Notiz #9: Über ein verlorenes Flüchtlingsboot & als ich in den Erinnerungen meines Bruders reiste. Von Natalie Halla.
Das kleine Schlauchboot
Mein Adoptivbruder Ngoc und ich stehen am felsigen Ufer der kleinen griechischen Insel und blicken über das schäumende Meer hinüber zu den Lichtern des türkischen Dorfes, das zum Greifen nahe wirkt. Es ist Februar und bitter kalt. Ich frage mich, wie der Anblick für die Flüchtlinge sein muss, die jetzt dort drüben, versteckt in den Wäldern, auf ihre einzige Chance warten. Für sie muss Europa jetzt so nahe erscheinen und doch trügt der Schein. Denn in dem schmalen Streifen Meer lauert der Tod. Die spanischen RetterInnen neben mir verfolgen nervös auf dem Handy die Position eines kleinen Schlauchbootes, das trotz Sturmwarnung und hohem Wellengang die Überfahrt gewagt hat. Stunden vergehen, doch das Dingi kommt kaum näher. Wir zünden ein Feuer am Ufer an, um dem kleinen Boot den Weg zu weisen. Nur ein Lichtstrahl inmitten des schwarzen Meeres signalisiert, dass es dort noch Leben gibt. Irgendetwas muss passiert sein. Zu lange dauert schon die Überfahrt und zu unwirtlich ist die heutige Nacht. Wie kalt muss es dort draussen auf dem offenen Meer sein? Sind auch Kinder an Bord?
Die Geschichte meines Bruders
Ich beobachte meinen Bruder, dessen Blick starr aufs Meer gerichtet ist und ich erahne, dass er ein fernes, viel größeres Meer sieht. Ein Meer, das vor 40 Jahren beinahe sein Grab geworden wäre. Damals, als auch er, ein kleiner Junge in den Bambuswäldern der vietnamesischen Küste versteckt, auf seine Chance gewartet hatte. Die Geschichte meines Bruders Ngoc ist in den Geschichtsbüchern nachzulesen. Er gehört jener Generation von vietnamesischen boat people an, die nach dem Vietnamkrieg vor der Armut und vor den Repressalien des kommunistischen Regimes, aber auch vor dem Krieg mit den Roten Khmer geflüchtet waren. Zwei Tage und zwei Nächte dauerte damals seine Überfahrt nach Malaysia. Er ahnte nicht, dass dies erst der Anfang einer langen Odyssee war. Denn Soldaten der Malaysische Küstenwache fingen die Flüchtlinge ab, warfen ihren Kompass ins Meer und zogen sie zurück hinaus auf die offene See. Als ein Gewitter kam, wurden die Seile gekappt und die Menschen ihrem Schicksal überlassen. Die letzte schmutzige Arbeit sollte das Meer verrichten. Schon nach kurzer Zeit waren die letzten Vorräte verbraucht und der Motor leer. Über all das, was danach kam hat sich ein gnädiger Nebel des Vergessens gelegt. Das Weinen der jüngeren Kinder, die wachsende Lethargie an Bord und die Stille, die irgendwann einsetzte. Tagelang trieb man verloren im Meer und wartete auf ein Wunder. Das Wunder kam, keine Sekunde zu früh, in der Gestalt eines malaysischen Fischers, der den Menschen Wasser, Reis und Benzin gab und ihnen die Richtung wies, in der eine Flüchtlingsinsel lag, auf der mein Bruder noch ein ganzes Jahr lang überleben musste, bis er als unbegleitetes Kind Asyl in Österreich fand und ein unersetzlicher Bestandteil meiner Familie wurde.
Wer ein Menschenleben rettet
Der Wind hat gedreht und weckt mich mit einem Regenschwall aus den fremden Erinnerungen. Ich versuche, das kleine Schlauchboot irgendwo zwischen den Wogen zu sichten. Doch der Wind bläst jetzt Richtung Osten, zurück in die Türkei. Sollte der Motor des Dingis nicht mehr funktionieren, dann gibt es für die Menschen bei diesem Wellengang kaum mehr eine Chance. Irgendwann geht auch die Verbindung mit dem Boot verloren. Wir beten, dass es nur am Akku des Handys liegt, das zuvor die Signale gesendet hat. Längst hat man Alarm geschlagen, doch kein Schiff kommt zur Hilfe. Nach Minuten, die wie Stunden erscheinen, taucht am Horizont die weiße Silhouette der Seawatch auf und die Anspannung fällt sichtbar von uns allen. Ein Boot, das es schaffen wird. Menschen, deren Geschichte kein Meer verschluckt. Ich blicke glücklich der Seawatch nach und bin im Gedanken wieder beim malaysischen Fischer, unendlich dankbar, dass er meinem Bruder damals das Leben rettete. Ein jüdisches Sprichwort kommt mir in den Sinn „Wer ein Menschenleben rettet, rettet die ganze Welt“ und ich denke mir, in diesem Satz liegt so viel Wahrheit.
Natalie Halla
spricht sechs Sprachen, ist weitgereist und arbeitet als unabhängige Filmemacherin. Ihre „Notizen einer Abenteurerin“ bieten sehr persönliche Einblicke in eine unbekannte, spannende Welt abseits üblicher Reiserouten und befassen sich auch mit sozialen und humanitären Ungerechtigkeiten, denen sie begegnet ist.
www.nataliehalla.com
Foto: Alexandra Grill
Fotos: Natalie Halla