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04-05/24

Eine Linde erzählt

Eine Linde erzählt

Ihr Holz ist begehrt, ihre Blüten ergeben den schönsten Tee und sie wächst gern an Plätzen der Geselligkeit: Gedanken einer Linde.

Wo ich wachse, lässt es sich auch für Menschen gut leben. Denn die Luft, in der ich mich wohlfühle, muss sauber sein. Ist sie das nicht, reagiere ich empfindlich. Doch wenn es mir an einem Ort gefällt, ist das mit Sicherheit ein guter Ort, und man kann sich getrost im Schatten meiner runden, ausladenden Krone niederlassen. So kommt es wahrscheinlich auch, dass ich seit jeher zu den Artgenossen gehöre, die verlässlich als Hof- und Dorfbäume Dienst tun. Ich wachse sehr gern an solchen Plätzen der Geselligkeit. Unter mir wird getanzt und geplaudert, zusammengesessen und sogar Recht gesprochen. Früher war’s zumindest so mit dem Recht-Sprechen.

Kein Wunder, denn alles an mir ist weich und „lind“: meine rundlichen hellgrünen Blätter, die mit flauschigen Härchen besetzt sind. Auch mein biegsames Holz ist weich. Als „lignum sacrum“, heiliges Holz, ist es in der Geschichte der Holzbildhauerei bekannt. Die meisten Heiligenstatuen, sakralen Dekorelemente und Altäre wurden daraus hergestellt, weil es eine so feine, ebenmäßige Struktur besitzt und sich so wunderbar schnitzen und bearbeiten lässt. Weich und lind ist vor allem auch der Duft meiner Blüten. Im phänologischen Kalender läutet meine Blütezeit Ende Mai, Anfang Juni den Beginn des Hochsommers ein.

Doch ich muss etwas klarstellen, bevor ich weitererzähle: In den heimischen Wäldern, Gärten und Parks komme ich nämlich in zweierlei Arten vor: als Sommerlinde und als Winterlinde. Fragt mich nicht, wieso ich diese beiden Namen bekommen habe. Logisch ist das nicht, denn unsere Blütezeiten liegen kaum ein paar Wochen auseinander. Jedenfalls markiert die Sommerlindenblüte, wie schon erwähnt, den Hochsommeranfang, die der Winterlinde im Juli den Zenit des Sommers. Es handelt sich um eine freudige Zeit, denn ich hülle meine Umgebung dann bei Tag und Nacht in schwindelerregende, honigsüße Duftwolken. Es brummt und summt in meinem Geäst, weil Nachtfalter und andere Insekten mich besuchen kommen, um sich am Nektar meiner Blüten zu laben. Ganz besonders lieben mich auch Bienen. Nicht nur sie schauen vorbei: Menschen pilgern in Scharen zu mir und pflücken meine zierlichen, blassgelben Blüten mit den feinen Staubgefäßen. Ich gebe sie ihnen gern. Sie machen, höre ich, Tee daraus, der kalt getrunken eine herrliche Erfrischung an warmen Tagen ist. Als Heißgetränk, sagen sie, treibt er ihnen den Schweiß aus den Poren und bringt Erleichterung, wenn sie verkühlt sind. Das freut mich.

„Unter meinem Laubkleid drehen sich Paare zur Musik.“

Oft besungen und umtanzt

Vor allem aber versammeln sich vom Frühjahr bis zum Herbst Leute unter meiner Krone. Sie sagen, der Schatten, den ich werfe, sei ganz besonders angenehm. „Wo wir uns finden/ wohl unter Linden/ zur Abendzeit …“, höre ich sie dann singen. Früher war das öfter der Fall. Wird heute weniger gesungen?

Ich kann ja 40 Meter hoch werden und es auf einen Stammumfang von bis zu drei Metern bringen. Ehemals zog man vielerorts meine unteren Äste so heran, dass sie waagrecht standen, und baute aus Brettern mitten hinein einen Tanzboden. Auf diese Weise werde ich zur Tanzlinde und unter meinem Laubkleid drehen sich Paare zur Musik. Rund um mich werden Bänke und Tische aufgestellt. Es wird gegessen und gelacht. Ich mag diese geselligen Tage, an denen so reger Betrieb um mich herrscht, wenn ich auch zugebe, es nicht zu genießen, wenn dann Verliebte meiner grauen Rinde mit Taschenmessern zu Leibe rücken, um Herzen mit ihren Initialen hineinzuritzen. Ja, ja, ich weiß, sie tun’s, weil meine Blätter Herzform haben, und sie glauben, es brächte ihnen Glück. Aber muss das sein? Doch es ärgert mich ohnehin nur kurz: Was sollte es mich auch stören? Ich sehe so vieles kommen und gehen. Ich werde ja bis zu 1.000 Jahre alt. „300 Jahre kommt sie, 300 Jahre steht sie, 300 Jahre vergeht sie“, sagen die Menschen über mich.

Mich bringt nichts so leicht aus der Ruhe. Aus dem Gleichgewicht schon gar nicht: Ich habe ja mein tiefgreifendes Herzwurzelsystem mit seinen vielen Feinwürzelchen. Über sie versorge ich mich mit allem, was ich an Nahrung brauche, und im Frühling ziehe ich mir literweise Wasser aus dem Boden und lasse meine runden Blattknospen groß und prall werden, bis ich sie im April öffne und der Farbpalette des Frühlings mein helles Blattgrün hinzufüge. Es stimmt schon: Ich habe eine andere Zeitrechnung. Wer mich in seinen Garten setzt, sollte wissen, dass ich ihn um Generationen überleben werde. Also gebt mir einen guten Platz, an dem ich bleiben kann! Ich mag übrigens helle, sonnige Standorte und gut durchlässige Erde. Wenn ihr mich im Herbst kurz vorm Frost pflanzt, wachse ich am besten an. Mein Laub habe ich dann schon abgeworfen. Doch vorher veranstalte ich in meinem Herbstkleid gern noch ein leuchtend gelbes Feuerwerk. Gemeinsam mit Ahorn, Buche und Eiche leuchte ich ein paar kurze prächtige Tage lang um die Wette.

Von Linz bis zur Lindenstraße

Ich habe viel gesehen und überstanden: Gewitter und Stürme, Dutzende Wechsel der Jahreszeiten, eisige Winter und sanfte Frühjahrstage voller Vogelgezwitscher, zahllose herrliche Herbsttage und heiße Sommernächte. Ich bin so dauerhaft, dass die Menschen seit jeher Orte, Flure und sogar sich selbst nach mir benennen. Mein Name versteckt sich in Linz, Lindau und Leipzig ebenso wie in den Familiennamen Lindner oder Lindquist. Ganz zu schweigen von Bezeichnungen wie Lindenwirt oder Lindenstraße. Aber keine Sorge: Ich stelle meinen Namen freudig zur Verfügung. Gern geschehen! Dafür werde ich umso öfter besungen. „Am Brunnen vor dem Tore, da steht ein Lindenbaum …“ Das habe ich schon Hunderte Male gehört! Übrigens: Ich besitze auch einen lateinischen Namen – Tilia. Man sagt, er könnte vom griechischen Wort „tilos“ für Faser abstammen, weil meine Rinde so reich an Bastfasern ist, aus denen man beste Schnüre und Seile herstellen kann. Mit einem Wort: Haltet euch an mich!

Dieser Artikel ist in der „Welt der Frauen“ Juni-Ausgabe „Gärten des Glücks“ erschienen. Erhältlich als Einzelheft in unserem Shop, zum Testabo geht es hier.

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  • Veröffentlicht: 18.08.2022
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