Die 18-jährige Alexandra Gonzalez ist „Mandinga“, eine junge, hübsche Mestizin auf der Suche nach einem Bräutigam. Von allen Brautwerbern – Stiere, Hunde usw. als Symbol für die kulturelle und ethnische Vermischung Lateinamerikas – ist ihr der elegante und bescheidene Mäuserich „Raton Perez“ am sympathischsten. Sie heiraten, und dann kommt es zu einem tragischen Unfall.
Das ist die Geschichte des aktuellen Zirkustheaterstücks „Mandinga“, mit dem der sozialpädagogische Kinder- und Jugendzirkus „Circo Fantazztico“ aus Costa Rica durch Europa getourt ist. Inspiriert von der Erzählung der costa-ricanischen Kinderbuchautorin Carmen Leyra, zeigen 22 Mädchen und Burschen im Alter von 14 bis 23 Jahren in „Mandinga“ ihr Talent und Können als Akrobatinnen und Akrobaten, Clowns, Jongleure sowie Musikerinnen und Musiker.
Alexandra – erstmals in der Hauptrolle – mimt eine sehr selbstbewusste, emanzipierte Frau, die gut aussieht, sich ihren Mann genau aussucht und Ansehen im Dorf genießt. „Ich mag die Persönlichkeit von Mandinga. Sie ist sehr stark und weiß, was sie will. Damit kann ich mich gut identifizieren“, sagt Alexandra, die wie die meisten der jungen Protagonistinnen und Protagonisten in einem Armenviertel aufgewachsen ist.
WEG VON DER STRASSE
Gegründet wurde der „Circo Fantazztico“ vom Österreicher Roland Spendlingwimmer, der seit 35 Jahren in Costa Rica lebt: „In den 80ern landeten immer mehr Kinder auf der Straße und kamen mit harten Drogen und sexuellem Missbrauch in Berührung“, erzählt der 69-Jährige, wie in dem zentralamerikanischen Land aus Vollbeschäftigung plötzlich hohe Arbeitslosigkeit mit all ihren sozialen Folgen wurde. Während dieser schweren wirtschaftlichen Krise gründete Spendlingwimmer in der Provinzhauptstadt San Isidro den Verein „Vida Nueva“ und handelte: Eine Ausspeisungsstelle wurde eröffnet, und die bettelnden Kinder waren eingeladen, Kurse zu besuchen oder ein Handwerk zu lernen, damit sie von der Straße wegkamen. „Es ging auch darum, präventive Maßnahmen zu setzen, damit die Kinder erst gar nicht auf der Straße landen. Dafür musste sich in den Außenvierteln etwas tun, was die Kinder dort halten konnte und sie die Schule abschließen ließ“, sagt Spendlingwimmer über die Anfänge des „Circo Fantazztico“.
IHR GRÖSSTER WUNSCH
Aber kann ein soziales Zirkusprojekt Kinder wirklich präventiv vor Armut schützen? „Viele junge Menschen haben dank dem ,Circo Fantazztico‘ einen Prozess der Bewusstwerdung durchlaufen, der ihnen geholfen hat, die Lebenssituation zu meistern“, sagt Spendlingwimmer. „Das Selbstwertgefühl steigern, öffentlich auftreten vor Publikum – das sind nur einige Aspekte der Zirkusarbeit, die unglaublich wirkungsvoll sind.“ Seine zirkuspädagogischen Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter gehen heute auch in Waisenhäuser, Schulen für Behinderte und in Jugendgefängnisse, um dort den Kindern Perspektiven für ihr Leben zu eröffnen. „Mehr als 250 Kinder und Jugendliche haben derzeit im ,Circo Fantazztico‘ eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung gefunden“, sagt der Entwicklungsarbeiter.
Eines dieser Kinder ist der Star der neuen „Mandinga“-Produktion, Alexandra. Selbstbewusst zu sein, das fiel ihr als Kind schwer. „Früher war ich sehr schüchtern. Das hat sich durch das Zirkustraining und die Auftritte geändert“, sagt die Schülerin, die bei ihrer Großmutter aufgewachsen ist. Unter der Abwesenheit ihrer Eltern litt sie sehr: Ihren Vater hat die junge Costa Ricanerin erst vor zwei Jahren kennengelernt, als sie ihn auf eigene Initiative suchte. Ihre Mutter hat sie zuletzt vor über zehn Jahren gesehen, weil diese illegal in die USA auswanderte, als Alexandra fünf war. Seither lebt ihre Mutter dort ohne gültige Papiere und kann deswegen nicht zurück nach Costa Rica. Über das Telefon und jetzt auch über Skype versuchen die beiden, ihre Beziehung aufrechtzuerhalten. „Es ist fast, als sei sie hier bei mir“, sagt Alexandra, die einmal professionelle Artistin werden will und deren größter Wunsch es ist, ihre Mutter wiederzusehen.
Also hat sich Roland Spendlingwimmer, zu dem die Kinder und Jugendlichen wie zu einem guten Vater aufsehen, etwas einfallen lassen: „Wir sind gerade dabei, für Alexandra ein Visum für die Einreise in die USA zu beantragen, damit sie ihre Mama wieder in die Arme schließen kann.“ Dank Alexandras zahlreicher Auftritte als Künstlerin für den „Circo Fantazztico“ sollte es dieses Mal mit der Visumserteilung klappen, meint Spendlingwimmer: „Wir sind zuversichtlich.“
Das Schweizer Hilfswerk EcoSolidar unterstützt den Circo seit Jahren maßgeblich. Auch die Europa Tournee 2015 wurde bereits zum dritten Mal z.B. mit der Finanzierung der Flugtickets gefördert. Mehr zu EcoSolidar sowie zum Projekt Circo FantazzTico findet man auf www.ecosolidar.ch und www.vida-nueva.co.cr/de/. Fotograf Christian Jaeggi ist immer wieder mit der Kamera zu Gast bei Projekten dieser Organisationen.
Erschienen in „Welt der Frau“ 01/16 – von René J. Laglstorfer