Mit Taxis kamen sie vor das Fotostudio gefahren. Ingrid Tropper, Olga Wurz, Irmgard Pirker und August Gabernig. Alle vier in Begleitung ihrer vertrauten BetreuerInnen aus dem Pflegewohnheim „Haus am Ruckerlberg“ in Graz. Im Studio des Grazer Fotografen Christian Jungwirth war alles vorbereitet. Unzählige Lichter und Lampen, der passende Fotohintergrund, Schminkutensilien, auf den Kleiderstangen die gebügelten Kleidungsstücke.
Pro Person hatte Stylistin Birgit Enge zwei Outfits und die passenden Accessoires aus einem Fundus besorgt. Für den zigfachen steirischen Boxmeister August Gabernig lagen alte Originalboxhandschuhe aus seinem ehemaligen Boxklub bereit. Diese und ein altes Trainingsunterhemd hatte sein Sohn besorgt. Er hatte es sich nicht nehmen lassen, seinen alten Vater zu den Fotoaufnahmen zu begleiten. Vielleicht aus Sorge vor einem eventuellen Lächerlichmachen des verwirrten 84-Jährigen? Denn er sowie die 88-jährigen Damen Ingrid Tropper, Olga Wurz und Irmgard Pirker leiden seit Jahren an der Krankheit Demenz.
LEBENSGESCHICHTEN SPIEGELN
Die Idee zu dem Fotoshooting stammt von Mag.a Claudia Paulus, Geschäftsführerin des Diakoniewerks Steiermark, Region Graz. „Ich bin an den Fotografen Christian Jungwirth herangetreten, um außergewöhnliche Bilder von Menschen in einem Pflegeheim in Auftrag zu geben.“ Statt kranke, alte Menschen mit Pflegepersonal darzustellen, sollten hier mit einer speziellen Bildsprache die Lebensgeschichten der ausgewählten Personen in einer ganz besonderen Ästhetik sichtbar gemacht werden. Wie kann man Menschen mit Respekt und Würde darstellen, deren Gehirn eine schwere Krankheit aufweist?
„Demenz verläuft in verschiedenen Phasen und ist auch von der jeweiligen Tagesverfassung abhängig.“ Frau Paulus kennt die PflegeheimbewohnerInnen Ingrid Tropper, Olga Wurz, Irmgard Pirker und August Gabernig seit Jahren. „Zum Zeitpunkt des Shootings waren alle vier geistig in der Lage, dieses abzulehnen.“ In mehreren Vorgesprächen, gemeinsam mit den Vertrauenspersonen aus der Pflege, nahestehenden Angehörigen und dem Fotografen, wurden sie auf den Tag im Fotostudio vorbereitet.
„Alle vier genossen es, geschminkt zu werden, das Aufkleben von falschen Wimpern und vor allem die Streicheleinheiten im Gesicht“, erinnert sich Stylistin Birgit Enge. Irmgard Pirker hat früher als Model gearbeitet. Heute noch liebt sie schönen Schmuck und stilvolle Kleidung. „Bin das wirklich ich?“, meinte die 88-Jährige überrascht, als sie sich in Paillettenkleid und Federboa im Spiegel sah. Vor der Kamera bewegte sich der ehemalige Profi wie eine Grande Dame, die sich unablässig nach dem Weg in ihr Zuhause erkundigte.
ERINNERUNG GELÖSCHT
Die fotogene Olga Wurz hatte viele Jahre gemeinsam mit ihrem Mann in Russland gelebt und fließend Russisch gekonnt. Die Krankheit Demenz hat jede Erinnerung an Wörter gelöscht, so verlor sie ihre Fähigkeit zu sprechen. Mit aufmerksamen Blicken und regen Gesten reagierte die 88-Jährige auf die Wünsche des Fotografen. Doch in die Kamera lächeln wollte sie nicht. „Wie war das damals im Ring, Herr Gabernig? Wie schnell war Ihre Rechte?“ Das ließ sich der 84-Jährige nicht zweimal sagen. Der ehemalige Boxmeister konnte sich mühelos auf das Spiel mit den animierenden Worten des Fotografen einlassen.
Die Bemerkung „Der Rocksaum hängt schief“ überraschte alle, da Ingeborg Tropper kaum mehr spricht. Obwohl ihr das rosa Kleid zu eng war, ließ sie es sich nach anfänglichem Schimpfen über die Hüften ziehen. Eine Zigarette beruhigte die ehemalige Lehrerin wieder. Nur das Glas Sekt konnte sie nicht halten, da ihre Hände zu sehr zitterten.
„Es war der berührendste Tag meines Arbeitslebens“, meint die Leiterin des Pflegeheims Claudia Paulus rückblickend. Lustig, harmonisch und ohne Stress. „Hektik und Nervosität hätten sich schlecht auf den Zustand der Demenzkranken ausgewirkt, da sie sensibel auf Stimmungen reagieren.“ Erinnern können sich Ingrid Tropper, Olga Wurz, Irmgard Pirker und August Gabernig weder an den Fotografen noch an das Studio. Was die vier von diesem Tag behalten haben, wissen wohl nur sie selbst.
Würdevoller Umgang mit Demenz
„Trotz krankheitsbedingter Defizite sollen von Demenz betroffene Menschen mit ihrer Lebensgeschichte und in ihrer Persönlichkeit wahrgenommen werden“, erklärt Mag.a Claudia Paulus, Geschäftsführerin des Diakoniewerks Steiermark, Region Graz, die Intention des Fotoprojektes, das sie gemeinsam mit dem Grazer Fotografen Christian Jungwirth entwickelt hatte. „Unsere vier Models haben sich auf ihre ganz besondere Weise auf das Spiel mit der Kamera eingelassen“, ergänzt Jungwirth. Die Fotos sollen auf die Stigmatisierung aufmerksam machen und für einen sensiblen Umgang mit Demenzkranken werben.
Erschienen in „Welt der Frau“ 5/2014 – von Michaela Herzog