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04-05/24

Ich will berühren

Die Amerikanerin Andrea Bruce fotografiert seit 18 Jahren in den Krisenregionen der Welt. Ihre Bilder sieht sie als Brücken zwischen den Kulturen.

„Ich habe oft das Gefühl, ich muss die Leute überlisten, damit sie der Welt Aufmerksamkeit schenken. Meine Werkzeuge dazu sind die Schönheit, das Licht, die Komposition“, sagt Andrea Bruce. Manchmal gelingt es ihr, handfeste Ergebnisse zu erzielen, wie etwa im Winter 2012 mit dem Bild eines erfrorenen afghanischen Babys. Drei Jahre lang hatte Bruce in den Lagern am Stadtrand der afghanischen Hauptstadt Kabul fotografiert. Dorthin waren Zehntausende vor dem Terror der Taliban geflohen. Das Bild des Babys erinnerte an die Krippenszene von Betlehem und erschien kurz nach Weihnachten auf der Titelseite der „New York Times“. Es löste eine Welle von Reaktionen aus: Das US-Militär, Hilfsorganisationen und sogar die afghanische Regierung brachten Lebensmittel, warme Kleidung und Heizöl in die Lager. Abgesehen von solchen seltenen, direkt wirksamen Erfolgen sieht Bruce ihre Arbeit als schrittweises Weiterkommen in Richtung Mitgefühl und als Weg aus dem Chaos. Während die reichen Staaten Flüchtlinge zurückweisen, will sie Bewusstsein schaffen für das Leid in Konfliktgebieten.

KEIN LAND FÜR FRAUEN
Findet Andrea Bruce es vertretbar, in Europa Asyl suchende Frauen nach Afghanistan zurückzuschicken? „Nein, für Frauen ist es besonders schwer“, antwortet die Fotografin. „Nicht nur wegen der Kultur, sondern auch wegen des mangelhaften Gesundheitssystems.“ Es gebe nur drei Geburtskliniken in dem großen Land. Bei Problemen in der Schwangerschaft brauche eine Frau die Erlaubnis des Ehemannes, damit sie ärztliche Versorgung erhält. Die Anreise verzögere sich auch an den Checkpoints, und man könne nur am Tag unterwegs sein, in der Nacht sei es zu gefährlich. „Ich fotografierte diese Geschichte über die hohe Müttersterblichkeit in Afghanistan. Das war das Schlimmste, was ich je gesehen habe – und ich habe viel gesehen! Schwangere kommen oft viel zu spät zu den Ärzten, wegen der Dis­tanzen und Hindernisse; sie sterben und ihre Babys sterben in riesiger Zahl. Frauen machen Unglaubliches durch in diesem Land. Ich muss sagen, die Afghanen sind eins der gastfreundlichsten Völker, die mir je begegnet sind, freundlich und hart arbeitend, aber sie stecken mitten in einer Gewaltorgie. Sie sind in einer verzweifelten Lage, haben ihre Häuser verloren, wissen nicht wohin.“

SCHEITERN IM SPERRGEBIET
Wie stellt man sich eine Kriegsreporterin vor? Bestimmt anders als Andrea Bruce. Mit weichen, fröhlichen Augen schaut sie auf ihre Umgebung und wirkt weder verhärtet noch kühl. Aus einem „Gefühl des Scheiterns heraus“, wie sie sagt, blieb sie immer wieder in Gegenden der Erde, die andere als Sperrgebiet betrachten. Ein Gefühl des Scheiterns? „Es ist mir einfach nicht gelungen, die AmerikanerInnen dazu zu bringen, darauf zu achten, was im Irak passiert“, beschreibt Bruce die Dringlichkeit ihrer Aufgabe. „Es brauchte noch mehr ehrliche Bilder von dort, die man zeigen musste!“ So lieferte sie diese Fotos. Sieben Jahre lang arbeitete sie im Irak, sie verbrachte jeweils drei Monate im Land, reiste dann für ein paar Wochen aus, einerseits um ein neues Visum beantragen zu können, andererseits um ihr Material und ihre Gefühle aufzuarbeiten. Ihre Einsätze im Land absolvierte die Fotografin teils auf eigene Faust, teils unterstützt von einheimischen Vertrauensleuten. Manchmal war sie auch mit US-amerikanischen Landsleuten unterwegs. Ihre wöchentliche Kolumne „­Unseen Iraq“ („unbekannter Irak“) in der „Washington Post“ dokumentierte neben dem Blutvergießen und den Traumata des Krieges stets auch den Alltag im Krieg: einen Fischer, der sich im Gegenlicht des Morgens wäscht, die Freude über ein Wiedersehen, den Müll in den Straßen, einen Schönheitswettbewerb, einen Wüstensturm.

NÄHE ZUM LEID
Im Irak suchte die Fotografin zudem eine Geschichte, in die sie sich „vertiefen“ wollte. „Ich brauchte einen Menschen, den ich auf etwas längere Sicht kennenlernen durfte,“ erzählt sie. Wissend, dass es in jedem Kriegsgebiet Prostitution gibt, war sie neugierig, wie eine Betroffene ihre Lebenssituation beschreiben würde. Nach langer Suche fand Bruce eine Frau, die einverstanden war mit der Zusammenarbeit. Halla hatte ihren Ehemann, den Vater ihrer beiden Söhne, durch einen Kopfschuss verloren, als der Krieg ­Bagdad heimsuchte. Betteln oder Prostitution waren ihre einzigen Optionen. „Halla ist wirklich schlau und meistens hart im Nehmen. Dann sieht man sie so wie auf dem Foto mit ihren Kindern und erkennt, warum sie das alles auf sich nimmt: Sie will das Überleben sichern. Wir wurden beste Freundinnen, ich war oft mit ihr unterwegs. Auch in ihrer Wohnung, wenn Freier kamen. So entstanden die Bilder.“

EINEN BEITRAG LEISTEN
Wie wird Andrea Bruce mit den grässlichen Eindrücken, die Teil ihrer Arbeit sind, fertig? „Ich weine viel“, sagt die Fotografin. Wenn sie in Kriegsgebiete kommt, sucht sie sich gern Zugang zu einer Dachterrasse, um zu fotografieren oder Kaffee zu trinken. Dort schließt sie dann für eine Weile die Augen. Bruce stellt sich dann vor, wie sie die Szenerie von oben, vom Himmel aus betrachtet. „Ich sehe mich selbst auf diesem Haus, sehe meinen Platz in dieser Stadt, bin ein winziger Punkt. Hier bin ich jetzt, als Teil dieser Welt, zu der ich gehöre.“ Andrea Bruce findet, jeder und jede sollte die Möglichkeiten nutzen: „Wir müssen einfach tun, was wir tun können, wir müssen aufmerksam bleiben, müssen Fragen stellen, manchmal reicht das schon aus. So bleibe ich irgendwie auch optimistisch, wissend, dass ich wenigstens meinen kleinen Beitrag leiste.“

Zanabad – „Der Hügel, den Frauen bauten“ – ist ein illegaler Zufluchtsort für afghanische Witwen. Hunderte Frauen wohnen dort mit ihren Kindern, denn ohne Ehemann lebt es sich schwer in dem männerdominierten Land. Die Gemeinschaft auf dem Hügel im Osten Kabuls organisiert sich selbst. Die Witwen halten zusammen, die Armut ist groß.

Die Irakerin Isra Saadi (22) spielt Tuba. Inspiriert vom Vater, der im Nationalorchester mitwirkt, wollte Isra Saadi auch unbedingt Musik machen. Zur Überraschung aller wählte sie dieses riesige Instrument, das als maskulin besetzt gilt. Isra Saadi sagt: „Ich beweise mit meiner Musik, dass es keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen gibt.“

Für dieses Bild, das bei einem Begräbnis in der syrischen Provinz Latakia entstanden war, erhielt Andrea Bruce 2014 den 2. Preis des „World Press Photo“-Awardes in der Kategorie „Daily Life“. Es zeigt Mutter und Bruder eines im Krieg gefallenen Soldaten. Abu Layth war der erste junge Mann dieses Dorfes, der im Krieg sein Leben verlor.

Halla verlor ihren Ehemann in den Kriegswirren rund um Bagdad. Prostitution war für sie der einzige Weg, ihre Söhne ernähren zu können.

Iaad Hammeed (4, Bild rechts) küsst seine Mutter. Oft sagte Halla zu ihrer Freundin, der Fotografin: „Wenn es nicht für meine Kinder wäre, würde ich mein Leben beenden.“

Zur Person Andrea Bruce

Die US-amerikanische Dokumentarfotografin Andrea Bruce (44) berichtet seit 18 Jahren aus den Krisengebieten der Welt. Als Expertin war sie zu Gast beim „SURPRISE FACTORS“-Symposion 2017 der „Academia Superior“ am Traunsee. Dort traf „Welt der Frauen“- Fotoredakteurin Alexandra Grill die preisgekrönte Kollegin zu einem Gespräch über deren Schaffen. Andrea Bruce ist Mitglied der Fotoagentur NOOR. Derzeit arbeitet Bruce an einem multimedialen Projekt, das zeigt, wie Demokratie in den USA verstanden und gelebt wird.  www.noorimages.com

Foto: Alexandra Grill

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  • Veröffentlicht: 25.01.2018
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