woanders hin zu bewegen. Mal ist das die Yogamatte oder ein Sofa, mal wünscht sich der Körper einen Spaziergang. Oft reichen schon kleine Veränderungen, um das eigene Wohlbefinden zu steigern. Das Wichtigste dabei ist der Satz: „Alles darf, nichts muss“. Denn schon die Wörter „sollen“ und „müssen“ lösen eine Enge im Körper aus. Dann gilt es wieder, sich hinauszubewegen und frei zu werden.

Sie praktizieren das unentwegt, auch beruflich. Nach Ihrem Aufenthalt in Indien zogen Sie mit Ihrem Partner zurück nach Graz und übernahmen dort die Leitung der „Casa Ananda“, einem Zentrum der Vielfältigkeit, wo neben Yoga und Meditation auch andere Geist-Körper-Arbeit-Methoden angeboten werden. Nach drei Jahren ging es wieder retour nach Indien. Seit März 2020 arbeiten Sie nun wieder in Graz. Wie ging das während der Lockdowns?

Als Covid-19 ausbrach, stand für mich fest, dass ich nicht auf Arbeitslosengeld angewiesen sein und verzweifeln will. Stattdessen fragte ich mich: „Bin ich noch am richtigen Weg oder ist es Zeit, etwas im Sinne des eigenen Glücks zu verändern?“ Die Antwort war eindeutig! Also machte ich mir das technische Know-how meines Lebensgefährten zunutze und gründete eine Online-Yoga-Videothek, um meine Yoga-SchülerInnen auf diese Weise unterrichten zu können. Über Live-Online-Klassen praktizieren wir regelmäßig in unseren Wohnzimmern gemeinsam Yoga und stärken so unser Immunsystem und Selbstbewusstsein. Dass das digital funktioniert, hat mich selbst sehr überrascht, denn ich bin kein Computer-Fan gewesen. Aber dank der Pandemie schätze ich die Möglichkeiten, die uns die digitale Welt bietet, sehr, weil ich dadurch freier arbeiten und noch mehr Menschen erreichen kann. Durch die Orts-und Zeitungebundenheit haben nun noch mehr Menschen zum Yoga gefunden. Das ist großartig!

Was lehrt Sie die Coronakrise folglich?

Dass ein Bruch mit dem Gewohnten nicht in einen Stillstand führen muss, sondern, dass sich mit einer Portion Offenheit und mutigem Anfängergeist neue Möglichkeiten erschließen. Die Veränderungen des Lebens sehe ich als Einladung, mich von undienlichen Gewohnheiten zu lösen, um Platz für Neues zu schaffen. Wohl noch nie zuvor haben wir uns weltweit in einem so bewusst wahrgenommenen Wandel befunden, in welchem das alte Weltbild durcheinander geworfen wird. Diese globale Veränderung sehe ich als große Chance für jeden Einzelnen von uns, um zu überprüfen, wo das eigene „Haus“ weiter ausgebaut werden möchte, um neues Leben willkommen heißen zu können. In diesem Sinn ist mein Appell an alle, denen das Wohl der Menschheit ein Anliegen ist: „Frage nicht, was die Welt braucht. Frage dich selbst, was dich lebendig macht, und tue das. Denn die Welt braucht Leute, die lebendig geworden sind!”

Sie persönlich wurden von der Pandemie dazu inspiriert, neue Kurse anzubieten. Neben www.herzklar.at, einem Online-Leitfaden für Menschen, die sich und ihre individuellen Talente weiterentwickeln möchten, um mehr Freude ins (eigene) Leben zu bringen, bieten Sie auf Ihrer Website www.katrinmove.com auch „Systemisches Coaching und Verkörperungsarbeit“ im Einzel-und Gruppensetting an. Auch das klappt über „Zoom“ hervorragend. Mit welchen Anliegen wenden sich InteressentInnen da an Sie?

Manche kontaktieren mich aufgrund von körperlichen Beschwerden, etwa Menstruationsproblemen. Meist geht es aber um Stress in zwischenmenschlichen Beziehungen sowie um Sinn- und Zukunftsfragen. Dabei steht der Wunsch, das Eigene zu finden und leben zu dürfen, im Vordergrund. Seit viele Ablenkungen im Zuge der Pandemie weggefallen sind, widmen sich immer mehr Menschen ihrer inneren Stimme, ihrem Eigentlichen. Die jüngsten, die mich kontaktieren sind 20, die ältesten Ende 70, Anfang 80. Auch meine Oma möchte diese neue Dienstleistung in Anspruch nehmen. Beim Yoga macht sie bereits fleißig mit – entweder im Bett oder auf ihrem Stuhl sitzend. Und auch unsere letzte Tanz-Session ist noch gar nicht so lange her (lacht).

Improvisations Yoga

Lösen Sie auch Konflikte durch Kontaktimprovisation?

Ja, manchmal tanzen mein Partner und ich unsere Konflikte tatsächlich aus. Dann lassen wir unsere Körper sprechen. Diese Methode bewährt sich vor allem dann, wenn uns Worte fehlen oder wir Fragen haben und nicht weiter wissen – wie um Beispiel: Soll ich den Job annehmen oder nicht? Über die eigene authentische Bewegung, bei der es nicht ums Darstellen, sondern nur ums pure Fühlen geht, wird das Unterbewusste offensichtlich. Bei so einem Tanz kann einen der Partner in seinem So-Sein erkennen. Er kann durch oberflächliches Verhalten hindurchsehen, wahrnehmen, was wirklich ist. Und er kann bezeugen und aussprechen, was er gesehen hat. Aber natürlich tanzen wir nicht nur, sondern sprechen auch täglich miteinander. Dieses viele Kommunizieren erhöht die Beziehungsqualität enorm, auch wenn es für viele Paare anfangs ungewöhnlich ist. Aber diese neue Art des Umgangs lässt sich kultivieren. Ben und mir ist es gelungen. Wir drücken alles aus, was uns nicht passt. Manchmal finden wir schneller zu einer Harmonie zurück, manchmal braucht es länger.

Was haben Sie dadurch über Gefühle und Emotionen gelernt?

Gefühle zeigen sich meist nur kurz und wollen unmittelbar ausgerückt werden. Lassen wir sie nicht zu, stauen sie sich an und entwickeln sich zu unkontrollierbaren Emotionen. Sobald wir daran festhalten, auf etwas bestehen, an uns selbst oder anderen etwas verurteilen und nicht annehmen wollen oder etwas verheimlichen, werden unser Leben, unsere Beziehungen leidvoll und starr. So kommt man nicht weiter. Deshalb halte ich meine Gefühle nicht mehr zurück, sondern spreche sie an. Ärgere ich mich etwa über meinen Partner, mache ich ihm keinen Vorwurf, sondern bleibe bei mir und lasse ihn wissen, was in mir passiert. Etwa so: „Ich bin wütend, wenn ich die Hausarbeit allein erledigen muss“. Oder: „Ich werde nervös und fühle mich vernachlässigt, wenn du mir nicht zuhörst.“ So bekommt er einen Einblick in meine Gefühlswelt und kann mir anschließend auch seine offenlegen. Ich bin sicher: Wenn das jeder tun würde, wäre unsere Welt ein friedvollerer Ort.

Dass ihre Enkelin so weltoffen ist, liege an der freien Erziehung durch ihre Eltern, sagt Großmutter Helga Huber. Und was meint Katrin Oberrauner selbst dazu? „Sie haben definitiv dazu beigetragen. Als ich beschloss, Anthropologie zu studieren, war meine Mutter, die als Sekretärin bei einem steirischen Energiekonzern arbeitet, sofort angetan. Mein Vater wiederum war entsetzt über die Wahl dieses ‚Orchideen-Studiums‘. Inzwischen begeistert aber auch er sich für die Wissenschaft vom Menschen und seiner Entwicklung und ist sehr offen dafür, Dinge neu zu denken. Früher war er Tourismuschef und politisch aktiv. Mit über 50 machte er sich selbstständig und rief nachhaltige Energieprojekte ins Leben.“

Petra KlikovitsPetra Klikovits

In ihrer monatlichen Onlinekolumne „Meine wunderbare Tochter“ führt Petra Klikovits bewegende Gespräche mit Töchtern, Schwiegertöchtern, Enkeltöchtern, Stieftöchtern, Adoptivtöchtern, Pflegetöchtern, Patchwork-Töchtern und anderen Bonustöchtern von Leserinnen, die auf diese via [email protected] aufmerksam machen. Mehr von Petra Klikovits lesen Sie jeden Monat in  Welt der Frauen.

Fotos: privat

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  • Veröffentlicht: 04.06.2021
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