An einem Tag im Jahr versinkt die Welt. Doch wundersamerweise nicht für immer.
Wieder ein Karfreitag. Diesmal scheint die Sonne. Das macht es schwieriger, Sonne und Trauer vertragen sich nicht gut.
Ich mag die Stille dieses Tages, die zur Suppe passt. Gemüsesuppe mit Bärlauch vielleicht, wenn man denn schon welchen findet. Ich will wach sein, wach und nüchtern. Für das, was zwischen den Zeilen spricht. Es scheint ja alles so offensichtlich: Getötet: Gottes Sohn. Angeklagt: der Mensch. Schuldig gesprochen für immer. Ostern wieder freigesprochen, damit man leben kann.
Wie schnell das geht: Eine zornige Masse schreit: „Tötet ihn!“ Man peitscht einander auf und bestätigt sich gegenseitig. Wenn so viele schreien, wird was dran sein, wird es schon seine Richtigkeit haben. Ich glaube nicht, dass da Unmenschen standen.
Familienväter waren sicher dabei, Katzenliebhaberinnen, Rosenzüchter, brave BürgerInnen, nette Leute. Nette Leute, die es nicht ertragen haben, dass einer den Finger an ihre wunden Stellen legt.
Einer, der das Schwache mit dem Starken, die Schattenseiten mit dem Licht, den Schmerz mit der Liebe verbunden hat. Einer, der integriert hat, alles und alle. Einer, der sich nicht um sie gekümmert hat, jedenfalls nicht an erster Stelle, sondern um jene, die schwächer waren. Einer, der die Unsichtbaren sichtbar machte. Der ans Licht holte, was im Dunkel keinen gestört hat.
Überhaupt: einer, der störte. Das machte sie zornig. Zorn kennt keinen kühlen Kopf. Zorn ist nie nüchtern.
Ich esse also meine Gemüsesuppe und singe die alten Lieder. Ich trage zu Grabe meinen Glauben an das Gute im Menschen, das immer siegt. Ich trage zu Grabe die Liebe, die Hoffnung. Ich lege an das grobe Kleid des Scheiterns. Ich sehe die verzerrten Gesichter der schreienden Menschen damals.
Ich sehe die verzerrten Gesichter 2.000 Jahre später, den Zorn und den Hass in den Augen der AnhängerInnen aller Trumps und Erdoğans, Höckes und der Neuen Rechten, der Putins, Jong-uns und Assads. All der zornigen Männer. Ich möchte weinen darüber. Am Karfreitag begrabe ich eine bessere Welt.
Bis mich am Ostermorgen jemand aufweckt und leise das Lied vom Mandelzweig summt, der blüht und treibt. Und ich das Licht sehe, einen schwachen Streif am Horizont nur, immerhin. Dann stehe ich auf, für eine Welt, in der alle einen Platz haben und der Himmel bis zur Erde reicht.
So geht‘s:
„Freunde, dass der Mandelzweig / Wieder blüht und treibt, / Ist das nicht ein Fingerzeig, / Dass die Liebe bleibt? // Dass das Leben nicht verging, / Soviel Blut auch schreit, / Achtet dieses nicht gering / In der trübsten Zeit.“ (Schalom Ben-Chorin, 1942)
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