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04-05/24

Geprägt fürs Leben: Warum wir im Alter unseren Eltern immer mehr ähneln

Geprägt fürs Leben: Warum wir im Alter unseren Eltern immer mehr ähneln
Egal ob sie eine glückliche Kindheit hatten oder eine miserable: Die meisten Menschen wollen nicht so werden wie ihre Eltern. Sie wollen es besser machen. Doch die frühe Prägung lässt sich nicht einfach abschütteln.

Es kann eine kleine Handbewegung sein, die Art, die Wäsche zusammen­zulegen oder ein besonderer Satz, den man eigentlich nie sagen wollte und der einen spüren lässt: Ich mache es genauso wie meine Mutter oder mein Vater. Viele Menschen verlassen ihr Elternhaus nach der Schule mit dem mal sicheren, mal eher vagen Gefühl, dort nicht genügend Anerkennung und Wertschätzung bekommen zu haben. Genau deshalb will man es anders machen – nicht so werden wie die Eltern, nicht am Partner bzw. der Partnerin und den eigenen Kindern herumkritisieren, sticheln oder sie durch kaltes Schweigen in die Enge treiben. Verdrängt wird über lange Zeit, was nicht sein darf – die Kindheit wird wie eine Kiste fest verschlossen im Keller verstaut: Jetzt kann das richtige Leben beginnen! Häufig sind es dann die eigenen Kinder, die das sperrige Möbelstück voll mit Erinnerungen im Keller wieder öffnen und einen darauf stoßen, was eigentlich noch zu klären wäre, egal ob nur für sich selbst oder mit den leibhaftigen Personen: die Beziehungsgeschichte mit den eigenen Eltern.

Mutter mit Kind

Angeborenes Temperament

Die Säuglingsforschung hat klare Antworten darauf, wie Kinder auf die Welt kommen. Jerome Kagan, Harvard-Professor und Pionier der Entwicklungspsychologie, setzte in einem Experiment Babys im Alter von vier Monaten einer für sie unbekannten Situation aus. Knapp ein Fünftel seiner kleinen ProbandInnen reagierte spontan gehemmt, zurückhaltend und eher vorsichtig auf neue Personen. 40 Prozent erfreuten sich ohne Rückhalt am Neuen und lächelten spontan, während weitere 40 Prozent gemischte Reaktionen aufwiesen. Für Kagan steht fest: Kinder kommen mit einem gewissen Temperament auf die Welt und reagieren von Natur aus unterschiedlich auf Stress durch Trennung von ihrer primären Bezugsperson. Um das Ganze mit einem Vergleich zu sagen: Menschen werden eben nicht als Rohlinge geboren, sondern besitzen von ihrem ersten Atemzug an ein Wesen, das sich aus ihrer genetischen Veranlagung ergibt. Dieses kann dem Wesen der Eltern beziehungsweise dem eines Elternteiles sehr ähnlich sein, muss es jedoch nicht. Oft werden auch Generationen übersprungen. Wer kennt sie nicht, die Familienkonstellation, in der Enkel und Großvater sich viel ähnlicher sind als Vater und Sohn.
Die Psychotherapeutin Hermine Pokorny, 67, weiß viel zu erzählen über die angeborene Verschiedenartigkeit bereits der Kleinsten. Als Mutter von sechs Kindern hatte sie das Gefühl, „sechs komplett unterschiedlichen Typen“ in ihren zwei Söhnen und vier Töchtern zu begegnen. Von Anfang an wollte sie ihre Kinder ihrem Wesen und ihren Anlagen gemäß erziehen und fördern, hatte sie selbst doch eine gegenteilige Erfahrung gemacht. Gegen ihren Willen erlernte sie den Friseurberuf, machte die Meisterprüfung und arbeitete, bis die Kinder zur Welt kamen, im Friseursalon ihres Vaters. Aus dessen Sicht war es unverständlich, wie die einzige Tochter es ausschlagen konnte, das mühsam in den Nachkriegsjahren aufgebaute Geschäft zu übernehmen. Pokorny hat sich mittlerweile doch noch ihren Berufstraum erfüllt, mit 53 Jahren begann sie die Ausbildung zur Psychotherapeutin nach C. G. Jung.

Psychotherapeutin Hermine Pokorny

Psychotherapeutin Hermine Pokorny

Kinder passen sich an

Die Prägung durch die Eltern beginnt sehr früh. Bereits als Säuglinge passen sich Kinder an die ihnen Halt gebende erste Bezugsperson an. Im Idealfall erkennt die Mutter, was das Kind braucht, und nimmt es in seiner Einzigartigkeit wahr. Die Anpassung an seine Umwelt überfordert den Säugling so nicht, sondern lässt ihm den Freiraum, sich seinem Wesen und seinen Bedürfnissen gemäß zu entwickeln.
Doch „häufig passen Eltern und Kinder auch einfach nicht zusammen“, bringt Pokorny die Erfahrung ihrer langjährigen Praxis in der Familienberatungsstelle der Hilfe für Angehörige psychisch Erkrankter (HPE) auf den Punkt. Man stelle sich zum Beispiel vor, ein sehr sportliches Kind wird in eine eher musisch orientierte Familie hineingeboren. Das durch die Wohnung brausende kleine Kind kann rasch zur Zielscheibe von Kritik oder abwertenden Bemerkungen werden. Anstatt den Sohn oder die Tochter im Fußballklub anzumelden, stehen Klavierunterricht und Konzertbesuche auf dem Programm. Wäre dasselbe Kind in eine Sportlerfamilie hineingeboren worden, könnte es von Anfang an ganz selbstverständlich an den gemeinsamen Wanderungen und Skitouren teilnehmen. Die Eltern würden sein Geschick bemerken und seine Fortschritte mit Freude hervorheben: „Prima, das kannst du schon!“, lobt der Vater den ersten kleinen Schanzensprung der Tochter. Oder: „Gut machst du das!“, sagt die Mutter zum ersten Versuch ihres Sohnes, ohne Sturz im Pflug ein „Bogerl“ zu bewältigen.

Das Kind erlebt sich als wertvoll und angespornt, die eigenen Fähigkeiten auszubauen. Therapeutinnen wie Pokorny sprechen in diesem Fall davon, dass sich das Kind in seiner Selbstwirksamkeit erleben kann. Diese kann nur dann aufgebaut werden, wenn sein Verhalten positive Konsequenzen hat. Der logische Schluss daraus: Ein Kind, das entweder ständig vor die falschen oder vor zu schwierige Aufgaben gestellt wird, kann kein Gefühl von Selbstwirksamkeit entwickeln.

Abwertung macht krank

Pokorny weiß, was mit dem sportlichen Kind bei Geringschätzung seines Bewegungsdranges im schlimmsten Fall passieren kann: „Wird nicht gesehen, dass sich ein Kind einfach körperlich abarbeiten muss, wird schnell ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung) diagnostiziert.“ Anstatt auf Selbstwirksamkeit wird das Kind auf Misserfolg programmiert oder sogar früh in seinem Wesen pathologisiert. Doch auch unähnliche Eltern und Kinder müssen sich nicht Schaden zufügen – im Gegenteil, so Pokorny: „Das Schönste ist es doch, wenn wir sagen können: ,Wir schätzen uns in unserer Verschiedenartigkeit und lieben einander als die Menschen, die wir sind.‘“
Dass die Prägungen eines abwertenden Umfeldes im späteren Leben sogar krank machen können, weiß Silvia Dirnberger-Puchner, 48, systemische Therapeutin aus Enns, aus eigener Erfahrung. Im Alter von knapp 24 Jahren erkrankte die ehemalige Krankenschwester am Sharp-Syndrom, einer äußerst seltenen Autoimmunerkrankung, die zu rheumatischen Schüben führen kann. Ihr Sohn war noch nicht einmal vier Jahre alt, als für die damals Alleinerziehende ein Rollstuhl nötig wurde. Heute schreibt Dirnberger-Puchner die Erkrankung ihrer damaligen „Kontrollüberzeugung“ zu, sich nicht selbst helfen zu können. „Wenn die Schulmedizin nichts mehr tun kann für mich, bin ich verloren“, bringt sie ihr früheres „Schwarz-Weiß-Denken“ auf den Punkt. Die Krankheit führte letztlich zu einem Umdenken: „In der Therapie wurde mir klar, wie schlecht ich immer mit mir selbst umgegangen bin, wie wenig ich eigentlich wirklich wusste, wer ich bin“, sagt Silvia Dirnberger-Puchner, die heute vollständig geheilt ist.

Silvia Dirnberger-Puchner, systemische Therapeutin

Silvia Dirnberger-Puchner, systemische Therapeutin

Werde, die du bist!

„Werde, der du bist“, postulierte bereits C. G. Jung als die Hauptaufgabe des Menschen. Gemeint ist der schrittweise Prozess, immer mehr mit dem eigenen Wesen in Deckung zu kommen und schädliche Anpassungen, wie jene des „Ausgeliefertseins an die Umstände“ zu überwinden. Was Jung als „Individuation“ bezeichnet, nennt Dirnberger-Puchner in ihrem Buch das „Erwachsenwerden“ und stellt auch gleich die provokante Frage: „Und wie erwachsen sind Sie eigentlich?“ Erwachsenwerden und sich der eigenen Prägungen bewusst sein sei nämlich kein automatischer Vorgang, schreibt die Autorin – im Gegenteil, häufig brauche es massive gesundheitliche oder andere Probleme, um diese zu triggern.
Dirnberger-Puchner hat die Krise am eigenen Leib erfahren und auch wie hart es ist, sich nicht mehr hinter Vertrautem zu verstecken. Hineingeboren in eine Koglerauer Arbeiterfamilie, wurde ihr von klein auf suggeriert, dass jegliche höhere Ausbildung nur sinnlose Zeitverschwendung sei. „Dabei war ich mein Leben lang so neugierig“, sagt die Therapeutin. Wenn sie zu Hause davon erzählte, dass sie studieren wolle, sagte man ihr, sie solle nicht größenwahnsinnig werden. „Ich lerne so schwer“, davon war sie lange selbst überzeugt und begann vorerst als Putzhilfe in einem Linzer Spital zu arbeiten. In ihrer zweiten Laufbahn als Therapeutin hat sie genau dem Aspekt der kindlichen Prägungen ein Buch gewidmet. In „Werden wir wie unsere Eltern?“ beschreibt sie die unglücklichen Zusammenstöße zwischen Eltern und Kindern, die sich in Form von Mustern immer wieder abspielen und nachhaltige Prägungen hervorrufen können – und das in jedem Lebensbereich, egal ob es um den „Ausdruck von Gefühlen, den Umgang mit Ordnung und Chaos, Leistung oder Geld“ gehe. Kinder würden die oft unbewussten Glaubenssätze ganz automatisch übernehmen. Wer noch nichts anderes kennt, hält die Ansichten der eigenen Eltern klarerweise für unfehlbar.

Beginn der neuen Geschichte

„Umdenken“, „Sich bewusst für Veränderung entscheiden“ und „Immer wieder üben“ lauten deshalb auch die Maximen von Silvia Dirnberger-Puchner. Dagegen ist Hermine Pokorny etwas vorsichtiger in ihren Aussagen und fügt hinzu: „Die Reflexion destruktiver Beziehungs- und Verhaltensmuster stellt sicher den ersten wichtigen Schritt dar, danach geht es aber darum: Kann ich vertrautes Gelände verlassen, wenn das Neue noch nicht sichtbar ist? Veränderung ist immer angstbesetzt und erfordert einiges an Mut. Eine wohlwollende, verlässliche therapeutische Begleitung kann den Prozess wesentlich unterstützen“, ist sie überzeugt. In der Therapie werde nicht einfach die frühe Kindheit wiederholt und repariert. Es gehe vielmehr darum, eine neue Beziehungserfahrung zu machen mit einem Menschen, der alle Gefühlsäußerungen ernst nimmt und sie nicht bewertet. Nur wenn es gelingt, die eigene Emotionsgeschichte fortzuschreiben und diese Art der Beziehungserfahrung zu machen, wird es auch möglich sein, in Zukunft mit sich und seinen Eltern versöhnlich umzugehen. Eine neue, gönnende Lebenshaltung, die vor allem auf Freude aufbaut, kann sich einstellen.

 

Erschienen in „Welt der Frau“ Ausgabe 11/14 – von Dagmar Weidinger

 

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  • Veröffentlicht: 20.08.2021
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