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03/24

Jerusalems Unterwelt

Jerusalems Unterwelt

Notiz #1: Meine abenteuerlichen Erlebnisse im Epizentrum eines religiösen Pulverfasses & als mich Jerusalems Unterwelt verschlang.

Das Pulverfass

Mich scheinen politische Pulverfässer anzuziehen. Vielleicht, weil ich die menschlichen Beweggründe hinter den politischen Konflikten verstehen möchte. Mit 22 setzte ich mich inmitten eines solchen Pulverfasses, als ich beschloss, meine juristische Diplomarbeit über die Umsetzung der Menschenrechte am Beispiel der „Religionsfreiheit in Israel?“ zu schreiben. Mit Rucksack und Laptop bewaffnet stieg ich am Jaffator der Jerusalemer Altstadt aus und ließ den Anblick der jahrtausendealten Stadt auf mich wirken. Es gibt keinen Ort der Erde, der eine solch fesselnde, aber auch zerstörerische Energie verströmt wie diese Stadt. Für mich zumindest.

Der perfekte Ort mit einem Haken

Ich wollte meine Diplomarbeit im Epizentrum dieses religiösen Pulverfasses schreiben und fand ein Zimmer, ganz nahe der Klagemauer, das sich wie eine Brücke über eine kleine Gasse zwischen dem jüdischen und dem palästinensischen Altstadtviertel erstreckt. Von einem Fenster aus konnte ich das Treiben der orthodoxen Jüdinnen und Juden und vom anderen das meiner palästinensischen NachbarInnen beobachten. Der perfekte Ort, um über Religionsfreiheit zu schreiben, in einem Land, in dem dieses Menschenrecht ununterbrochen mit sich selbst kollidiert. Meine neue Bleibe hatte nur einen Haken: meine Vermieterin Ilona, die an Wahnsinnsattacken litt und deren zweites Zuhause die Jerusalemer Nervenheilanstalt war. Ilona hatte als Kind den Holocaust überlebt und war später in Israel eine renommierte Ärztin geworden. Der Ursprung ihrer Krankheit lag in den Erlebnissen ihrer Kindheit, doch erst im Alter hatten sich ihre Anfälle und auch ihre Albträume immer mehr gehäuft.

Arafat

Ilona fand die Idee meiner Diplomarbeit brillant und bestand darauf, mir zu helfen. Sie habe Freunde in den höchsten Kreisen, kenne sogar Arafat persönlich, dessen Sohn sie einst das Leben gerettet habe. Als Ärztin wurde sie sowohl von den Palästinensern als auch von den Juden geschätzt. Sie half beiden und glaubte unerschütterlich an den Frieden. Vier Monate lang lebte ich bei ihr als die Tochter, die sie selbst nie hatte. Ich verdanke ihr viele unvergessliche Erlebnisse, die immer grotesker und abenteuerlicher wurden, je näher sie dem nächsten Anfall kam. Sie war wochenlang besessen davon, ein persönliches Treffen zwischen mir und Arafat zu organisieren und führte kryptische Telefonate bis in die höchsten Kreise. Sie werde vom Mossad abgehört und müsse auf der Hut sein. Ich weiß bis heute nicht, ob sie Arafat wirklich gekannt hatte, oder ob er nur Teil ihrer Wahnvorstellungen war. Vielleicht hätte ich ihn damals wirklich getroffen, hätte nicht ihr schizophrener Anfall einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Die geheimnisvolle Unterwelt

Einmal weckte Ilona mich mitten in der Nacht auf, sie würde mir die Unterwelt der Klagemauer zeigen, ein Ort, der Nichtjuden normalerweise unzugänglich war. Der Ort, an dem sich angeblich noch die Reste des ersten Tempels befanden. Ein geheimes, von Öllichtern erleuchtetes Labyrinth von tausendjährigen Gängen, von dem die allerwenigsten wussten. So stolperte ich mitten in der Nacht hinter Ilona her, hinunter zur Klagemauer und dann hinein in dieses unterirdische Jerusalem, diese geheime Stadt unter der Stadt. Tief im Inneren dieses von unterirdischen Wasserkanälen, alten Mauern und von Höhlen durchzogenen Labyrinths sah ich sie: unzählige ultraorthodoxe Juden. Jeder betete in seinem Rhythmus, jeder für sich alleine. Es war sehr friedlich dort unten, wie in einem Traum.

Und dann begriff ich: Ilona hatte mich mitgenommen, um mir, der Ungläubigen, die über Religionsfreiheit schrieb, die Essenz ihres jüdischen Glaubens nahe zu bringen. Nicht mit Worten, nur mit Bildern. Ich bin später noch oft die Treppen hinuntergestiegen zur Klagemauer und habe verstohlen jenes uralte Eisengitter betrachtet, das den Eingang in die Jerusalemer Unterwelt versperrt. Doch ich sah es nie mehr geöffnet.

Natalie Halla

spricht sechs Sprachen, ist weitgereist und arbeitet als unabhängige Filmemacherin. Ihre „Notizen einer Abenteurerin“ bieten sehr persönliche Einblicke in eine unbekannte, spannende Welt abseits üblicher Reiserouten und befassen sich auch mit sozialen und humanitären Ungerechtigkeiten, denen sie begegnet ist.
www.nataliehalla.com

Foto: Alexandra Grill

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  • Veröffentlicht: 10.06.2020
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