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04-05/24

Wie kommt man zu einer eigenen Meinung?

Wie kommt man zu einer eigenen Meinung?

Bürgerkrieg im Nahen Osten, Freihandelsabkommen mit den USA, Abschottung der EU-Außengrenzen, Klima schützen – wissen Sie schon, was Sie gut und was Sie bedenklich finden?

Wir standen nach einer Veranstaltung am Buffet und waren zu dritt auf das Thema „Flüchtlingskrise“ geraten. Zu meinem Erstaunen redete sich der Herr in unserer Runde, ich kannte ihn nicht, immer mehr in Rage. Es gebe nur eine Lösung: Die Flüchtlinge müssten zurück in ihre Heimat.

Wie das gehen solle, wenn in Syrien noch Bürgerkrieg herrsche, fragte ich. Das sei doch kein Problem, meinte er und legte so richtig los. Man müsse nur einen Bereich in Syrien definieren, in den man mit Bodentruppen einrücke. Dann werde dieses Stück Land mit einer Grenze gesichert und drinnen werde „Ordnung gemacht“.

Dorthin würden dann die Flüchtlinge aus Europa zurückgeführt und könnten ihr Land wiederaufbauen. Ich war ob der Einfachheit der Lösung erstaunt. Ob er Söhne habe, fragte ich. Ja. Könne er sich vorstellen, dass die als Soldaten in Syrien einmarschieren? Natürlich nicht, tönte es zurück.

Dafür gebe es ja genügend Idioten, die gerne kämpfen, die sollten das machen. Ich war perplex, nicht nur aufgrund der zynischen Ansage, dass das Leben von „Idioten“ weniger wert sei als das seiner Söhne, sondern auch dass der Mann überzeugt war, seine Lösung sei ein Goldgriff. Nur die Politikerinnen und Politiker rundum seien zu dumm und zu feige, das auch so zu sehen.

Die eigene Meinung ausdrücken

Einfache Lösungen für komplexe Probleme heißen oft „eigene Meinung“. Das ist legitim. Man könnte sie aber auch als Zeichen der Selbstüberschätzung sehen. Oder als eines der Überforderung. Tatsächlich werden wir in Zeiten der Globalisierung mit vielen Problemen gleichzeitig konfrontiert. Viele Themen wie etwa der Bürgerkrieg in Syrien sind äußerst vielschichtig.

Alle ExpertInnen brauchen schon für die Erklärung der Fakten mehr Zeit, als in Medien durchschnittlich dafür vorgesehen ist. In analogen Medien wie Zeitungen, Radio und Fernsehen verkürzen sich Texte und Beiträge ständig, weil das Publikum sonst aufhört zu lesen oder wegschaltet. Der schnelle Daumen ist der Feind der gründlichen Information.

Ich weiß es nicht?

Aber kann man ohne Information eine fundierte Meinung haben? Kann man, noch weiter gedacht, überhaupt zu allen Themen, die kursieren, eine Meinung haben? Wäre es nicht viel öfter besser, zu sagen: „Ich weiß es nicht, ich habe dazu noch keine Meinung“?

Meinung wird oft mit einer Art Kurzschluss zwischen Bauchgefühl und plausibler Schlagzeile verwechselt. Das Erste sagt, etwa im Fall Syrien: „Ich will, dass es eine Lösung gibt, und die kann nicht bei uns stattfinden.“ Die Schlagzeile hat indes dem Gefühl schon die plausiblen Stichworte geliefert wie „Bodentruppen“, „Wiederaufbau“ und so fort. 

Was als eigene Meinung formuliert wird, ist oft aber auch nur eine Kopie von schon Gelesenem oder Gehörtem. Wir übernehmen Sichtweisen aus Medien, sozialen Netzwerken oder Werbeplakaten. Was andere denken und sagen wird aber häufig mit dem Ziel verbreitet, uns gezielt zu beeinflussen.

Selten bis nie hinterfragen wir, auf welchem faktischen Boden solche Manipulationen stattfinden. Können wir auch gar nicht. Wie sollten wir eine bessere Lösung für das Problem in Syrien haben als die Scharen von Expertinnen und Experten, die naturgemäß viel mehr wissen als wir. 

Soziale Medien und der Druck zur eigenen Meinung

Die Geschwindigkeit moderner sozialer Netzwerke bringt noch mehr Druck, sich schnell zu einer Angelegenheit zu äußern. Wer hat in diesem Fall jedenfalls einen Vorteil? Wer diese Medien für die eigenen Interessen nutzt und eine plausible Erklärung, die als Grundlage für eine Meinung dienen kann, anbietet. Der hat dann Follower und Likes, auch wenn der Inhalt nichts anderes ist als „Bullshit“.

Dieses Vokabel aus der amerikanischen Umgangssprache bedeutet so viel wie „große Scheiße“, entschuldigen Sie den Ausdruck. Harry G. Frankfurt bezeichnet so Behauptungen, deren Wahrheitswert keine Rolle mehr spielt. Wir alle, sagt der US-amerikanische Philosoph, müllten die moderne Welt mit „Bullshit“ zu, weil wir Meinungen und Behauptungen verbreiteten, die schlicht nicht wahr seien – was uns aber egal sei. 

Wie kommen wir dem aus? Meinungsaskese ist eine Möglichkeit. Genaues Nachfragen bei Behauptungen eine andere. Wir werden aber auch die Basis unserer Meinungsbildung an glaubwürdige Menschen delegieren müssen. Wer hat in der Syrienfrage eine ausgewogene, ruhige, mit vorschnellen Antworten sparsame Position? Womöglich erleben wir sogar die Renaissance eines gut recherchierten, unabhängigen Journalismus. Ich bin jedenfalls überfordert, wenn ich sagen sollte, wie man den Bürgerkrieg in Syrien lösen kann.

Christine Haiden ist der Druck, schnell zu allem und jedem eine Meinung zu haben, unangenehm. Was kann man zu so manchem schon sagen?

Vom Druck, eine Meinung zu haben

  • Wenn Menschen gezwungen sind, über Dinge zu reden, von denen sie nichts verstehen, kommt meistens „Bullshit“ heraus, fein übersetzt: belangloser Unsinn.
  • Der amerikanische Philosoph Harry G. Frankfurt hält das für ein Problem moderner Demokratien. Einerseits müsse man sich zu einer Vielzahl von Themen eine Meinung bilden, andererseits seien aber Zeit, Aufmerksamkeit und Wissen gering – die vorgefertigten Meinungsbausteine in sozialen und anderen Medien dafür aber umso verführerischer.
  • Wie damit umgehen? Eine gesunde Skepsis gegenüber öffentlichen Meldungen und eine Zurückhaltung, nicht überprüfbare oder überprüfte Meinungen weiterzugeben, könnten ein erster Schritt sein, meint Frankfurt.

Welt der Frau, die österreichische Frauenzeitschrift, Juni 2016Erschienen in „Welt der Frau“ Ausgabe Juni 2016

Illustration: www.margit-krammer.at

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  • Veröffentlicht: 23.06.2016
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