Wenn für die Älteren der Familie Betreuung und Pflege nötig werden, stehen viele und heikle Fragen an. Ein Überblick über die Themen, die durchdacht sein sollten.
Wenn Matthäus Pertiller am Morgen aufwacht, verständigt er mithilfe einer Glocke seine Schwiegertochter. Der 87-Jährige ist seit drei Jahren nicht mehr in der Lage, alleine aufzustehen. Er ist durchgehend auf Hilfe angewiesen, auf Pflege und Betreuung. „Fünfmal die Woche wasche ich den Opa im Bett, zweimal kommt eine Pflegekraft des Hilfswerks zum Duschen. Nach der Morgentoilette geht es mit dem Rollstuhl an den Frühstückstisch, ich bereite seine Medikamente vor, messe seinen Blutdruck“, erzählt Heidi Pertiller von ihrer täglichen Arbeit in der Früh. Die 50-Jährige ist eine pflegende Angehörige und seit 17 Jahren durchgehend mit der Pflege von Verwandten beschäftigt. „Angefangen hat es 2001 mit meiner Beteiligung an der Pflege meines Vaters, dann kümmerte ich mich um meine Pflegeeltern und nun ist es mein Schwiegervater, für den ich die Pflege übernommen habe“, sagt Pertiller. Sie ist ausgebildete Krankenschwester, Mutter eines 17-jährigen Sohnes und einer 14-jährigen Tochter.
HÜTEN UND VERSORGEN
Pertillers Betreuungs- und Pflegeaufgabe, die sie für ihren Schwiegervater übernommen hat, ist an Inhalt und Intensität vergleichbar mit dem, was eine Mutter für ihr kleines, noch nicht mobiles Kind Tag für Tag tut – mit dem Unterschied, dass es hier in Richtung Lebensende geht. „Gott sei Dank kann der Opa seine Glocke noch selbstständig betätigen. Das und seine Katheterversorgung machen es natürlich etwas leichter für mich“, erzählt Pertiller. Nach dem Frühstück ist Matthäus Pertiller meist wieder müde und schläft, Heidi Pertiller kümmert sich derweil um den Haushalt, kocht das Mittagessen. Wenn das Wetter passt, dann kann Pertiller senior nach dem Essen ein paar Frischlufteinheiten auf der Terrasse genießen. „Er lebt in seiner Wohnung im Erdgeschoß unseres Hauses, von dort kann ich ihn mit dem Rollstuhl in den Garten bringen“, sagt seine Schwiegertochter. Recht kommunikativ sei der Schwiegervater nicht mehr, er leide unter starker Schwerhörigkeit, damit seien auch Ablenkungen wie Radiohören oder Fernsehen nicht mehr möglich. Diese Schwerhörigkeit sei auch der Grund, warum er die Tagesbetreuung, die es im Ort gibt, nicht nutzen möchte. „Da wäre er zweimal die Woche von 9.00 Uhr bis 16.00 Uhr gut versorgt, hätte Austausch. Aber er fühlt sich dafür zu unsicher.“
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Will ich, kann ich, muss ich das?
Wer vor der Entscheidung steht, Pflege in der Verwandtschaft zu übernehmen, muss zuallererst ehrlich zu sich selbst sein.
Die Mutter, den Vater, einen Verwandten pflegen: Kann ich das und will ich das überhaupt? Müssen einem solche Gedanken peinlich sein?
Marlene Mayr: Solche Gedanken und Zweifel sind berechtigt. Es ist sogar sehr wichtig, ehrlich zu sich selbst zu sein und die Situation realistisch einzuschätzen. Wo sind meine Grenzen? Welches Ausmaß an Betreuung wäre für mich angemessen? Was an Betreuung entspricht unserer gemeinsamen Beziehung? Wer in der Familie kann welche Tätigkeiten übernehmen? Wie kann man das soziale Umfeld, also die Nachbarn, die Freunde, miteinbeziehen? Das sind wichtige Fragen, die man sich stellen sollte.
Was beschäftigt diejenigen, die gepflegt werden, am meisten?
Ist man plötzlich auf Hilfe und Unterstützung angewiesen, kann dies zu Ängsten, starker Verunsicherung und zum Gefühl des Ausgeliefertseins führen. Oft gewinnen gerade dann nahestehende Personen und die gewohnte Umgebung an Wichtigkeit. Mitzubekommen, wie sehr die oder der pflegende Angehörige mit der Situation kämpft, ist ebenfalls schwer. Wir erleben aber auch, dass pflegende Angehörige es zu gut meinen: Sie nehmen dem Gepflegten jegliche Aufgabe ab – und damit auch jede Selbstbestimmtheit.
Was raten Sie beiden Seiten hier?
Wir empfehlen, gemeinsam im Vorfeld Vereinbarungen zu treffen und festzulegen, in welchem Ausmaß und bis zu welcher Grenze eine Betreuung vorstellbar ist und was die jeweiligen Erwartungen sind. Man sollte sich bewusst sein: Auch im besten Fall führen die Pflege und die Betreuung von Angehörigen zu Konflikten, zum Aufeinanderprallen unterschiedlicher Interessen und Wünsche.
Haben Sie Tipps zur „Ersten Hilfe“, wenn man als Pflegende merkt, dass alles zu viel wird?
Reden Sie darüber, fressen Sie Ihren Kummer nicht hinein! Sprechen Sie mit einer guten Freundin, einem guten Freund oder tauschen Sie sich mit Gleichgesinnten aus. Manchmal ist auch professionelle Unterstützung gefragt – wir bieten zum Beispiel kostenlose Beratungsgespräche an, wo man auch einmal Enttäuschung oder Überforderung ansprechen kann. Oft bringt schon solch ein Gespräch ein Stück Handlungsfähigkeit zurück.
Marlene Mayr leitet mit Stefanie Weigerstorfer die Caritas-Servicestelle für pflegende Angehörige in Linz. Beide appellieren an alle Pflegenden: „Nehmt frühzeitig genug Hilfe in Anspruch!“ www.netzwerkpflege.at; www.pflegende-angehoerige.or.at
Die Sache mit den Pflegekräften
Unterstützende Dienstleistungen für Menschen, die daheim Hilfe brauchen oder gepflegt werden wollen – eine Orientierungshilfe. (Quelle: Hilfswerk Österreich)
In Österreich werden 84 Prozent aller Bedürftigen zu Hause gepflegt – 45 Prozent ausschließlich von Angehörigen, 32 Prozent unterstützt von mobilen Pflegediensten, fünf Prozent entscheiden sich für eine 24-Stunden-Betreuung.
Die Heimhilfe unterstützt stundenweise Menschen, die im Haushalt Entlastung benötigen. Die Hilfestellung umfasst Tätigkeiten wie Aufräumen, Wäschewaschen, Bügeln, die Erledigung des Einkaufs oder die Zubereitung von Mahlzeiten, aber auch Unterstützung bei der Körperpflege, das An- und Auskleiden sowie die Begleitung bei Alltagswegen.
Die Hauskrankenpflege ermöglicht eine professionelle gesundheitliche und pflegerische Versorgung in den eigenen vier Wänden. Das Leistungsspektrum umfasst Wund- und Schmerzmanagement, Medikamentenmanagement, etwaige Insulinadaptierungen, die Verabreichung von Injektionen und Infusionen sowie eine Beratung und Anleitung von pflegenden Angehörigen.
Der ehrenamtliche Besuchsdienst – solche Angebote gibt es zum Beispiel beim Hilfswerk, bei der Caritas und in vielen Pfarren – wird von Freiwilligen geleistet, die mit pflege- oder betreuungsbedürftigen Menschen spazieren gehen, lesen, Karten spielen, plaudern oder ihnen einfach nur zuhören.
24-Stunden-Betreuung heißt, dass PersonenbetreuerInnen im selben Haushalt wie die zu betreuende Person wohnen und sie bei der Lebensführung, bei Alltagsaktivitäten und im Haushalt unterstützen.Typische Tätigkeiten sind Hilfe beim Essen, bei der Körperpflege, beim An- und Ausziehen und das Erledigen von Besorgungen. Die BetreuerInnen wechseln sich in einem meist 14-tägigen Turnus ab. Derzeit sind es rund 25.000 Menschen, die dieses Angebot in Österreich nutzen. Eine aktuelle Umfrage des Hilfswerks Österreich zeigt, dass für die Wahl einer 24-Stunden-Betreuung der Wunsch nach dem Verbleib in den eigenen vier Wänden (95 Prozent) ausschlaggebend ist, gefolgt vom Erhalt des sozialen Umfelds (61 Prozent) und der Privatsphäre der betreuten Person (57 Prozent).
Die Kurzzeit- und Urlaubsbetreuung gewährleistet während urlaubs- oder krankheitsbedingter Abwesenheit der betreuenden Person oder während der Wartezeit auf einen Heimplatz für einen begrenzten Zeitraum eine 24-Stunden-Betreuung.
Martina Rosenberg:
Wege aus der Pflegefalle. Die Eltern pflegen – ein eigenes Leben führen.
Herder Verlag, 14,99 Euro
Manuela Mitterer:
Wenn schon Pflege, dann bitte daheim.
Verlag Berenkamp, 23,50 Euro
Ulrike Docekal/Ilse Zapletal/Bärbel Mende-Danneberg:
Der Pflege-Ratgeber: Pflegeheim – 24-Stunden-Betreuung – Erwachsenenvertretung – Vorsorgevollmacht (Ausgabe Österreich).
Linde Verlag, 24,90 Euro
Häufige Fragen und wichtige Fakten zum Thema finden Sie in der Printausgabe.
Foto: Alexandra Grill
Erschienen in „Welt der Frauen“ 11/18