Aktuelle
Ausgabe:
Familie
11/12/24

Die Höflichkeit wiederentdecken

Die Höflichkeit wiederentdecken

Der deutsche Publizist und Ethik-Experte Rainer Erlinger hat ein Buch über Höflichkeit geschrieben. Die alte Tugend sei heute in keinem guten Zustand, meint er.

Was ist das Wertvolle an der Höflichkeit?
Rainer Erlinger: Höflichkeit hat zunächst eine wichtige oberflächliche Funk­tion: Sie verringert die Reibung im Alltag und macht den Umgang miteinander angenehmer. Das ist umso wesentlicher, je enger man zusammenlebt; zum Beispiel in Städten, wo es eine Vielzahl von Reibungspunkten gibt.

Und worin liegt ihre tiefer gehende Funktion?
Höflichkeit vermindert gegenseitige Verletzungen. Ein Verhalten, in dem die Achtung vor dem Gegenüber zum Ausdruck kommt, ist eine gute Vorbeugung gegen Gewalt, der Geringachtung vorausgeht.

Was meinen Sie mit „Achtung“, ist das eine ganz prinzipielle Angelegenheit?
Ja, mit Achtung meine ich keine Hochachtung, die man sich verdienen muss und die man verlieren kann, sondern den Respekt gegenüber dem Menschen und das Anerkennen, dass der oder die andere genauso viel wert ist wie man selbst.

Hat Höflichkeit immer mit Zurückhaltung zu tun?
Mit Zurückhaltung im Sinne von sich zurücknehmen: ja. Das bedeutet aber nicht, dass man seine Bedürfnisse hintanstellen und selbst zu kurz kommen muss. Höflichkeit ist eine Umgangstugend. Es geht nicht um den Inhalt. Höflich zu sein bedeutet nicht, auf seine eigene Position zu verzichten, sondern lediglich, sie in einer zivilisierten Form zu vertreten, die den anderen respektiert und nicht verletzt.

„Höflichkeit vermindert gegenseitige Verletzungen.“
Rainer Erlinger

Sie orten in Ihrem Buch „Höflichkeit. Vom Wert einer wertlosen Tugend“ ein Bedürfnis nach mehr Höflichkeit. Gleichzeitig wird allerorten der Mangel an Höflichkeit konstatiert. Ist das nicht ein seltsamer Widerspruch? 
Ich sehe darin keinen Widerspruch. Zum einen bemerkt man ein Bedürfnis meist erst dann, wenn an der begehrten Sache Mangel herrscht. Zum anderen hat das mit dem engeren Zusammenleben zu tun. Ein Einsiedler muss nicht oft höflich sein, zu wem auch? Ein Waldarbeiter trifft vielleicht fünf Menschen am Tag. Wenn man aber morgens mit der U-Bahn ins Büro fährt und in einer großen Firma arbeitet, hat man schon bis 10.00 Uhr am Vormittag ein paar Hundert Begegnungen gehabt – die virtuellen Begegnungen im Internet und den sozialen Netzwerken noch nicht mitgerechnet – und musste schon Dutzende von Kollisionen vermeiden oder ausbügeln. Und die Geschwindigkeit des modernen Lebens tut ein Übriges. Eine Umgangstugend wird mit zunehmendem Umgang und mehr Begegnungen immer wichtiger.

Aber stimmt es denn, dass es früher mehr Höflichkeit gab? Ist dieses häufige Lamento nicht eher Ausdruck von individuellem Unwohlsein oder hat sich wirklich etwas verändert?
Ich fürchte, dass wir tatsächlich einen Verlust an Höflichkeit im Sinne einer Verrohung beobachten müssen. Teilweise geschieht dies durch ein Übergreifen des verrohten Umgangstons im Internet auf das reale Leben. Teilweise liegt es aber auch an der Beschleunigung des Lebens, die gegenseitige Rücksichtnahme, ja teilweise schon die gegenseitige Wahrnehmung schwieriger macht. Achtung setzt Beachtung voraus, und schon an der mangelt es manchmal. Andererseits war die sogenannte „gute alte Zeit“ zwar zum Teil durch gute Umgangsformen gekennzeichnet, aber diese beinhalteten oft keine gegenseitige Achtung. Wenn man einen Bediensteten lediglich als Erfüller seiner Aufgaben wahrnahm oder Mitmenschen „erzte“, also mit „er“ ansprach: „Geh er zur Seite“, dann liegt darin nicht Achtung, sondern verächtliche Geringschätzung. Die Höflichkeit früherer Zeiten diente oft nur dazu, gesellschaftliche Hierarchien zu zementieren.

Wie groß ist der Anteil der sozialen Medien und des Internets am aktuellen Verfall der Höflichkeitsformen?
Sehr groß. Wie gesagt: Man kann ein Überschwappen des gnadenlosen Tons aus dem Internet auf das Alltagsleben beobachten. Insofern ist das Internet, bei dem man den anderen nicht sieht, sondern hemmungslos vor einem Bildschirm in eine Tastatur tippt, eine Art Trockenübung, bei der man lernt, die Umgangsformen zu vergessen und zu denken, dass es normal ist, andere Menschen anzupöbeln.

Derbheit und Lautstärke steigen mit der Frustration – die Höflichkeit bleibt auf der Strecke. Darf man daraus schließen, dass Höflichkeit jenen leichterfällt, die auf der Butterseite leben und grundsätzlich mit sich und ihrem Dasein zufrieden sind?
Die Höflichkeit hat den Vorteil, dass man den anderen nicht mögen muss, um ihn höflich zu behandeln. Höflichkeit ist nicht identisch mit Freundlichkeit, auch wenn sie oft zusammenfallen mögen. Auch wer mit seinem Leben unzufrieden ist, kann höflich sein. Man könnte sogar die Theorie wagen, dass man, wenn man zu anderen höflich ist, glücklicher wird. Ich halte das für plausibel, kann es aber nicht belegen. Zugestehen muss man allerdings, dass es vermutlich leichter ist, höflich zu sein, wenn man glücklich und gut situiert ist. Aber das trifft vermutlich auf die Moral wesentlich stärker zu als auf die Höflichkeit. Höflichkeit als Umgangstugend kostet wenig bis nichts. Sie ist auch im Bereich der Etikette standardisiert, sodass man ihre Anforderungen auch ohne große Probleme erfüllen kann, wenn einem gerade nicht danach ist, weil es einem schlecht geht.

Welchen Rat haben Sie für jene, denen Höflichkeit etwas bedeutet?
Selbst höflich zu sein, weil man das für richtig hält. Und wenn jemand unhöflich ist, es hinnehmen und sich seinen Teil denken. Über Unhöflichkeiten sollte man am besten höflich hinweggehen.

Und wie stärkt man den höflichen Umgang in der Arbeitswelt, wo man oft nicht die Möglichkeit hat, auszuweichen?
Ebenfalls: selbst höflich sein, notfalls betont in der Hoffnung, dass es Schule macht oder ein unhöflicher Mensch bemerkt, dass man ihm besonders höflich entgegenkommt. Und im Extremfall einen unhöflichen Menschen auch auf seine Unhöflichkeit aufmerksam machen und höflich, aber deutlich sagen, dass man sich das verbittet.

Rainer Erlinger

Jahrgang 1965, ist Mediziner, Jurist und Publizist, vor allem auf dem Gebiet der Ethik. In seiner wöchentlichen Kolumne „Die Gewissensfrage“ im Magazin der „Süddeutschen Zeitung“ beantwortet er Fragen von Leserinnen und Lesern zu großen und kleinen Ethikproblemen des Alltags. Zuletzt veröffentlichte er sein Buch „Höflichkeit. Vom Wert einer wertlosen Tugend“ und gab eine Auswahl der „Etikette-Plaudereien“ von Eustachius Graf Pilati von Thassul zu Daxberg heraus.

Rainer Erlinger: Höflichkeit. Vom Wert einer wertlosen Tugend. / S. Fischer Verlag / 20,60 Euro

Rainer Erlinger:
Höflichkeit. 
Vom Wert einer wertlosen Tugend.
S. Fischer Verlag
20,60 Euro

Erschienen in „Welt der Frau“ 02/2017 

  • Teile mit:
  • Veröffentlicht: 12.01.2021
  • Drucken