Ich fürchte, ich bin ein hoffnungsloser Fall. Ich habe es versucht und bin kläglich gescheitert, habe mich redlich bemüht und muss demütig gestehen: Nach zehn Tagen konsequenter Langsamkeit, nach Singletasking und Im-Honigtopf-Schwimmen bin ich zwar entschleunigt, aber noch längst nicht enthetzt. Ich bin äußerlich verlangsamt und innerlich rastlos. Stimmt etwas nicht mit mir? Oder mit den Ratschlägen der ExpertInnen? Oder gar mit dieser Welt?
Dabei fängt diese Reise – zumindest im Sinne ihres Mottos – gut an. Was ich beim hastigen Blick auf mein Zugticket für die Abfahrtszeit gehalten habe, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als Ankunftstag. Dieser Umstand beschert mir drei Stunden Nichtstun in Wien Meidling. Ich sitze am Bahnsteig und beobachte die Zeit dabei, wie sie sich dehnt. „Sehr gut“, denke ich. „So hat meine Seele schon mal Vorsprung.“ Schließlich heißt es, nur wenn man zu Fuß gehe, komme sie gleichzeitig mit dem Körper an.
Den ersten Tag in der Ewigen Stadt verbringe ich damit, mich von Cappuccino zu Cappuccino treiben und sämtliche Sehenswürdigkeiten links liegen zu lassen. Ich habe weder Stadtplan noch Reiseführer noch eine Rom-App auf dem Smartphone, und noch ist die Welt in meinem selbst gewählten Entschleunigungslabor in Ordnung. Auch an Tag zwei zweifle ich noch nicht an meiner Fähigkeit zur Tempodiät. „Gelb sehen“ heißt meine heutige Aufgabe, und tatsächlich bringen die leuchtend gelben Zitronen am Markt, die schicke gelbe Tasche der hübschen Frau vor mir und der knallgelbe Opel an der Ecke meine Gedanken ans Gestern und Morgen zum Stillstand. Mein Geist weilt dort, wo mein Körper immer ist: im Hier und Jetzt.
Aber schon am dritten Tag beginnt die erzwungene Langsamkeit mich zu nerven. Ich soll meine Bewegungen in Zeitlupe ausführen, so als würde ich in einem Honigtopf schwimmen. Als Folge versäume ich den Bus, warte eine Stunde auf den nächsten und erreiche den Trevi-Brunnen, der aufgrund einer Baustelle ohnehin kaum zu sehen ist, erst in der Mittagshitze.
ZEN UND ZEH
„Wenn ich gehe, dann gehe ich. Wenn ich esse, dann esse ich. Wenn ich schlafe, dann schlafe ich“, sagte der Zen-Meister zu seinem Schüler. Am vierten Tag meiner Reise versuche ich, es ihm gleichzutun. Bloß: Wenn ich gehe, dann fällt mir ein, dass ich mein Handy vergessen habe, und ich muss noch mal umkehren. Wenn ich esse, dann amüsiere ich mich über die Gespräche der deutschen TouristInnen am Nebentisch, statt mich ganz und gar meinem Rucolasalat zu widmen. Und wenn ich schlafen soll, dann denke ich über tausend Dinge nach. Erst als ich aufhöre, eine Zen-Meisterin sein zu wollen, kann ich mich einigermaßen entspannen.
Tag fünf meines Trips wird noch lange Zeit für Anekdoten herhalten müssen. Es blitzt und donnert, die Terrasse meiner Wohnung ist nass und rutschig, und ich muss schleunigst zum Computer, um meinen heutigen Entschleunigungsbeitrag für den „Welt der Frau“-Blog zu schreiben. So schleunigst, dass ich auf dem Weg dorthin eine kleine Slapsticknummer einlege und mir den Zeh breche. Die Fahrt auf der roten Ducati meines Gastgebers Alessandro in die Universitätsklinik von Rom entschädigt mich für mein Ungemach, und auf der Notaufnahme habe ich viel, viel, richtig viel Zeit, um über das Leben nachzudenken.
„Das ganze Unglück der Menschen kommt daher, dass sie es nicht verstehen, in Ruhe in einem Zimmer zu bleiben“, meinte der französische Philosoph Blaise Pascal. Das war im 17. Jahrhundert. Es gab damals keinen Fernseher, kein Telefon und kein Internet. Heute könnte man Wochen und Monate in einem Zimmer verbringen, ohne jemals zur Ruhe zu kommen. Mein Fuß ist hochgelagert, mein Körper hält still, und doch galoppiert mein Geist davon. Geht das, darf ich das, was ist mit Rom da draußen und was mit den „Welt der Frau“-LeserInnen? Selbst als mein Körper mich zum Nichtstun zwingt, bleibt die Rastlosigkeit im Kopf.
Tag sechs meines Selbstversuchs verbringe ich damit, durch die Straßen Roms zu humpeln und die Minuten zu zählen, die man braucht, um einen Teller Antipasti leer zu bekommen, wenn man jeden Bissen 60 Mal kaut. Tag sieben fülle ich mit Nichtstun aus und beobachte, wie Langeweile, Unruhe und Schuldgefühle in Wellen durch mein Bewusstsein schwappen, auftauchen, vergehen und wiederkehren.
Und dann endlich, am Tag acht, als ich in Florenz am Ufer des Arno stehe und fünf Minuten lang in mein Inneres abtauche, stellt sich ein Gefühl der Zeitlosigkeit ein, ein Zustand inneren Friedens und der Geborgenheit. Auch am neunten Tag meiner Verlangsamungsreise, an dem ich den Blick immer wieder in den Himmel über mir richte, wirkt dieses Erlebnis nach.
Zehnter und letzter Tag meines Experiments, Zeit für ein Resümee. Es fällt nüchtern aus. Man kann wohl nicht von 100 auf null entschleunigen, und der Getriebenheit im Inneren scheint es egal zu sein, ob man im Außen langsam ist oder nicht. Momente der Ruhe und Gelassenheit kann man bestenfalls einladen, aber nicht erzwingen. Zumindest nicht, wenn man keine Zen-Meisterin ist.
Langsamer leben, Tipp 1:
Nichts tun
Kein Buch lesen, keine Atemübungen machen und auch nicht angestrengt positiv denken, sich auch nicht die Zehennägel lackieren, nicht einmal Musik hören oder sich aktiv entspannen und telefonieren natürlich schon gar nicht. Öfter gar nichts tun müssen, wer wünscht sich das nicht? In Wirklichkeit aber ist das Nichtstun für viele Menschen Angst einflößend, und nur wenige beherrschen diese Kunst.
Setzen Sie sich auf Ihre Küchenbank oder auf Ihr Sofa oder legen Sie sich auf Ihr Bett. Schauen Sie in die Luft oder zur Decke. Sagen Sie sich: Ich tue nichts. Beobachten Sie: Gibt es innere Antreiber, leise oder laute Stimmen, die Ihnen sagen, sie sollten nicht einfach herumliegen oder
-sitzen, sondern etwas Sinnvolles tun? Halten Sie es aus, nicht produktiv zu sein? Sind Sie mutig genug, sich aus Ihrem rastlosen Lebensrhythmus auszuklinken und sich mit dem zu konfrontieren, was auftaucht, wenn die Geschäftigkeit des Alltags plötzlich stillsteht?
Achtung – nichts für Feiglinge!
Langsamer leben, Tipp 2:
Slow Motion
Meditation gilt als Königsweg zu innerer Ruhe und Gelassenheit. Doch das stille Sitzen ist nicht jedermanns und jedefraus Sache. Zum Glück gibt es auch bewegte Formen, wie etwa das chinesische Schattenboxen Tai-Chi und andere Kampfsportarten oder auch Qigong, Gehmeditation und meditativen Tanz.
Aber selbst wenn Sie keine Lust oder Zeit haben, eine dieser Disziplinen zu erlernen, können Sie durch achtsame und langsame Bewegungen mehr Bewusstheit in Ihr Leben bringen. Wählen Sie eine Tätigkeit, die Sie jeden Tag ausführen, zum Beispiel das Eincremen mit Bodylotion. Lassen Sie Ihre Hände in Zeitlupe über Ihren Körper gleiten, nehmen Sie die Berührungen, Temperaturunterschiede und andere Empfindungen bewusst wahr. Oder nutzen Sie das Zubereiten von Speisen für eine Entschleunigungsübung und schnipseln Sie Ihr Gemüse meditativ und mit voller Aufmerksamkeit klein, statt darauf herumzuhacken, während Sie in Gedanken ganz woanders sind. Sie können es sich auch zur Gewohnheit machen, Handgriffe nochmals langsamer und liebevoller auszuführen, wenn Sie merken, dass Sie fahrig und achtlos gewesen sind, zum Beispiel beim Schließen des Kofferraumdeckels oder beim Einräumen des Einkaufswagens. In Wahrheit geht es nicht darum, Tätigkeiten möglichst langsam auszuführen,
sondern möglichst achtsam.
Achtung – erfordert viel Übung!
Langsamer leben, Tipp 3:
Aus-Zeit
Es gibt „Black-Hole-Hotels“, in denen Sie dafür bezahlen, keinen Fernseher zu haben und nicht erreichbar zu sein. Es gibt „Freedom-Apps“, mit denen Sie die Internetverbindung Ihres Computers für bestimmte Zeit kappen können, um sich bei Ihren wichtigen Aufgaben nicht ständig unterbrechen zu lassen – oder sich selbst dabei zu unterbrechen. Und immer schon gab es Klöster und andere Rückzugsorte für Menschen, die sich den Luxus einer Auszeit gönnen. Manche Menschen werden zur Auszeit gezwungen, zum Beispiel durch Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Erschöpfung. Andere unterbrechen ihren oft gehetzten Alltag regelmäßig und freiwillig, um gesund zu bleiben, zum Beispiel mit Fasten oder Pilgern. Manche nehmen zumindest einmal im Leben ein längeres Sabbatical.
Finden Sie Ihre Form der Aus-Zeit. Wie können Sie sich heute für kurze Zeit „aus der Zeit nehmen“? Vielleicht, indem Sie auf Zeitung, Fernseher und Online-News verzichten? Oder indem Sie ein heißes Bad bei Kerzenschein nehmen? Ein Mandala ausmalen? Einen Mittagsschlaf halten? Eine Stunde im Kaffeehaus sitzen und die Leute beobachten, statt im Gehen einen „Coffee to go“ aus der Bäckerei zu schlürfen?
Viele kleine Aus-Zeiten sind besser als seltene große, sagen EntschleunigungsexpertInnen.
Achtung – braucht Konsequenz!
Langsamer leben, Tipp 4:
Singletasking
Nicht einmal in der Computerwelt, aus der dieser Begriff stammt, ist echtes Multitasking möglich. Die Prozessoren erledigen in Wirklichkeit nicht mehrere Aufgaben gleichzeitig, sondern springen in minimalen Zeitintervallen zwischen diesen hin und her. Menschen sind für das gleichzeitige Abarbeiten mehrerer Dinge noch viel weniger geeignet als Computerchips. Längst haben WissenschaftlerInnen nachgewiesen, dass Multitasking Zeit kostet und für die meisten Menschen einer der größten Stressfaktoren überhaupt ist. Ausnahme sind die sogenannten Supertasker, die tatsächlich mehrere Dinge gleichzeitig bewältigen können, ohne an Genauigkeit und Effizienz zu verlieren. Aber diese Spezies ist selten.
Probieren Sie es einen Tag lang – oder wenigstens eine Stunde. Lesen Sie nicht in der Badewanne, telefonieren Sie nicht beim Kochen, hören Sie keine Musik bei der Arbeit und lassen Sie im Bus Ihr Smartphone in der Tasche. Nur ein Ding auf einmal. Und dann das nächste. Und das nächste. Achtung – schwieriger, als man denkt!
Lesen Sie weiter!
Interview mit Philosophin Katharina Ceming, Zeitforscher Franz J. Schweifer und Soziologe Armin Nassehi
in „Welt der Frau“ Ausgabe 10/14 – von Laya Kirsten Commenda