Handygedudel überall, SMS-Fluten, verstopfte E-Mail-Boxen und ein Dauerbeschuss mit Informationen aus Radio, Fernsehen und Zeitung. Stündliche Werbebotschaften, die sich via Magazine, Newsletter oder Postkasten hartnäckig in unser Unterbewusstsein schleichen. Hunderte Joghurtvarianten im Supermarktregal, täglich neue Diäten und ungefragte Meinungen auf Facebook. Waschmaschinen mit 20 Programmwahl-Möglichkeiten, die niemand braucht, daumendicke Bedienungsanleitungen von Elektronikgeräten, seitenweise Kleingedrucktes in Kaufverträgen.
Der Alltag lässt grüßen und liefert noch mehr: eine schier unüberblickbare Zahl an Freizeitbeschäftigungen für den Nachwuchs und druckfrische Ratgeber zur Steigerung der individuellen Lebensqualität. Ganz zu schweigen von den zunehmenden persönlichen Ansprüchen an PartnerIn, Familie, FreundInnen und sich selbst sowie den steigenden Herausforderungen am Arbeitsplatz.
Wer kann da schon mit? Ist mit dem richtigen Zeitmanagement, dem bewussten Setzen von Prioritäten, einer ausgeklügelten Infrastruktur – von BabysitterIn bis Putzhilfe – und ein paar Nahrungsergänzungsmittel in petto unser Alltag durchaus zu schaffen? Vielleicht sogar, ohne krank zu werden?
Ist so ein Leben wirklich lebenswert? Macht das alles noch Sinn?
Nein, sagen PsychologInnen, VerhaltensforscherInnen und MedizinerInnen. Fazit:
Viele der modernen Errungenschaften, die uns ursprünglich Zeit sparen helfen oder unseren Alltag vereinfachen sollten, sind zu Zeit- und Energieräubern geworden.
Zu Stressfaktoren, die uns orientierungs- und besinnungslos machen anstatt glücklich und zufrieden. Angesichts von neuen Kommunikationstechnologien wie Handy, iPad und Internet müssen wir täglich, ja stündlich zahllose Entscheidungen treffen. Für oder gegen etwas. Haben oder nicht haben. Wollen oder brauchen, verzichten, verschieben oder vergessen. Kein Wunder, dass all dies zu einer andauernden Überforderung führt.
»Schätzungen zufolge enthalten die Ausgaben von nur einer Woche der ,New York Times mehr Informationen, als eine Person im 18. Jahrhundert in ihrem ganzen Leben erfahren konnte«, schreibt Bernd Remmers in seinem Buch »Winning Ways. Change-Management in einer nicht perfekten Welt« (Hanser Verlag) und bringt das Problem unserer Zeit auf den Punkt.
DAS GEDUDEL IST IMMER UND ÜBERALL.
»Als Ausgleich zu allen beruflichen Anforderungen, die ich als Selbstständige und Mutter gegenüberstehe, ist es essenziell, regelmäßig Auszeiten zu nehmen. So kann ich auch wirklich für meine Kunden und für meine Familie da sein«, erzählt Susanne Prosser, PR-Fachfrau und Online-Marketing-Expertin in Wien.
Ich finde die Anforderung unrealistisch, immer und überall verfügbar und gesprächsbereit zu sein.
Klar, für ihre KundInnen sei eine gute Erreichbarkeit wichtig. »Es muss aber klar sein, dass man auch noch eine Privatperson ist mit Freizeit und Wochenende sofern nichts Dringendes anliegt.« Ihre Strategie: »Klar zu trennen, wann bin ich im Job und wann privat. Dann aber mit ganzer Hingabe!« Auch habe die zweifache Mutter inzwischen gelernt, sich » abzugrenzen von Dingen und Personen, die mir nicht guttun«.
Eine Erfahrung, die auch Herta Rössl, langjährige Schuldnerberaterin und ausgebildete Psychotherapeutin in Baden bei Wien, teilt. Vor etwa einem Jahr machten sich erstmals Burn-out-Symptome bei der zweifachen Mutter bemerkbar. »Ich fühlte mich erschöpft, war grantig und antriebslos.« Die Beschäftigung in ihrem Garten, intensive Gespräche mit Freundinnen, die Unterstützung ihres Mannes und nicht zuletzt auch das Überdenken des eigenen Lebens mit professioneller Unterstützung halfen ihr schließlich, das emotionale Tief zu überwinden.
So habe die Niederösterreicherin gelernt, manche Dinge zu delegieren, Belastendes schneller loszulassen und die Ansprüche an sich selbst und ihre vielen Rollen als Frau herunterzuschrauben. »Ich nehme mir jetzt auch viel bewusster Zeit für mich.« Im Sommer gönnt sich Herta Rössl sogar zwei Monate Auszeit »für mich, aber auch für meine Familie«.
An der heutigen Gesellschaft kritisiert sie vor allem eines: »Ich bekomme mehr Anerkennung, wenn ich Stress habe und viel beschäftigt bin, als wenn ich sage, dass ich gemütlich lebe.«
Weg vom »TECHNO-STRESS«
Neben der viel zitierten Reizüberflutung und den Informationslawinen interessiert der Begriff »Techno-Stress« zunehmend die Wissenschaft. Im Verlauf eines einzigen Tages wird man in unserer Kulturgesellschaft 70- bis 100-mal mit irgendeinem Prozessor oder Mikrochip konfrontiert. Am Morgen holt uns ein digitaler Wecker aus dem Schlaf, danach verlassen wir uns auf die Helfer im Haushalt (Kaffeemaschine, Kühlgeräte, Mikrowelle etc.). Mit dem Auto, in dem durchschnittlich 200 Mikrochips im Verborgenen wirken, geht es zum Arbeitsplatz, der mit Telefon und Fax, Computer, Scanner und Internet ausgestattet ist. Wir vertrauen der kybernetischen Steuerung von Heizung, Klimaanlagen, Transportsystemen, der digitalisierten Verwaltung und der Medizintechnik. Und wir verschenken zeitgemäßes Spielzeug vom Nintendo bis zum elektronisch gesteuerten Schmusehund.
Die Technik ist Teil unseres Lebens geworden. Doch die »Interfaces«, also die »Schnittstellen« zwischen Mensch und Maschine, funktionieren selten reibungslos. Das im Alltag erlebte Defizit zwischen den technischen Möglichkeiten und der eigenen Nutzungskompetenz kann aus einem »User« schnell einen »Loser« machen. Die Folge ist eine ganze Ansammlung verschiedener körperlicher, geistiger und seelischer Symptome, die ÄrztInnen und PsychologInnen unter dem Überbegriff »Techno-Stress« zusammenfassen.
Typische Auswirkungen sind Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen, Erschöpfung und Gleichgültigkeit, innere Anspannung, Aggressivität und Hyperaktivität, Depressionen und Burn-out.
Betroffen sind keinesfalls Technik-VerweigerInnen, sondern durchaus begeisterte Technik-AnwenderInnen. »Gerade jene, die sich besonders für Hightech interessieren oder beruflich darauf angewiesen sind, tappen schnell in die größte Falle des Infozeitalters«, meint die Psychologin Michelle Weil, Koautorin des Buchs »Technostress: Coping with Technology«.
»Frei nach dem Motto ,Because we can, we do? – Weil es möglich ist, tun wir es auch – versuchen sie, immer mehr in immer kürzerer Zeit zu bewältigen. Und vergessen dabei, dass Menschen eben keine Maschinen sind, die auf multifunktionelles Arbeiten programmiert wurden.« Hinzu kommen gesellschaftspolitische Entwicklungen und neue wirtschaftliche Bedingungen. So steht u. a. fest, dass Zeitdruck und Arbeitsintensität in den vergangenen Jahren EU-weit in allen Branchen zugenommen haben (»European Survey on Working Conditions«).
maximal sieben Hüte tragen
In der Psychologie gibt es eine sehr anschauliche Methode, um herauszufinden, ob man sich tatsächlich zu viel zumutet und sich deshalb überfordert fühlt. Das Prinzip setzt jede Anforderung bzw. jede Rolle, die wir im Leben übernehmen, mit einem (Lebens-)Hut gleich. Mit jedem neuen Lebenshut, den wir uns auf den Kopf setzen (lassen), kommen wir stetig einer Situation näher, in der wir nur noch reagieren statt agieren. Da es viele verschiedene Lebensrollen bzw. Lebenshüte gibt, müssen wir immer wieder von Neuem eine Auswahl treffen.
Denn das Ziel heißt: »Maximal sieben Hüte tragen«. Ist eine Frau also beispielsweise Mutter, Ehefrau, Arbeitskollegin bzw. Unternehmerin, Freundin und Tochter (weil sie sich um ihre alten Eltern kümmert), trägt sie bereits fünf Hüte. Ist sie auch noch Vereinsvorsitzende und begeisterte Tennisspielerin, hat sie mit sieben Hüten die maximale Belastbarkeit erreicht. Es wäre daher nicht ratsam, auch noch die Elternsprecherin in der Klasse ihres Sprösslings zu werden oder eine offizielle Funktion in der Gemeinde zu übernehmen. Möchte sie es dennoch, sollte sie dafür einen anderen »Hut« zumindest vorübergehend ablegen.
Immer wieder das Tempo herauszunehmen und ,kleine Inseln in den Tag einzubauen. Yoga und Meditation haben mir sehr geholfen, mein Leben wieder in Balance zu bringen.
Mindestens ebenso wichtig sei Humor und der regelmäßige Austausch im Freundeskreis. Die »Fülle an Möglichkeiten« ist auch für Coach Laya Commenda immer wieder eine Herausforderung. »So absurd es klingt und so dankbar ich dafür bin, so viele Potenziale und Optionen zu haben, vor allem im Vergleich zu den Frauengenerationen vor mir: Ein derart hohes Maß an Freiheit verlangt ein ebenso hohes Maß an Disziplin, immer wieder neu für mich selbst herauszufinden: Was ist es, was ich wirklich will? Wie will ich arbeiten, wie will ich leben? Ich fühle mich gefordert und manchmal eben überfordert ob der zahlreichen Entscheidungen.« Ihr Nervenkostüm sei oft schon durch das »ganz normale« Alltagsleben ziemlich beansprucht. »Wenn ich mir dann wieder einmal zu viel vorgenommen habe, die Wochenenden heillos verplant sind, dann auch noch mein Kind krank wird oder die Waschmaschine kaputt, wird es eng.«
Es ist höchste Zeit, offline zu gehen.
Davon ist Miriam Meckel, Professorin für Corporate Communication an der Universität St. Gallen, überzeugt. In ihrem Buch »Das Glück der Unerreichbarkeit« (Goldmann Verlag) kritisiert sie den zeitgeistigen »homo connectus«, dessen Bestreben offenbar darin liegt, immer und überall informiert, erreichbar, vernetzt oder Teil irgendeiner Community zu sein.
Meckel: »Die weltweite Datenmenge nimmt stetig zu. Informationen gelangen immer schneller zu uns. Der Mensch kann unmöglich auch nur einen Bruchteil dieser Datenflut bewältigen.« Wir drohen also im Treibsand der Informationen zu versinken. »Glücklicherweise kann der Mensch ausblenden. Wir können verwerfen und gewichten. Nur so überleben wir in einer komplexen und widersprüchlichen Welt, ohne schlicht verrückt zu werden«, so Meckel.
Auch Susanne Strobach, Unternehmensberaterin, Mediatorin und Coach, empfiehlt, mit einfachen Maßnahmen das individuelle »Zuviel« einzudämmen:
1. Trennen Sie sich von Kundenkarten, stornieren Sie Werbemails und Newsletter.
2. Überprüfen Sie Ihr Konsumverhalten.
3. Schränken Sie Ihre ,elektronische Zeit? bewusst ein.
4. Lernen Sie eine Entspannungs- oder Meditationstechnik, schaffen Sie sich ein angenehmes Umfeld, zu Hause wie am Arbeitsplatz.
5. Umgeben Sie sich mit positiven Menschen und üben Sie sich in humorvollen, charmanten und provokanten Reaktionen.
Erschienen in „Welt der Frau“ 11/ 2011 – von Susanna Sklenar