Wie physikalisches Basiswissen auf Beziehungen angewandt werden kann, warum es gut ist, dass Familien in Parallelschaltung laufen und wie wir unseren Energiesparmodus aktiveren.
Meterhoch türmen sich die Schulsachen auf unserem Küchentisch. Es ist wieder heiße Lernphase bei unseren drei Schulkindern. Zwischen Italienischbüchern und Spanischvokabeln wird an Diplomarbeiten gefeilt. Währenddessen sind der Jüngste und ich mit Physik beschäftigt. „Wusstest du, Mama, dass Energie nie verloren geht, sondern sich immer nur umwandelt?“, bemerkt er erstaunt. Ich räuspere ein verlegenes „Natürlich!“, gestehe mir aber im selben Moment ein, dass es um meine naturwissenschaftliche Expertise eher mittelmäßig bestellt ist.
Meine Aufmerksamkeitsspanne ist heute auf die eines Goldfisches geschrumpft. Nach meinen Kliententerminen am Vormittag hab ich noch den halben Haushalt niedergerissen. Eine Ladung Wäsche nach der anderen gewaschen, dazwischen schnell das Mittagessen gekocht und gefühlt tausend Paar Schuhe in der Garderobe aufgeräumt. Während des Staubsaugens noch überlegt, wann der nächste Zahnarzttermin vereinbart gehört, welches Geschenk wir der Oma zum Geburtstag besorgen und dass ich eine Rechnung für meine Buchhaltung anfordern muss. Ich bin heute schon müde. Energielos, sozusagen.
Der Pauker und ich lernen, dass Energie die Fähigkeit ist, mechanische Arbeit zu verrichten, Wärme abzugeben oder Licht auszustrahlen. Beim Blick auf die Skizze eines geschlossenen Stromkreises mit Batterie und Glühlampe werden tatsächlich Erinnerungen an meine Schulzeit wach. „Von wegen sie geht nicht verloren! Meine Energie ist heute jedenfalls weg!“, kontere ich dem Nachwuchsphysiker. Verpufft in den unendlichen Handgriffen notwendiger Haushaltstätigkeiten und mehr. Ich bräuchte dringend eine erholsame Laufrunde im Wald.
Anstrengend ist nicht gleich anstrengend
In diesem Moment trifft mich die Widersprüchlichkeit meiner Gedanken wie ein Pfeil. Warum laugt mich körperliche Arbeit im Haushalt aus, während mir eine Laufrunde Energie gibt? An der Tätigkeit alleine kann es nicht liegen, denn ich kenne Menschen, die wirklich gern putzen und dabei fröhlich bleiben und welche, die keine zehn Pferde zu einer Laufrunde im Wald bringen würden. Also liegt es an mir als Mensch, schlussfolgere ich.
„Was die Sonne für Solarzellen, Wasser für eine Kaplanturbine oder eine kräftige Brise für ein Windrad, ist Bewegung in der Natur für mich.“
Was mir persönlich Energie gibt, kann für jemand anderen ein regelrechter Energieräuber sein. Genau diese individuellen Unterschiede, ja, Gegensätze, machen das Dasein als Mensch erst richtig lebendig. Also voller Energie. Dieses Geben und Nehmen. Das gilt sowohl für meinen ganz persönlichen Energiehaushalt als auch für den meiner Beziehungen. Wer nur gibt und nie etwas annehmen kann oder zurückbekommt, wird ziemlich sicher leer werden. Ich glaube, wir nennen es Burn-out. Wer ständig nimmt und meint, sich ohne Rücksicht auf Verluste bedienen zu können, ohne diese Energie in irgendeiner Form weiter oder zurückzugeben, wird wertlos für den Energiekreislauf. Wie das Leben will Energie fließen und im Umlauf bleiben.
Als der Physikstoff halbwegs sitzt, hüpfe ich in meine Laufschuhe und drehe in der Dämmerung eine Frischluftrunde. Obwohl ich mich körperlich angestrengt habe, mein Puls rast und ich quasi aus dem letzten Loch pfeife, fühle ich mich deutlich wacher als noch vor zwei Stunden. Was die Sonne für Solarzellen, Wasser für eine Kaplanturbine oder eine kräftige Brise für ein Windrad, ist Bewegung in der Natur für mich. Genau wie ein Mädelsabend, lustige Familienskitage oder der Tanzkurs mit meinem Liebsten.
Beziehungen: zwischen Beflügeln und Zerstören
In diesem Punkt unterscheiden wir uns deutlich von technischen Geräten: Menschen können bei diversen Quellen auftanken. Es ist nicht nur ein Vorteil, sondern auch notwendig, viele verschiedene „Steckdosen“ zu haben, an denen man sich aufladen kann. Wir sind durch und durch soziale Wesen und brauchen uns gegenseitig, um motiviert zu bleiben. Nichts beflügelt und nichts zerstört uns mehr als das Zusammenleben, Zusammenarbeiten und Zusammensein mit anderen Menschen.
Beim Abendessen wiederholt der Viertklässler nochmal die wichtigsten Fakten rund um das Prüfungsthema Energie. „In geschlossenen Systemen kann sich Energie verwandeln, indem sie übertragen, umgewandelt oder gespeichert wird. Zumeist kann man sie nicht sehen, fühlen oder anfassen, aber man kann fast immer ihre Wirkung erkennen.“
Das ist wie mit der Stimmung in der Familie, denke ich leise. Auch die kann man selten direkt mit Augen, Ohren oder Händen wahrnehmen. Doch ich schwöre, beim Öffnen der Zimmertür kann ich spüren, in welcher Verfassung sich der im Raum aufhaltende Teenager befindet. Das ist wahrscheinlich weniger Zauberei, sondern die Verarbeitung dutzender kleiner Wahrnehmungen in Millisekunden. Es bleibt jedoch eine menschliche und empathische Meisterleistung. „Feel the room“ nennen das Klienten von mir liebevoll. Die Stimmung abchecken, wenn man einen neuen Raum, das andere Büro oder die Wohnung der Freundin betritt.
Parallelschaltung in Familien und ihre Energiekraftwerke
„Erkläre mir nochmal den Unterschied zwischen Reihenschaltung und Parallelschaltung“, fordere ich den Prüfling auf. Während er die Theorie herunterrattert, kommt mir in den Sinn, dass Familienmitglieder wie eine Parallelschaltung funktionieren. Wenn einer ausfällt oder energielos ist, können die anderen für ihn leuchten. Anders als die Lampe in einer Serienschaltung sind sie nicht automatisch ohne Strom. Was für ein Glück!
„Wenn wir beziehungstechnisch einen vollgeladenen Akku haben, also im grünen Bereich laufen, brauchen wir uns meist keine Sorgen machen. Kritischer sind die Tage, wo wir ausgelaugt, müde und frustriert sind.“
Wenn meine Nerven blank liegen, springt mein Partner ein und bringt den längeren Geduldsfaden für die Kinder auf, damit ich nicht an die Decke gehe. Hat er einen schlechten Tag und kommt übellaunig heim, kann ich für ihn übernehmen. Partnerschaft heißt nämlich nie, dass es immer 50:50 läuft. Es heißt für mich: Gemeinsam schaffen wir das. Manchmal mehr du. Manchmal mehr ich. Und für die Tage, wo wir beide im roten Bereich laufen, schmieden wir einen Plan, wie wir uns gegenseitig so wenig wie möglich verletzen.
Wenn wir beziehungstechnisch einen vollgeladenen Akku haben, also im grünen Bereich laufen, brauchen wir uns meist keine Sorgen machen. Dann sind wir großzügig, wohlwollend und nachsichtig, wenn Konflikte auftauchen. Kritischer sind die Tage, wo wir ausgelaugt, müde und frustriert sind. Da ist die Gefahr des gegenseitigen Verletzens am höchsten. Dann wäre es klug, so etwas wie einen Energiesparmodus zu aktivieren, wie es unsere smarten Telefone machen.
Energiesparmodustipps für Menschen
- Keine großen und wichtigen Gespräche anzetteln
- Tempo herausnehmen und weniger relevante Dinge verschieben
- Mini-Selbstfürsorgerituale einbauen – und seien es nur ein paar bewusste Atemzüge
- Überflüssiges eliminieren (Reize für alle Sinne reduzieren, so gut es geht)
- Früher schlafen gehen, um Regeneration sicher zu stellen
- Wenn möglich fasten, um den Körper nicht noch mit Nahrungsverwertung zu fordern – dafür viel trinken
Wir Mütter und Väter sind das Kraftwerk für die Familie. Die primäre Energie, die in Familien zur Verfügung gestellt wird, stammt von den Eltern. Wie wir uns fühlen, miteinander umgehen und das Leben mit Kindern gestalten, prägt die Familie in zentraler Weise.
Wenn wir als Paar …
… lieblos miteinander umgehen, wird es lieblos in der Familie.
… abwertend zueinander sind, legt sich dieser Umgang über alle in der Familie.
… fürsorglich miteinander umgehen, färbt das auf unsere Kinder ab.
… einander respektvoll begegnen, sorgen wir für eine solide zwischenmenschliche Basis.
… humorvoll sein können, darf Spaß und Leichtigkeit in die Wohnung ziehen.
Die Wahrheit ist: Niemand hat immerzu einen vollgeladenen Akku. Wir sind dazu geschaffen, Energie zu verbrauchen, sie in die Welt hinauszutragen und dann wieder zu generieren. Jeder Mensch läuft auch mal im roten Bereich. Wichtig ist es, zwei Dinge zu erforschen. Erstens, was unseren Akku leert. Diese Dinge gilt es dann so gut wie möglich zu minimieren. Zweitens, was unseren Akku lädt. Je mehr verschiedene Steckdosen wir zum Aufladen kennen, desto besser.
Sanft schließe ich die Zimmertür des Jüngsten nach dem Zubettbringen und schnappe mein Handy, das am Gang deponiert war. Es schickt mir in diesem Moment eine Warnung. Niedriger Akkuladestand! Schnell begebe ich mich in die Nähe einer Steckdose. Wir sollten unsere Beziehungen und uns selbst so sorgfältig behandeln wie unsere technischen Geräte. Das nehme ich mir jedenfalls für heute Abend vor: entspannen, nix tun und dabei auftanken.
Kerstin Bamminger
Psychologische Beraterin, Elementarpädagogin & Supervisorin
Web: kerstinbamminger.com
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Instagram: @die.beziehungsweise