Aktuelle
Ausgabe:
Bewegung
04-05/24

Ohne Vater kann hier keiner leben

Ohne Vater kann hier keiner leben

Cems Vater hat die Familie verlassen, mehrmals sogar, erst nur für einige Zeit, dann für immer. Zurück bleiben Sohn und Mutter, letztere verstört, ärgerlich, auf den Sohn hoffend. Cem erzählt aus der Ich-Perspektive das Leben der Familie, vom Vater, einem hochgewachsenen, schlanken, gut aussehenden Mann, von Beruf Apotheker.

„Noch heute, mit fünfundvierzig, also knapp dreißig Jahre später, liebe ich den Duft alter Apotheken mit ihren Holzschränken. (S. 9)“

Als Cem erkennt, dass vom Vater lediglich dessen Geruch nach kölnisch Wasser und Tabak übrig geblieben ist, wird sein Ehrgeiz stärker, er strebt eine gute Universität an und glaubt insgeheim fest daran, Schriftsteller zu werden. Geld spielt im gesamten Roman des Literaturnobelpreisträgers eine wichtige Rolle, zuerst in dem Mangel an Geld, dann im Anlegen des großen Geldes, das Cem mit seiner Firma scheffelt. Da ist ein Junge, der nach einem starken Vorbild sucht, der einem bekannten Brunnenmeister folgt, der ihm Ruhm und guten Verdienst verspricht. Der Brunnenmeister Mahmut arbeitet hart, teilt seine Lehrlinge ebenso hart ein und durchlebt mit ihnen Phasen der Euphorie wie die der Verzweiflung: Stoßen sie auf Wasser oder hat sich die Entscheidung, ausgerechnet an dieser oder jener Stelle mit dem Graben zu beginnen, als falsch herausgestellt.

Cem genießt die Geschichten des Brunnenmeisters Mahmut, zweifelt aber immer stärker daran, dass sie bei dem Auftrag auf Wasser stoßen: Zweifel an den Entscheidungen des Meisters, des starken Mannes, treiben den Jungen stärker zum Theater, zu den Künsterlinnen und Künstlern, darunter zur rothaarigen Schauspielerin, die ihn zu mögen scheint. Es ist Cem, der den Meister verletzt im Brunnen zurücklässt und im Glauben, ihn getötet zu haben, flieht. Die Flucht prägt die Wahl seines Studiums der Geowissenschaften, der Traum, Schriftsteller zu werden, scheint vorerst ausgeträumt zu sein.

Die Geschichte um Vater und Sohn, um Väter und Söhne, das Graben nach Wasser als ungewisses Unterfangen, die Flucht des Sohnes und die Kraft des Verdrängten: Hier erzählt Orhan Pamuk eine politische Tragödie, verweist auf Ödipus, beschreibt die politische Situation der Türkei: Wer will nach den Sternen greifen, wer die Vergangenheit würdigen und heben, welche Rache nehmen die vergessenen Söhne? Zuviel darf man beim Rezensieren nicht verraten, daher nur ein Zitat noch, denn die Rolle der rothaarigen Frau eröffnet sich im Verlauf der Geschichte, verdichtet die Sehnsucht nach Theater, Schauspiel, Literatur und Kunst. Die Sehnsucht, Schriftsteller zu werden, geht an die nächste Generation weiter, vielleicht wird sie ja auch erfüllt.

„Ich bin so glücklich, dass du den Roman schreiben wirst! Und wenn du fertig bist, tust du auf den Umschlag das Bild da und erzählst ein bisschen was von der Jugend deiner schönen Mutter. Schau, die Frau da sieht mir ähnlich. Du weißt natürlich besser als ich, wie du mit dem Roman anzufangen hast, aber genau wie meine Bühnenmonologe soll er sowohl aufrichtig als auch wie ein Märchen sein. Ehrlich wie eine Geschichte, die man selbst erlebt hat, und wohlbekannt wie eine Legende. ... Vergiss nicht, auch dein Vater wollte eigentlich Schriftsteller werden. (S. 284)“

Was Sie versäumen, wenn Sie das Buch nicht lesen: Geschichten, Legenden, starke Charaktere, Leidenschaft, Wahrheit, Ehrgeiz, Trauer, Schicksal – Lust darauf, mehr zu wissen, über Tradition und Moderne zu diskutieren, nachzudenken darüber, was eigentlich „die heutige Türkei“ ausmacht, ausmachen könnte.

Orhan Pamuk, 2006 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet, 1952 in Istanbul geborgen, hat Architektur und Journalismus studiert. Seine Romane wie „Das Museum der Unschuld“ „Cevdet und seine Söhne“ oder „Diese Fremdheit in mir“ greifen aktuelle Themen auf, skizzieren die Türkei in ihrer Zerreisprobe zwischen Tradition und Moderne, setzen auf starke Charaktere und machen das Private immer auch zum Politischen.

Gerhard Meier, 1957 geboren, ist preisgekrönter Übersetzer, 2011 bekam er den Deutsch-Türkischen Übersetzerpreis Tarabya; 2014 den Paul-Celan-Preis.

Orhan Pamuk:

Die rothaarige Frau.

Roman.

Aus dem Türkischen von Gerhard Meier.

München: Hanser Verlag 2017.

284 Seiten.

Christina Repolust

wurde 1958 in Lienz/Osttirol geboren. Sie schloss das Studium der Germanistik und Publizistik in Salzburg ab. Seit 1992 ist sie Leiterin des Referats für Bibliotheken und Leseförderung der Erzdiözese Salzburg und unterrichtet nebenbei Deutsch als Fremdsprache. Zudem leitet sie Literaturkreise und Schreibwerkstätten für Groß und Klein. Ihre Leidenschaft zu Büchern drückt die promovierte Germanistin so aus: „Ich habe mir lesend die Welt erobert, ich habe dabei verstanden, dass nicht immer alles so bleiben muss wie es ist. So habe ich in Romanen vom großen Scheitern gelesen, von großen, mittleren und kleinen Lieben und so meine Liebe zu Außenseitern und Schelmen entwickelt.“

  • Teile mit:
  • Veröffentlicht: 29.11.2017
  • Drucken