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04-05/24

Der Traum des Schamanen

Der Traum des Schamanen

Notiz #2: Meine Reise zu den Waorani Indianern & als ein alter Schamane mir von der Zukunft erzählte

Der kämpferische Schamane

Kemperi, der 94-jährige Waorani-Indianer, balanciert humpelnd und doch noch überraschend gelenkig über zwei Baumstämme zu seiner Hütte aus getrocknetem Urwaldlaub. Ein schmaler Streifen Sumpf, immer wieder genährt durch die sintflutartigen Regengüsse des Amazonas, trennt sein Zuhause von der alten Landebahn, die Ölfirmen in den 70er-Jahren im ecuadorianischen Regenwald erbaut hatten, um mitten im heiligen Wald der Waorani eine prosperierende  Ölförderanlage zu errichten. Die Waorani fragte damals niemand um Genehmigung. Auch heute nicht. Doch Kemperi, damals schon Häuptling und Schamane seines Waorani-Stammes, beendete die Invasion der Ölfirma mit einer Handvoll Speere. Zwei Arbeiter der Ölfirma hatte er damals eigenhändig getötet. Ein Kampf David gegen Goliath, den David gewann und doch waren unter den Opfern wieder einmal die Falschen. Einfache Ölarbeiter, die nur ihren Lebensunterhalt verdienen wollten und nichts verstanden von einem Urwald, der seit Jahrhunderten die Überlebensgrundlage einer einzigartigen Indianerkultur bildete und den sie im Begriff waren in nur wenigen Stunden für immer zu zerstören. Nach der erfolgreichen Vertreibung der Ölfirma siedelte sich Kemperis Stamm rund um die erbaute Landebahn an, als Symbol des Widerstands und als unausgesprochene Warnung.

Der Tod des Enkels

Jetzt sitze ich vor ihm auf der niedergestampften, sauber gekehrten Erde seiner kleinen Hütte und betrachte verstohlen seinen nackten, von unzähligen Falten durchzogenen Körper. Seine Augen erzählen all das, was sein Mund mir, der Fremden gegenüber, verschweigt. Mir wird eigenartig bewusst, dass es das erste Mal in meinem Leben ist, dass ich jemandem begegne, der eigenhändig andere Leben ausgelöscht hat. Irgendwann erzählt er mir von seinem Traum, in dem ein Jaguar ihm den gewaltsamen Tod seines Enkelsohnes durch einen feindlichen Speer vorausgesagt hatte. Ein paar Monate später war der Traum in Erfüllung gegangen und Kero, der junge Enkel Kemperis, auf seiner vierzehnstündigen Flussfahrt bis zum Ende des Waorani-Regenwaldes von einem feindlichen Stamm getötet worden. Der niedrige Flusspegel während einer Trockenperiode, der ihn zwang, sein Floß kurz zu verlassen, war für ihn zur tödlichen Falle geworden. Im Amazonas-Regenwald gelten andere Gesetze. Gesetze, die wir Fremde nicht verstehen. Wer die rote Zone, das Gebiet des feindlichen Bruderstammes, durchquert, muss sich hüten. Jetzt erst verstehe ich die Nervosität meines Guides, als auch wir stundenlang mit unserem Boot die rote Zone durchqueren mussten, um zu Kemperi zu gelangen. Ich versuche, nicht an die Rückfahrt zu denken.

Noch ein Traum

Ich frage den alten Schamanen, ob er seine eigene Zukunft und die seines Volkes voraussehen kann. Dabei denke ich an die verwüstete Randzone des Amazonas, die ich bei der Anreise stundenlang per Pick-up durchquerte. Gerodete Bäume, meterhohe Ölflammen inmitten einer armseligen Landschaft, die noch vor wenigen Jahren ein prächtiger Urwald war, unzählige Ölleitungen neben der frisch errichteten Asphaltstraße und Baumaschinen, überall Maschinen und Lärm. Kemperi blickt mir dieses Mal direkt in die Augen, als wären meine Bilder die seinen und nickt nur, doch er sagt nichts mehr. Lange Zeit hindurch schweigt er und als ich schon gehen will, um den alten Mann in Frieden zu lassen, nimmt er noch einmal meine Hand und erzählt mir das Ende seines Traumes: der Jaguar habe ihm den baldigen Tod von drei weiteren Menschen durch den kriegerischen Bruderstamm vorausgesagt. Ich blicke mich um und beginne zu zählen: Pako, mein Guide und ich. Wir schauen uns beklommen an und denken alle drei dasselbe. Doch da erinnere ich mich an die Schamanin Saintsegeg, eine Dukha Rentiernomadin, der ich im Norden der Mongolei, nahe der sibirischen Grenze begegnet war. Sie hatte mir damals ein langes Leben und eine glückliche Zukunft vorausgesagt. Uns hatte der Jaguar nicht gemeint.

Natalie Halla

spricht sechs Sprachen, ist weitgereist und arbeitet als unabhängige Filmemacherin. Ihre „Notizen einer Abenteurerin“ bieten sehr persönliche Einblicke in eine unbekannte, spannende Welt abseits üblicher Reiserouten und befassen sich auch mit sozialen und humanitären Ungerechtigkeiten, denen sie begegnet ist.
www.nataliehalla.com

Foto: Alexandra Grill

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  • Veröffentlicht: 16.06.2020
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