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Dürfen Kinder arbeiten?

Dürfen Kinder arbeiten?

Alle kennen sie von Reisen in Länder des Südens: Kinder, die arbeiten. Soll man sie lassen, davor schützen oder einfach pragmatisch Regelungen für Kinderarbeit suchen? In Lateinamerika formieren Kinder sich selbst, um für ihre Rechte zu kämpfen.

Die Aussicht ist schön in den nordperuanischen Anden. Man sieht weit in die Berglandschaft hinein, in die Täler und zu den Häusern von Cajamarca, der Provinzhauptstadt. Wendet man den Blick in die nahe Umgebung, sieht man Schotterstraßen mit tiefen Löchern. Staub legt sich über Sträucher, Wellblechhütten und Menschen, die hier arbeiten. Es sind vor allem Kinder, die Sand vom Berg lösen und ihn dann sieben. Micaela und Andrea haben, seit sie sieben Jahre alt waren, in einer Lehmgrube gearbeitet: trockene Lehmziegel getragen oder Sand geschaufelt, eine körperlich anstrengende Arbeit. Gemeinsam verdienen sie an einem Sonntag 5,00 Sol, etwa 1,50 Euro. Mit dem Verdienst konnten sie die Schulkleidung und Unterrichtsmaterialien bezahlen, für die ihre Eltern kein Geld hatten – denn in die Schule gehen wollten sie unbedingt. Seit Kurzem sind die inzwischen 18-jährigen Schwestern im Programm einer Kinderrechtsorganisation untergekommen und arbeiten nur noch wenige Stunden pro Woche, um sich Taschengeld dazuzuverdienen. „Die Arbeit ist schwer“, erzählt Andrea. „Aber es ist ein gutes Gefühl, die Familie zu entlasten.“ Kinder leiden oft unter schwerer körperlicher Arbeit und müssen zu lange arbeiten oder mit gefährlichen Substanzen hantieren. Der Grund: Es gibt keine Kontrollen. Dazu kommt, dass viele Kinder und Jugendliche für staatliche Organe „nicht fassbar“ sind: Sie passen zu Hause auf ihre jüngeren Geschwister auf, begleiten ihre Eltern tagsüber auf den Markt, um zu helfen, oder arbeiten in Betrieben von Verwandten mit. Offiziell „helfen“ sie dann nur „aus“.

EIN VERBOT LÖST NICHTS
Kinder ernten Kakao auf Plantagen, schuften in Minen, verkaufen Getränke zwischen stinkenden Autokolonnen. Gerade diese Kinder und Jugendlichen schließen sich aber auch weltweit zu Organisationen zusammen. Sie fordern, arbeiten zu dürfen. Sie wollen legal Geld verdienen, um ihre Familien zu unterstützen, keine schwere oder gefährliche Arbeit ausführen, Zeit für die Schule haben, gerechten Lohn erhalten. Die mit 16.000 Mitgliedern aktuell stärkste Organisation arbeitender Kinder, MANTHOC, formierte sich schon Ende der 1970er-Jahre in Peru, unter anderem aus der Gruppe der „Kinder der christlichen Arbeiter“. NATRAS ist die nationale Organisation der arbeitenden Kinder und Jugendlichen in Nicaragua, ­UNATSBO heißt sie in Bolivien. Präsident Evo Morales, der selbst als Kind arbeiten musste, hat Verständnis für die Forderungen. Seit 2014 dürfen bolivianische Kinder ab dem zehnten Lebensjahr einer leichten selbstständigen Arbeit „im familiären und sozialen Rahmen“ nachgehen und ab dem zwölften Lebensjahr für Erwachsene arbeiten. Schwere oder gefährliche Arbeit ist verboten, also zum Beispiel in den Minen, auf Zuckerrohrplantagen oder in Nachtklubs. Die internationale Arbeitsorganisation ILO (International Labour Organisation) kritisiert, dass Bolivien, das wie auch die meisten Staaten weltweit, Abkommen gegen Kinderarbeit unterzeichnet hat, gleichzeitig gegen die ILO-Richtlinien zum Mindestalter für Kinderarbeit verstößt. Sie fordert, dass Kinder erst mit 13 Jahren leichte Arbeiten annehmen dürfen (mit zwölf Jahren in Entwicklungsländern) und allgemeine Arbeiten mit 15 (beziehungsweise 14) Jahren. Kein Kind unter 18 darf gefährliche Arbeit leisten, also zum Beispiel in Minen arbeiten.

LEGALE ARBEIT FÜR KINDER
„Wir in Europa wünschen uns, dass Kinder unbeschwert aufwachsen, eine Schulausbildung erhalten und nur dann arbeiten, wenn sie es möchten. Dass Kinder ein Recht auf Arbeit einfordern, erscheint vielen befremdlich“, sagt Georg Wimmer. Er ist Journalist und Autor des Buches „Kinderarbeit – ein Tabu. Mythen, Fakten, Perspektiven“. Der Salzburger hat viel Zeit in Südamerika verbracht und mit arbeitenden Kindern gesprochen. Anfangs war er überrascht von den Wünschen der Kinder. Inzwischen teilt er ihre Standpunkte. Das Arbeiten zu verbieten und damit den Lebensunterhalt zu gefährden, sei sinnlos und gefährlich. Geld verdienen müssten die Kinder aus existenziellen Gründen trotzdem. Kinder, die arbeiten, benötigten vielmehr Schutz von Staat, Gewerkschaften oder NGOs. „Die Forderungen der Kinderorganisationen laufen darauf hinaus, zu legalisieren, was bereits Realität ist. Zusätzlich verlangen diese Organisationen bessere Arbeitsbedingungen und eine Rechtsvertretung“, zeigt sich Georg Wimmer solidarisch mit den arbeitenden Kindern.

Ein Projekt für arbeitende Kinder in Peru:

Backen für die Zukunft

Mit einigen Projekten in der peruanischen Hauptstadt Lima werden arbeitende Kinder unterstützt, etwa mit Nachhilfe, Finanzierung von Schulgeldern oder Aufklärung der Eltern über den Wert der Bildung. Mit dem Projekt „PROMINATs“, das zum Kindernothilfepartner „Ifejant“ gehört, hat man ein vielversprechendes Schulprojekt in einem Armenviertel Limas aufgezogen. Mädchen und Buben erlernen neben der Schule das Backhandwerk. Für viele kann das einen späteren Einstieg ins Berufsleben als Selbstständige bedeuten. Die Kinder arbeiten hier unter der Woche fast täglich von 14.00 bis 17.00 Uhr. Das macht Spaß, es bleibt genug Zeit für die Schule, und die Leckereien werden am Schulkiosk verkauft. Zwischen Kneten, Schneeschlagen und Backen errechnen sie, mit welchem Budget sie zurechtkommen müssen – und was am Ende netto für sie übrig bleibt. Die Jahreseinnahmen von 40 Sol (das sind rund 11,00 Euro) geben die meisten für Schulutensilien aus, manchmal kaufen sich die Kinder auch Gewand, Schuhe oder Spielzeug davon. Ein Bub wurde vom Vater aus dem Projekt genommen, weil er dort zu wenig Geld verdiente. Seither muss der Zwölfjährige wieder zwischen den Autoschlangen in der Verkehrshölle von Lima Waren verkaufen.

Foto: Ute Maurnböck-Mosser

Ein peruanisches Mädchen mit Plänen:

Melissas Geschichte

Seit Melissa 6 Jahre alt war, arbeitete sie mit ihrer Mutter auf der Straße. Ihr Tag fing um 5.00 Uhr an, dann begannen Mutter und Tochter Altglas zu sammeln. Auch nach der Schule ging Melissa wieder auf die Straße und sammelte Flaschen. An Hausübungen oder Freizeit war nicht zu denken. Weil sie so müde war, musste sie die dritte Klasse Volksschule wiederholen. Damals traf sie beim Flaschensammeln Antonieta, eine Mitarbeiterin der Organisation IINCAP. Die Organisation bezahlte die Schulgebühren und Geld für Unterrichtsmaterial und gab Kindern mit Förderbedarf Nachhilfeunterricht. Gerade hat die inzwischen 19-Jährige eine pharmazeutische Ausbildung abgeschlossen, in ein paar Jahren möchte sie ein eigenes Geschäft aufmachen. Auf die Frage nach ihren Zukunftsplänen antwortet Melissa: „Ich will den Laden aufmachen, damit ich anderen benachteiligten Jugendlichen eine Anstellung und damit die Chance auf ein normales Leben geben kann.“

Mehr zum Thema finden Sie in der Printausgabe.

Erschienen in „Welt der Frau“ 11/17

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  • Veröffentlicht: 01.12.2017
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