Gedankenverloren wartet Hilde Kriegler* im Schönbrunner Schlosspark. Ihre Geschichte erzähle sie mir nur im Freien, damit niemand lauschen kann, hatte sie mir zuvor am Telefon erklärt. Im beigen Cape wirkt die 55-jährige Hausfrau, die ihren Beruf als Pädagogin aufgab, wie eine noble Stadtdame. Seit 20 Jahren ist sie verheiratet, seit 15 beherrscht das Grübeln über ihre Ehe ihr Leben. Ihr Mann blicke durch sie hindurch, schließe sie aus, sagt sie, und umklammert fest ihre Tasche. „Wirst schon recht haben“ sei das Einzige, was er von sich gibt. Dennoch erträgt sie seine Zurückweisungen. Ihre Wut auf sein verletzendes Verhalten. Und sogar die Erkenntnis, dass sie „keine Schiene“ mehr für einander haben. Der Wille, zu erfahren, wie es in seinem Herzen aussieht, besetzt sie. Um ihn nicht zu nerven, schluckte sie ihren Kummer hinunter und schlitterte in eine Depression. Seither teile sie sich zwar mit, doch alles sei beim Alten: „Lasse ich mich scheiden, stehe ich vor dem Nichts. Das packe ich seelisch nicht.“
Kriegler spricht ohne Punkt und Komma, als entlade sich ein innerer Kommunikationsstau. Es sei ein prekäres Lebenskonzept, wenn Frauen glauben, dass sie in der Ehe ihr Glück fänden und dann alles gut sei. Mit ihrer Tochter will sie demnächst über „diese unterschwelligen Erwartungen“ reden: „Zuerst hab Freude mit dir selbst. Dann wage es, jemand anderen zu lieben!“ Leider würden das wenige tun und deshalb „so schrecklich“ aneinander leiden.
Beziehungssucht ist ein weitverbreitetes Phänomen. Etwa 16 Prozent der Bevölkerung seien durch „Nichtliebe geformt“ und lebten in Partnerschaften mit Suchtcharakter, schätzt der deutsche Psychoanalytiker Arno Gruen. In Österreich beträfe das demnach 1,4 Millionen Menschen. Was anfangs wie Liebe aussehe, entpuppe sich als tief wurzelnde emotionale Abhängigkeit, deren Ursachen meist in der Kindheit liegen, erklärt die Wiener Psychotherapeutin Claudia Trausmuth (siehe Interview). Frauen werde oft ihre Sozialisation zum Verhängnis.
SIE WAR WIE LUFT
Bei Kriegler war es so. Heiraten wollte sie nie, war aber meist liiert. In einer kurzen leidvollen Phase als Single mit 35 verspürte sie dann den Wunsch nach Familie. Als sie ihren späteren Mann traf, blendete sie allerlei Zweifel aus, gab Job und FreundInnen auf, zog mit ihm ins Ausland und ließ ihr „altes Leben mit wehenden Fahnen“ hinter sich. Die Realisierung ihrer Idee von Familie war ihr dieses „Opfer“ wert.
Was meinten ihre Eltern dazu? „Ach, von denen war ich längst abgenabelt!“, behauptet sie mit auffälligem Nachdruck. Sie, die vom Land stammt, spricht perfekt gewähltes Hochdeutsch. Nichts soll auf ihre Wurzeln hinweisen.
Den Beginn ihrer Ehekrise datiert Kriegler mit dem Umzug ihrer Familie in ein Dorf. Bei den „Zweibeinern aus der Provinz“ habe sie sich den Ruf als Rabenmutter eingehandelt. „Mein Mann verteidigte uns nicht. Das entfernte mich von ihm“, erzählt sie. Subtil blitzten dort am Land auch Erinnerungen an die „erstickende Welt“ ihrer Kindheit auf einem Bauernhof auf. Fürchterlich hatte sie damals unter den radikalen Vorschriften des „Familienclans“ gelitten, dem sich alle beugten. Hilde Krieglers abweichende Meinung interessierte ihre Eltern nicht. „Ich war anders, als sie sich das vorstellten. Die Verteidigung meiner Ansichten werteten sie als Angriff auf ihre. Ich fühlte mich weder wertgeschätzt noch geborgen und beschützt.“ Die nachbarlichen Anfeindungen jetzt auf dem Dorf beschädigten Krieglers Selbstbild erneut.
Ihr weltoffener Mann stellte anfangs für sie das ideale Kontrastprogramm zum verabscheuten „konservativen Familienmodell“ von früher dar. Doch seine Karriere und die finanzielle Abhängigkeit von ihm verschärften bald ihre Identitätsprobleme: „Ich konnte beliebig auf unser Konto zugreifen, doch ich war nicht mehr Frau meiner selbst.“ Sogar für ihre Mutter sei sie als Hausfrau Luft gewesen. „Nur als Berufstätige hatte sie mich respektiert. Sie stand emotional immer neben den Schuhen.“
Seit dem Tod des Vaters sucht Kriegler die Nähe ihrer Mutter. Neulich gestand sie ihr ihr Ehe-Unglück. Deren Verständnis habe sie überrascht. Von ihrem Mann hingegen distanziert sie sich zumindest geografisch. Er wohnt am Land, sie nun in der Stadt. Dieser unkonventionelle Schritt lässt sie Entschlusskraft spüren, ein Stück Autonomie. Damit holt sie sich „das Lebensnotwendigste“ zurück, bevor sie sich im „Kampf um die Symbiose“ ganz verliert. Die räumliche Trennung ist aber auch ein weiterer verzweifelter Versuch, ihren Mann an sich zu binden. „Vielleicht vermisst er mich, kommt zur Besinnung und verbringt doch wieder mal ein Wochenende mit mir. Schon ein Anruf oder eine SMS würden mich glücklich machen.“ Solange da noch ein Fünkchen Hoffnung ist, wird Kriegler ihn jedenfalls nicht loslassen. Ein Teil von ihr ist immer noch auf der Suche nach Verschmelzung.
KATHOLISCH UND SOLIDE
Verschmelzungssehnsüchte stammen aus der Kindheit. Bei Menschen, die sich an unglücklich machende Beziehungen klammern, gab es meist einen frühen Bruch der Mutter-Kind-Beziehung, analysiert Therapeutin Trausmuth. Die Mutter ist die erste Liebe eines Menschen und daher von größter Bedeutung.
Für Mädchen ist sie zudem erste Orientierungsfigur, ihr Umgang mit Weiblichkeit und Beziehungen beeinflusst auch die Tochter. Wird in den ersten Lebensjahren durch mangelhafte Bindung kein ausreichendes Urvertrauen aufgebaut, entwickelt sich beim Kind kein gesunder Selbstwert. Vernachlässigung, Widersprüche, sexueller, körperlicher oder emotionaler Missbrauch bringen ängstliche Kinder hervor, die als Erwachsene zu Abhängigkeit neigen. Ihre Instabilität, Furcht vor Nähe beziehungsweise vor dem Alleinsein können Krankheitswerte erlangen. Betroffene glauben dann, weil sie es nicht anders kennen, dass Liebe wehtun muss, und führen Beziehungsmuster mit PartnerInnen fort, die altbekannte Gefühle wecken.
Liane Lanz*, 63, glaubte jahrzehntelang, dass es ihr Schicksal sei, „ewige Zweite“ zu sein. Seit ihrer Scheidung nach 38 Jahren Ehe grenzt sich die Hausfrau konsequent von ihrem Exmann ab, der weiterhin im gleichen Haus wohnt. Sie quartiert Fremde bei sich ein, um von der Miete leben zu können. Doch immer noch geißelt sie sich selbst: „Das alles ist meine Strafe. In jungen Jahren war ich selbst Geliebte eines verheirateten Mannes und mischte mich in eine Ehe ein. Diese Rechnung war noch offen.“
Der Selbstwert wurde Lanz im Elternhaus gestohlen. Ihre Brüder hob man in den Himmel. Sie, als Mädchen, Legasthenikerin und Linkshänderin, galt als Mensch zweiter Klasse. Mit 20 flüchtete sie in eine Substandardwohnung nach Wien – und blieb als Geliebte eines verheirateten Mannes die Nummer zwei. Als dieser sie gegen eine andere austauschte, wuchs ihr Sicherheits- und Geltungsbedürfnis: „Ringsum waren schon alle verheiratet, bauten Häuser, schoben Kinderwägen. Ich wollte normal sein wie die anderen.“ Mit 24 lernte sie ihren späteren Mann kennen: „Katholisch, solide, vernünftig – super!“ In der Hoffnung, dass er ihre Minderwertigkeitskomplexe aufhebe und man es „zu zweit besser schafft als allein“, sagte sie Ja zu einer „Vernunftehe“. Bis heute weiß sie nicht, was Schmetterlinge im Bauch sind.
„Am ersten Muttertag kassierte ich von meiner Schwiegermutter die erste Fotze, weil ich ihr gesagt hatte, dass man sich bei uns ins Gesicht schaut, wenn man sich begrüßt“, gesteht Lanz. Ihre Erzählungen klingen wie eine Parodie, völlig entkoppelt von Emotionen. Theaterreif ahmt sie ihren polternden Ex nach: „Zerrede nicht alles!“ Lanz parierte. Ihre Existenzängste fesselten sie an ihn. „Monetäre Abhängigkeit erschwert Frauen den Ausbruch enorm“, erklärt Trausmuth. Aus Angst, auf der Straße zu landen, stellen viele die eigenen Bedürfnisse zurück.
Lanz ertrug übelste Demütigungen. Auch vor Bekannten schwärmte ihr Mann von seinen Internet-Freundinnen: „Alle Akademikerinnen, jung und fesch!“ Als die Kinder pubertierten, zog er aus, ließ sich nur zum Essen blicken. Seine verheiratete Geliebte gab er als Geschäftspartnerin aus. Lanz kniff die Augen zu: „Unter der Woche mach, was du willst. Aber die Wochenenden gehören mir!“, forderte sie. Sogar als ihr Mann ihr kühl entgegnete, er lasse sich nicht erpressen, blieb sie und pflegte ihn nach seinem Herzinfarkt. „Ich streckte ihm die Hand zur Versöhnung aus, obwohl die Kinder flehten: ‚Mama, tu es nicht!‘ Drei Rosen, die ihm sein Liebchen schickte, ignorierte ich und appellierte an seinen Verstand: ‚Du weißt, wer in der Not für dich da ist. Du kannst dich entscheiden.‘“ Er tat es nicht. Als sie eine E-Mail an seine Affäre entdeckte – Inhalt: „Gerade war ich oben essen, doch lieber hätte ich dich vernascht“ – entschied sich Lanz für die Scheidung. Für sich selbst. Ihre Erkenntnis: „Um als normal zu gelten, nahm ich viel in Kauf. Machte mir Druck und lebte eine Ehe, in die mein Herz nicht involviert war.“
KALTE WOHLFAHRT
Wurden in der Kindheit elterliche Fürsorgefunktionen vermisst, betrachten Betroffene ihre PartnerInnen oft als Problemlöser. Grenzsituationen, hohe Verwundbarkeit und Hilflosigkeit sind ein Nährboden für Verstrickungen. Wer einen Menschen unbedingt retten will, steht oft selbst in der Abhängigkeit, weiß die Psychologin Bettina Zehetner. „Jeder Erwachsene ist für sich verantwortlich. Den Partner zum Reparaturprojekt zu machen, ist übergriffig und lenkt von der eigenen Entwicklung ab.“
Astrid Schörg*, 45, kann ein Lied davon singen. Als die Köchin mit 35 dem Vater ihrer Zwillingstöchter begegnete, war sie Single, arbeitslos, verschuldet und ohne familiären Rückhalt. Anfangs wehrte sich die Wienerin gegen eine Beziehung. Doch ihr Galan ließ nicht locker, bezahlte alle Einkäufe, stillte ihren emotionalen Hunger. Da dachte sie: „Liebt dich jemand so sehr, kannst du ihn nicht abweisen. Sein Beistand war Gold wert. Ich verhielt mich wie ein Kind.“ Umschlungen von Wohlfahrt, ignorierte Schörg ihre warnende innere Stimme und heiratete.
Mit der Geburt der Töchter änderte sich alles. Das Paar lebte „wie Bruder und Schwester“. Die Stimmung von Schörgs Mann wechselte zwischen Lethargie und Wut. Ständig forderte er „Zucht und Ordnung“, verurteilte ihre „beschissene Mutterliebe“, rührte aber selbst freiwillig keinen Finger. All diese Erlebnisse riefen bei Schörg die Erinnerung wach, im Stich gelassen worden zu sein. So wie seinerzeit im „kalten Zuhause“.
Umarmungen oder Anerkennung, die sie so sehr vermisste, erfuhr sie nicht. Sollte Nähe entstehen, wurde ihr etwas gekauft. Für Schörgs Eltern, einen Flüchtling und ein Nachkriegskind, war Geld das Symbol für Sicherheit gewesen und folglich Ausdruck
ihrer Liebe. Darunter schien auch Astrid
Schörgs ältere Schwester enorm zu leiden, die ihren Frust auf die Mutter an ihr ausließ und sie ständig malträtierte. Die Mutter suggerierte der kleinen Astrid jedoch, dass sie selbst schuld an den Reibereien sei. „Ich spürte, Mama hat nicht recht. Aber alle redeten mir das Gegenteil ein. Irgendwann verstummte ich. Misstraute meinen Gefühlen.“ Eltern haben immer Autorität, sagt Trausmuth. Kinder vertrauen ihnen blind. Die Folge: Unterwerfung, Opferbereitschaft und Wahrnehmungsverschiebungen.
Damals, in der infantilen Not, war Schörg aus einem Traum erwacht mit den Worten „Ich bin auserwählt“. Seither begleite sie das Gefühl, geborgen zu sein, sagt sie. Auch jetzt greift sie auf diese Ressourcen zurück, hört auf ihr Herz. Die Scheidung war der erste Schritt. Ihre Töchter versorgt sie allein, sie löst ihre Blockaden, lässt sich von niemandem beirren und geht ihren Weg.
SICH SELBST VERGEBEN
Jeder Mensch sollte lernen, sich selbst das zu geben, was er nicht bekam: die gute Mutter, den aufmerksamen Vater. Die Psychologie nennt das „Aussöhnung mit dem inneren verletzten Kind“. Jeder trage dieses in sich, so Trausmuth. „Sobald wir mit ihm zu kommunizieren beginnen und ihm erklären, dass es nun sicher ist, geht man ins Vertrauen. Alles, wovor das Kind sich fürchtet, ist im Jetzt schon vorbei. Als Erwachsener hat man überlebt, kann Schutz bieten.“ Eingebungen, Träume und der Glaube sollten in diesen Prozess integriert werden. Der Glaube sei „sehr hilfreich“, weil er dazu beitrage, Kontrolle über sich zu erfahren, die ureigene Wahrheit auszusprechen sowie Verlorenes oder nie Dagewesenes zu betrauern. In ihm verberge sich „die heilende Kraft, ohnmächtige Wut in gerechten Zorn zu verwandeln“.
Verzeihen heißt also nicht, erlittenes Unrecht zu beschönigen oder schwach zu sein. Wer verzeiht, gestaltet sein Leben aktiv, lässt bewusst den Schmerz los, der an das Opferdasein bindet. Damit überwindet man auch die Passivität, die einen erst dazu trieb, Dinge mit sich geschehen zu lassen und anderen mehr zu vertrauen als sich selbst. Selbstvergebung ist daher der Schlüssel. Ein schneller Schnitt ist keine Lösung. „Nur wer schrittweise und mutig alle Gefühlsregungen wie Angst, Ärger, Wut, Hass, Rache und Trauer durchlebt und liebevoll annimmt, kann die unsichtbare Fußfessel abstreifen, die einen ungesund an den Täter bindet“, sagt Trausmuth. Die Chance dahinter: neue Perspektiven, inneres Wachstum, Frieden und ein Zuwachs an Lebensenergie.
Lesen Sie weiter!
Das Interview mit den Psychologinnen Claudia Trausmuth (www.claudia-trausmuth.at) und Bettina Zehetner (www.frauenberatenfrauen.at) gibt es in der „Welt der Frau“ Ausgabe 9/2014 zu lesen.
Buchtipps
Robin Norwood: „Wenn Frauen zu sehr lieben“. Der Bestseller aus den 1980er-Jahren ist heute noch ein Verkaufsschlager. Die heimliche Sucht, gebraucht zu werden, ist nach wie vor aktuell.
Verlag rororo, 10,30 Euro
Die Angst vor dem Verlassenwerden und Alleinsein wurzelt meist in frühkindlichen Erfahrungen. Daniel Dufours Ratgeber „Das verlassene Kind“ hilft Betroffenen, ihre Gefühle auszuloten.
Verlag Mankau, 14,95 Euro
Mangelnder Selbstwert führt oft zu Abhängigkeiten. In „Heirate dich selbst“ erklärt Veit Lindau, „wie radikale Selbstliebe unser Leben revolutioniert“.
Verlag Kailash, 16,99 Euro
In „Liebe und Abhängigkeit“
beschreiben Brigitte Eckert und Howard Halpern, „wie wir
übergroße Abhängigkeit in einer Beziehung beenden können“.
Verlag iskopress, 19,90 Euro.
Auch als CD um 16,50 Euro erhältlich.
Erschienen in „Welt der Frau“ Ausgabe 9/2014 – von Petra Klikovits