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04-05/24

Brrr! Vom Leben in der gefrorenen Stadt.

Nirgendwo bläst der Wind so kalt wie in Norilsk. Wer in der nördlichsten Stadt Russlands leben will, muss aber auch sonst noch einiges aushalten.

Rabenschwarze Finsternis und irgendwo die Lichter entlang der Rollbahn: Norilsk erreicht man rund um das Jahr am besten mit dem Flugzeug. Im Winter gibt es ohnehin keine Alternative. Nur wenige Sommermonate lang fahren auch Schiffe von Krasnojarsk binnen einer Woche in die Bergmannstadt. Dann, wenn der Tag nie endet, die Nächte hell sind und die Frage, wie spät es ist, nur mit Blick auf die Uhr beantwortet werden kann. 

Wer das Flugzeug verlässt, spürt als Erstes die eisige Luft auf Wangen und Nase. Minus 30 Grad fühlen sich für NorilskerInnen vertraut an. Im Bus geht es über Straßen, die auf die Permafrostböden geteert wurden, Richtung Stadt, entlang einer Militärbasis, begleitet von Gasleitungen und mit Blick auf den metal­lurgischen Komplex „Nadeshda“. Man hat der gigantischen Industrieanlage den schönen Namen „Hoffnung“ gegeben. Die braucht man auch, wenn man in Norilsk überleben will.

Ab 1921 hatten die Sowjets begonnen, das unwirtliche Land mit Mutigen, Kundigen und Verdammten zu besiedeln. Damals entdeckte eine Expedition unter der Leitung von Nikolai Urvantsev die Schätze der Tundra: Kupfer und Nickel. Urvantsev baute das erste Haus in Norilsk. Zehn Jahre später kamen die Gefangenen. In einem Gulag, einem Straflager der Stalin-Ära, siedelte man jene an, die sozusagen kostenlos die schmutzige Schinderarbeit machten. Mehr als eine halbe Million Menschen buddelte nach den Schwermetallen. Viele bezahlten die miesen Lebensbedingungen, Hunger, Kälte, Krankheiten, mit dem Leben. 1953, nach dem Ende der Stalin-Ära, traten viele Gefangene in einen Streik. Die Haftbedingungen besserten sich. Schlussendlich siegte aber das Regime, widerständige Häftlinge wurden in andere Lager verlegt. 

GEGEN DEN WIND
Später wurde Norilsk zur Stadt der ExpertInnen. Drei bis fünf Jahre braucht ein guter Arbeiter, um richtig eingearbeitet zu sein. Die Existenzbedingungen in Russlands nördlichster Stadt sind nichts für sensible Gemüter. Keiner käme des Lebens wegen hierher. Es ist immer die Arbeit. Früher war sie gut bezahlt. Bis heute ranken sich Mythen um das Einkommen und den Wohlstand jener, die sich für den Norden anwerben ließen. Früher stimmte das auch: Das Gehalt war viermal so hoch wie das von ArbeiterInnen in anderen Landesteilen, es gab drei Monate bezahlten Urlaub, Gratisaufenthalte in Kinderlagern und Sanatorien, Pension mit 45 und nach 15 bis 20 Jahren Arbeit eine Wohnung „auf dem Kontinent“, wie alles westlich von Norilsk bezeichnet wird. Man wusste warum: Die Lebenserwartung der NorilskerInnen liegt auch heute noch zehn Jahre unter dem auf dem „Kontinent“. Die Umweltverschmutzung ist enorm, viele erkranken an Krebs. 

Wenn der „schwarze Blizzard“ kommt, steht in Norilsk alles still. Der kalte Wind fegt über das Land, die flache Tundra hält ihn nicht ab. Wer erfahren genug ist, wartet eine Böe in einer Windbucht ab und läuft, wenn der Blizzard den nächsten Atemzug nimmt, schnell über die Straße. Wie in der Wüste, wo die Häuser des Sandes und der Sonne wegen eng beisammen stehen, drücken sie sich in Norilsk aufgrund des Windes fast aneinander. Was dazu führt, dass die Bewohnerinnen und Bewohner einander auch sonst gerne nahe sind. Wer den ersten Polarwinter überstanden hat, der gehört dazu, der hat die seelische Robustheit, den Großteil des Jahres in relativer Dunkelheit und Kälte zu verleben. Wie die Menschen muss auch die Infrastruktur extreme Temperaturunterschiede aushalten. Vermutlich fallen in keiner anderen Stadt Russlands so oft Reparaturen von Wasserrohren und Heizungsinstallationen an. Viele Häuser, die ohne Keller auf den Dauerfrostboden gestellt sind, werden schnell wieder unbewohnbar. Ein Fünftel der Norilsker Häuser steht leer. Viele wirken, als hätten die Menschen ihre Häuser in Minutenschnelle verlassen.

Nur wenige NorilskerInnen haben ein eigenes Auto. Der Transport zum Arbeitsplatz, zur Schule, ja sogar zum Bäcker bleibt Bussen oder Taxis überlassen. Schwierig wird es nur, wenn die Busse wegen starken Windes nicht fahren können. Dann sitzen die ArbeiterInnen in den Aufenthaltsräumen der Minen und im Schatten der Hochöfen fest. Aber auch unter normalen Bedingungen schickt man 15 bis 20 Busse im Konvoi Richtung Stadt. Bleibt einer hängen, steigen die Fahrgäste um. Länger in der Eiseskälte auszuharren, wäre vielleicht sogar tödlich. Taxis haben übrigens in Norilsk einen Einheitstarif: Jede Fahrt kostet 100 Rubel. Die fast 200.000 Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt nutzen das so oft wie möglich.

 SCHWARZER STAUB, ROSA SONNE
Die unterirdischen Lager sind nach wie vor voll mit Bodenschätzen. Viele sind noch nicht erschlossen. 40 Prozent des Weltbedarfs an Palladium werden in Norilsk gewonnen, zwei Fünftel des russischen Kupfers und ein Fünftel der russischen Nickelproduktion. Seit 1993 ist das frühere Nickelkombinat Teil des Konzerns MMC Norilsk Nickel, eines der zehn größten und profitabelsten Unternehmen Russlands und Weltmarktführer in der Nickelproduktion. Die Industriekomplexe von Norilsk jagen jedes Jahr so viele Emissionen in die Luft wie ganz Frankreich. Die Stadt gilt als die schmutzigste Russlands. Vor allem Schwefeldioxid gelangt in die Atmosphäre. Und auch in die Böden. Ein schwarzer Staubfilm legt sich über Gräser, Wiesen, Beeren, Bäume. Wer selbst gesammelte Pilze essen möchte, sollte den Empfehlungen folgen und sie zuerst lange in Salzlake einlegen, dann stundenlang kochen und sie erst dann grillen. 

Seit den 1970er-Jahren kommen viele, die dort schon Verwandte haben, zur Arbeit nach Norilsk. Die meisten nehmen sich vor, drei bis fünf Jahre zu bleiben, gutes Geld zu verdienen und dann zurückzukehren. Doch das Leben spielt häufig anders. Man findet einen Partner oder eine Partnerin, bekommt Kinder, die gehen in den Kindergarten, in die Schule, und schließlich bleibt man doch. Die Privilegien von früher sind längst Geschichte. Heute ist das Leben in Norilsk kostspielig. Alle Nahrungsmittel müssen von weit her herangeschafft werden. Auch die Flugtickets sind inzwischen kein Schnäppchen mehr. Wer an den Hochöfen arbeitet, kann noch auf Vergünstigungen zählen, der Rest muss schauen, wo er bleibt. Seit 2001 ist Norilsk übrigens eine geschlossene Stadt. Ausländerinnen und Ausländer dürfen nur mit einer Sondergenehmigung einreisen. Angeblich sollen so Migrationsprobleme unterbunden werden.

Natürlich schimpfen die NorilskerInnen auf die Luftverschmutzung, die unfähige Verwaltung und haben die hohen Schneewände satt. Aber kaum sind sie länger aus ihrer Stadt weg, werden sie melancholisch. Ihnen fehlen die NachbarInnen, die Norilsker Mayonnaise und die lokale Tageszeitung. Sie möchten dann wieder heim. Heim in die Stadt, in der man darüber diskutiert, wer zuletzt die Sonne gesehen hat. Wenn diese sich nach eineinhalb harten Wintermonaten mit Frösten, Stürmen und Dunkelheit wieder als kleiner rosaroter Ball am Horizont zeigt, haben viele NorilskerInnen Tränen in den Augen. Ruhe und Frieden kehrt in ihre Seelen ein. Das Leben in Norilsk geht weiter.

 

Die kälteste Stadt Russlands

Wo früher nur eisiger Wind über die Tundra fegte, fanden 1921 Geologen erste wertvolle Bodenschätze. Die damalige Sowjetunion entschied, Nickel, Kupfer und andere Rohstoffe aus den Dauerfrostböden zu holen. Teilweise werden die Edelmetalle auch sofort verhüttet. Rund um die Minen entstand die Stadt Norilsk mit rund 175.000 EinwohnerInnen. Sie liegt in Sibirien, 300 km nördlich des nördlichen Polarkreises. Norilsk wurde von Architekten und Zwangsarbeitern, die in den Straflagern Sibiriens festgehalten wurden, geplant und errichtet. Sie gilt als eine der zehn schmutzigsten Städte der Welt.

Erschienen in „Welt der Frau“ Ausgabe 01/15 – von Elena Chernyshova / Christine Haiden

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  • Veröffentlicht: 05.01.2015
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