Fayza war acht Jahre alt, als sie die Schule abbrechen musste und von ihrer Familie verheiratet wurde. Ein Jahr später war sie das erste Mal geschieden. Mit 14 wurde sie die dritte Ehefrau eines 60-jährigen Mannes, von dem sie drei Kinder bekam. Als sie 18 war, endete auch diese Ehe mit einer Scheidung. Ihre Kinder darf Fayza seither nur gelegentlich an den Wochenenden sehen. Doch dann traf sie eine Entscheidung, für die eine zweimal geschiedene Frau aus ärmsten Verhältnissen in der erzkonservativen Gesellschaft des Jemen alle Kraft braucht, die sie nur aufbringen kann. Gegen den Willen ihrer Eltern beschloss Fayza, ihre unterbrochene Schulausbildung wieder aufzunehmen. Sie erkannte darin die große Chance, ihrer misslichen Lage zu entkommen, eines Tages einen Job zu haben und sich selbst und ihren Kindern ein autonomes, finanziell abgesichertes Leben zu ermöglichen. Inzwischen ist Fayza 25 und studiert mit Unterstützung einer NGO Wirtschaft.
Fayzas Geschichte, sagt die Fotografin Laura Boushnak, sei ein Positivbeispiel aus einem Land, in dem die Bildungssituation für Frauen „einfach nur traurig ist“. Der Jemen gilt als das am wenigsten entwickelte arabische Land. Zwei von drei Frauen sind Analphabetinnen, und von den Mädchen, die es überhaupt in eine Volksschule schaffen, gelingt es kaum mehr als 10 Prozent, danach noch auf eine weiterführende Schule zu gehen.
Die kuwaitisch-palästinensische Fotografin Laura Boushnak (40) hat Fayza fotografiert. Fayza und eine Reihe anderer Jemenitinnen, die als erste Frauen in ihren Familien höhere Bildungsstufen durchlaufen. Diese Porträtserie ist Teil eines großen Fotoprojekts, das Laura Boushnak seit Jahren mit Leidenschaft und Hingabe verfolgt. Es heißt „I Read I Write“ und stellt Frauenbildungsthemen im arabischen Raum ins Zentrum.
Am Anfang dieser mehrfach ausgezeichneten fotografischen Sozialreportage stand ein Bericht des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP). „Daraus geht sehr klar hervor: Der Zugang von Frauen zu Wissen und Bildung ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für Entwicklungsfortschritte im arabischen Raum“, erklärt Laura Boushnak im Telefoninterview aus Sarajewo. Dort lebt die in Kuwait aufgewachsene Palästinenserin seit ein paar Jahren mit ihrer Familie. Sie hat im Libanon studiert und dort auch mit Fotoreportagen für verschiedene Nachrichtenagenturen wie Associated Press oder Agence France Press (AFP) begonnen. Ihre Bilder sind seither weltweit in vielen Magazinen und Zeitungen veröffentlicht worden; sie werden gesammelt und in Galerien und Museen ausgestellt.
Seit 2008 arbeitet Boushnak nur mehr als Freelancerin, und seit dieser Zeit arbeitet sie auch an „I Read I Write“. Sie sagt, sie habe sich von Anfang an nicht nur auf die negativen Aspekte ihres Themas konzentrieren wollen: „Ich wollte ein ausgewogenes Bild zeigen und gleichzeitig in jedem Land einen anderen, regional repräsentativen Aspekt herausgreifen.“ Im besonders rückständigen Jemen ging es ihr darum, den schwierigen Zugang für Frauen zu Bildungseinrichtungen zu dokumentieren. In Ägypten, wo fast 50 Prozent aller Frauen über 15 nicht lesen und schreiben können, fotografierte sie Frauen in Alphabetisierungskursen und bat sie, etwas in ihren eigenen, neu gelernten Worten auf Fotoprints zu schreiben. In Jordanien konzentrierte sie sich auf die Dokumentation eines zweijährigen Lehrgangs für Schulwiedereinsteigerinnen. „Obwohl in Jordanien die weibliche Schulbesuchsrate sehr hoch ist, brechen sehr viele Mädchen in der Sekundarstufe ihre Ausbildung wieder ab. Ein Hauptgrund dafür ist Armut“, erklärt Laura Boushnak. In Kuwait, wo die Fotografin selbst zur Schule ging und das nach einer Weltbankstudie als Topbildungsreformer der gesamten Region gilt, porträtierte sie Lehrerinnen und fragte sie nach ihren persönlichen Wünschen in Bezug auf das Thema „Bildung“.
In Tunesien begleitete sie vier politisch aktive Studentinnen der Universität Tunis mit ihrer Kamera und fand in den jungen Frauen ein großartiges Beispiel dafür, welches Selbstbewusstsein und Engagement entstehen kann, wenn Frauen Zugang zu Wissen und öffentlichem Leben bekommen. „Unter der früheren tunesischen Regierung wurde Frauenbildung sehr gefördert und wurden Frauen sehr viel weitreichendere Rechte eingeräumt als in den meisten anderen arabischen Ländern. Jetzt, nach der Revolution, kämpfen sie dafür, dass sie ihre Rechte unter den neuen islamistischen Machthabern nicht wieder verlieren.“ Der Kampfgeist der tunesischen Studentinnen, erzählt Laura Boushnak, habe sie sehr beeindruckt. Eine davon war die 21-jährige Shames. Sie wollte vor einer Stacheldraht-Straßensperre vor dem tunesischen Innenministerium fotografiert werden, wo während der Arabischen Revolution Demonstrationen stattgefunden hatten. „Es war ihre Art zu sagen: ‚Ich lasse den Stacheldraht hinter mir!‘“, erzählt Boushnak. Darum und um Widerstand, weibliche Selbstermächtigung und Lernbereitschaft geht es auch in dem Gedicht, das Shames in ihrer Handschrift auf ihr Porträtfoto geschrieben hat.
„Ich habe mich immer für Frauenthemen und Bildungsfragen interessiert“, erzählt Laura Boushnak. „I Read I Write“ gab ihr die Möglichkeit, sich über lange Zeit mit diesen Sujets auseinanderzusetzen. Nach sieben Jahren Arbeit an dem Projekt blickt sie mit gemischten Gefühlen auf die Bildungssituation arabischer Frauen. „Am meisten hat mich enttäuscht, dass in vielen öffentlichen Schulen der Region die Unterrichtsmethoden immer noch vor allem auf Auswendiglernen basieren und dass es vielerorts normal ist, Kinder verbal und körperlich zu misshandeln. Andererseits geben mir Geschichten wie die von Fayza wirklich Hoffnung.“
Genaue Infos zu den einzelnen Bildern finden Sie in der Printausgabe!
Erschienen in „Welt der Frau“ 09/15 – von Julia Kospach