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Die Kraft der Ahninnen

Die Kraft der Ahninnen

Wer sich auf die Reise nach den eigenen Vorfahren macht, findet möglicherweise zuerst eines: viele -Männer! Familienforscherinnen erzählen, wann und unter welchen Umständen sie auf ihre weiblichen Vorfahren stießen – und welche Folgen dies mitunter für sie hatte.

Wenn sich Barbara Junker zurücklehnt, spürt sie hinter sich ihre Ahninnen. „Seit ich angefangen habe, mich mit den Frauen in meiner Familiengeschichte zu befassen, hat sich mein Körpergefühl verändert“, sagt die 63-jährige Frau aus Kiel. Sie fühle sich „aufrecht und geschützt“, so fasst sie es zusammen. Barbara Junker ist pensionierte Physiotherapeutin und Mutter zweier Töchter. Wer sie sieht, hat das Gefühl, einer durch und durch bodenständigen Person gegenüberzustehen. Die Wechseljahre waren der Anstoß, dass sie vor über 20 Jahren eine Psychotherapie begann. „Wie kann ich kraftvoll und froh älter werden?“, beschreibt sie ihre damaligen Gedanken. Der Therapeut, zugleich Schamane, motivierte sie, sich mit den Frauen in ihrer Geschichte auseinanderzusetzen.

Egal ob der Auslöser eine Psychotherapie, das Versterben wichtiger Familienmitglieder oder einfach nur das Auffinden alter Fotos ist – mehr und mehr Menschen beschäftigen sich mit ihrer Familiengeschichte. Für viele wird das auch zum Weg zu sich selbst. In Ländern wie Frankreich, Großbritannien oder Schweden ist Familienforschung schon seit vielen Jahren eine populäre Internetaktivität, hat doch die Digitalisierung der wichtigsten Quellen, der Kirchenbücher, die Familienforschung zu einem Hobby gemacht, das man längst bequem und flexibel vom PC aus verfolgen kann. In Österreich fand der Sprung in die digitale Welt vergleichsweise spät statt. 1999 ging das St. Pöltener Diözesanarchiv mit seinen Geburts-, Sterbe- und Taufeinträgen, den sogenannten Matriken, als erstes Archiv online. Mittlerweile gibt es kaum ein kirchliches oder staatliches Archiv in Österreich, das nicht schon mitgezogen hätte. „Allein 2016 wurde über 200.000 Mal auf unsere digitalen Kirchenbücher zugegriffen“, sagt Cornelia Sulzbacher, Leiterin des Oberösterreichischen Landesarchivs.

KRIMINALGESCHICHTEN
Häufig steht zu Beginn ein bestimmtes Gefühl, dass da „etwas“ sein muss. „Am Beginn ist jede Familienforschung wie die Ausgrabung von Troja“, sagt der Berliner Psychotherapeut Wolfgang Krüger. In seinem Buch „Die Geheimnisse der Großeltern“ skizziert er seine eigene vierjährige Reise in die Vergangenheit der Familie. „Ich wollte zeigen, wie wichtig diese Art des Suchens ist, aber auch wie schwierig! Es war wie eine Art Kriminalgeschichte, denn mir ging es wie den meisten Familienforschern: Zuerst stoßen sie immer auf Schweigen. Wenn sie trotzdem weitergehen, merken sie, dass alle Familiengeschichten geschönt sind.“

In jeder Familie gibt es dominante Erzählstränge, Erfolgsgeschichten, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Häufig konzentrieren sich diese Erzählungen auf die männlichen Vorfahren – da weiß man, wenn einer Arzt war oder einen Bauernhof besaß. „Frauen kommen in den Erzählungen wesentlich seltener vor oder jeweils nur als ‚Frau von …‘“, sagt die Wiener Psychotherapeutin Ulrike Schiesser und fügt hinzu: „Da der Familienstolz zumeist ans Finanzielle, sprich an Beruf und Leistung, gekoppelt ist, sind wir geneigt, auf die von den Frauen eingebrachten Werte zu vergessen.“

Schiesser leitet regelmäßig Familienrekonstruktionen, ein Verfahren der Familientherapie, in denen ebenso die weiblichen Vorfahren auftauchen. „Auf einmal zeigt sich, dass auch Werte wie „sozial kompetent“, „herzlich“ oder das Schaffen einer guten Atmosphäre wichtig sind“, sagt sie.


Hinweis zu „Familienforschung im Netz“ und „Ein Leitfaden für Einsteiger“ im Heft.

„Warum schaute Großmutter so streng?“

Familienforschung kann auch für Kinder spannend und berührend werden und dabei zu Toleranz und Offenheit anstiften.

Mit 20 Jahren malte die in der Nähe von Bremen geborene Freya Rosan ihre erste Ahnentafel. Ihre Vorfahren waren masurische Landarbeiter, die der Krieg über die Grenze nach Preußen trieb – eine Geschichte, die Rosan von klein auf emotional berührte. „Wer den Schmerz des Krieges und die Ausgrenzung aus der eigenen Familiengeschichte kennt, wird sich anders verhalten im Hier und Jetzt“, ist Rosan überzeugt. Mittlerweile ist sie 65, pensionierte Lehrerin und aktiver als je zuvor. Als Mutter von drei Töchtern und Großmutter von drei Enkelkindern betreibt sie Familienforschung unter anderem aus gesellschaftspolitischen Gründen.Gemeinsam mit dem Genealogen Timo Kracke gründete sie vor drei Jahren die Website „familienforscher.info“, eine Plattform mit Tipps, wie Kinder jeden Alters an Genealogie herangeführt werden können. Rosan will an andere weitergeben, was schon ihre SchülerInnen im Sachunterricht lernten: Gemeinsam wurden Ahnentafeln gemalt, Fotos und Ereignisse aus der Familiengeschichte besprochen. „Kinder lieben die Geschichten ihrer Großeltern“, sagt Rosan und ist überzeugt davon, dass diese Neugier nicht früh genug gefördert werden kann. In der Gruppe wird dann überlegt: „Warum schaute die Großmutter so streng – wurde sie geschlagen? Und der Großvater, wo war er, als das Foto gemacht wurde? Was hat er im Krieg erlebt?“

BEWUSSTSEIN SCHAFFEN
„Wenn Kinder sehen, dass es immer schon Fluchtbewegungen gab – auch in ihrer eigenen Familie – werden sie über vieles, was uns heute passiert, anders denken“, sagt Rosan. Ihr geht es um Offenheit und Toleranz: Vielleicht war ja auch die Familie der Großmutter bereits eine „Patchworkfamilie“, ohne dass es jemals so genannt worden wäre, oder der Großvater ein Migrant? Was auch immer in der Vergangenheit auftaucht – eines ist für Rosan klar: „Diese Art des Berührtseins von Geschichte kann kein Unterricht später mehr bewerkstelligen!“

Freya Rosan führt mit der Online-Plattform „familienforscher.info
Kinder an das Thema heran. 

Der Kern, der weiterlebt

Der Berliner Psychotherapeut Wolfgang Krüger hat vier Jahre Familienforschung hinter sich. Ergebnis ist das Buch „Die Geheimnisse der Großeltern“ – ein spannender Erfahrungsbericht.

Warum macht es Sinn, ­Familienforschung zu betreiben?
Wolfgang Krüger: Die Familienforschung kann enorm dazu beitragen, das eigene Leben zu verstehen. Ich merke in den Therapien, dass ich die Menschen erst begreife, wenn ich die Großeltern kenne. Ansonsten bleiben immer so viele Geheimnisse zurück, Situationen, in denen man überhaupt nicht versteht, warum jemand so handelt. Ich hatte zum Beispiel eine Patientin, die mir erzählte, in ihrer Familie hätte es immer den Spruch gegeben: „Man kann ja nichts tun.“ Und nach diesem Motto lebte sie auch. Also begann sie nachzuforschen und stellte fest, dass ihre Großeltern, die sie nicht kannte, vor dem Krieg vier Söhne hatten. Drei von ihnen wurden vor Stalingrad erschossen, der vierte Sohn, der die Gastwirtschaft weiterführen sollte, kam bei einem Verkehrsunfall ums Leben; all dies geschah innerhalb weniger Monate. Die Großeltern saßen dann nur noch vor der Gastwirtschaft und sagten: „Man kann ja nichts tun.“ Die beiden waren nahe daran, von diesen Schicksalsschlägen verrückt zu werden. Diese Familienerkenntnis, das Wissen, aus welcher Notsituation dieser Spruch entstanden war, war lebenswichtig für meine Patientin. Nur so konnte sie sehen, dass der Spruch heute nicht mehr gilt, dass sie ihn auflösen und Dinge anders machen kann. Solche Familienüberzeugungen haben eine unglaubliche Wucht und fühlen sich für uns an wie die Zehn Gebote.

Bringt die Bewusstmachung schon die Veränderung?
Ja, wobei man sagen muss, dass es sich dabei schon um einen zutiefst emotionalen Prozess handelt. Plötzlich wird etwas, was Sie für völlig normal gehalten haben, komplett infrage gestellt. Sie merken, da ist etwas, was in einer Notsituation entstanden ist, in der Leute vor 100 oder 200 Jahren ängstlich oder voller Panik gewisse Entschlüsse gefasst haben. Das Schwierige bei traumatischen Erlebnissen im Krieg ist, dass sie nicht verarbeitet werden können. Man muss ja weiterleben, und Trauerarbeit hätte vorausgesetzt, dass man eine Person hat, die einen stützt. Die gab es nicht. Also musste man die Dinge verdrängen. Jede Verdrängung führt zu einer Gesamt-Anästhesierung der Gefühle, alles wird heruntergeschraubt und gedämpft. Wir haben heute in der dritten Generation von Kriegsenkeln immer noch das Phänomen, dass sie von solchen Dämpfern sprechen.

Für Psychotherapeut Wolfgang Krüger ist Familienforschung ein Weg, um Glaubenssätzen auf die Spur zu kommen.

Mehr dazu finden Sie in der Printausgabe.

Fotos: Lisa Lesemann, privat

Erschienen in „Welt der Frau“ 12/17

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  • Veröffentlicht: 11.12.2017
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2 thoughts on “Die Kraft der Ahninnen”

  1. Gertrude Grininger-Reiter sagt:

    Sehr geehrte Redaktion! Mit großem Interesse habe ich den Artikel „Die Kraft der Ahninnen“ gelesen. In meiner Ursprungsfamilie wurde seit jeher großer Wert auf den „Stammbaum“ gelegt. Tatsächlich ging es hier vor allem um die Namen der Männer. Aber auch die Geschichte der Urgroßmutter väterlicherseits, die vermeintlich an Spanischer Grippe starb, kam immer wieder vor. Ich habe sofort begonnen, Bilder und Namen zu holen. Vor allem die Linie der Vaterseite geht hier weit zurück. Bei meiner Mutter bin ich bereits bei den Urgroßeltern gestrandet. Die Seite der Großmutter mütterlicherseits endet bei der Kenntnis ihres Mädchennamens. Erzählungen zu ihren Eltern gibt es nicht. Nur ein Bruder der Großmutter war in Erzählungen sehr präsent. Er war auch der Trauzeuge meiner Mutter. Da meine Mutter noch lebt, werde ich sofort versuchen, noch Erinnerungen von ihr zu bekommen. Ich weiß nur von Mutter, dass ihre Großmutter väterlicherseits eine strenge Frau war. Nach einigen Recherchen konnte ich herausfinden, dass sie zwei Männer verloren hat und mit den Kindern alleine dastand. Am Ende des 19 Jhdts. sicherlich eine ganz große Herausforderung. Also wie man sieht, die männliche Seite der Familie hat, wie in Ihrem Artikel angemerkt, immer weitaus mehr Präsenz. Die wenigen Geschichten zu den weiblichen Vorfahren stellen immer kraftvolle Persönlichkeiten dar, die offensichtlich die Männerwelt, wenn oft auch erst im Alter, beeindruckt haben. Im Zuge meiner Recherchen habe ich auch gelesen, dass mein Elternhaus im 19. Jhdt. zwei Mal abgebrannt ist. Ich denke, jetzt weiß ich auch, warum ich Feuer sehr mit Respekt behandle. Ich habe auch sofort nach den PC Ahnenforscherprogrammen gesucht. Leider konnte ich nur kostenpflichtige finden. Ich dachte, dass „Family Tree Maker“ und „Ages“ ev. kostenlos zum downloaden wären. Vielleicht könnte ich da noch ein paar Hinweise von Ihnen bzw. der Redakteurin des Artikels bekommen. Vielen herzlichen Dank für den interessanten Artikel und alles in allem Ihre immer wieder gelungene Zeitschrift.

  2. ISABELLA Schwager sagt:

    Ich war im Jänner in Marokko, deshalb finde ich den Bericht der deutschen berberin so spannend, da wir eine Rundreise hatten und gesehen haben, wie die Leute dort leben. Meine Hochachtung vor solchen Frauen.?

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