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07-08/24

Fotografie erinnert

Fotografie erinnert
Rasch noch ein Foto! Die Kamera erlaubt es, Augenblicke festzuhalten, die Zeit stillzustellen. Was passiert aber, wenn wir immer mehr digitale Bilder produzieren? Werden wir uns noch an sie erinnern können? Überlegungen zur Entwicklung eines sehr schnelllebigen Mediums.

Dieses letzte Bild von meiner Großmutter und mir erinnert mich immer wieder daran: Schon lange bevor mein Kind zur Welt kam, war sich die 96-Jährige sicher, dass es ein Bub wird. Ein richtiger Böhmerwaldspross, und der Gedanke daran ließ ihr vor Freude die Tränen über die Wangen kullern. Sie selber war als Sudetendeutsche am Ende des Krieges ausgesiedelt worden, verbrachte ihr weiteres Leben weit weg von der alten Heimat.

Dass nun ihr Urenkel im Mühlviertel, praktisch im Böhmerwald, das Licht der Welt erblicken sollte, rührte sie zutiefst. Als mein Sohn schließlich geboren wurde, zeigte man ihr die druckfrischen Fotos des Säuglings, sie lächelte zufrieden und verstarb noch in derselben Nacht. Vielleicht waren einfach ihre Lebenstage verbraucht, aber irgendwie blieb doch bei allen, die dabei waren – auch bei den Unsentimentalen –, das Gefühl, sie hätte auf diese Bilder gewartet.

Seit der Erfindung der Fotografie prägt der Fortschritt dieses Medium. Von der ersten öffentlich präsentierten „Daguerreotypie“ im Jahre 1839 bis zur heutigen „High Dynamic Range“-Aufzeichnung eines realen Momentes gab es aber nicht nur unzählige technische Entwicklungen in diverse Richtungen, sondern immer auch heftige Diskussionen um die Wahrhaftigkeit, die Glaubwürdigkeit des fotografischen Abbildes. Hunderte wissenschaftliche und philosophische Wälzer wurden verfasst, unter anderem über die Moral der Fotografie als Werkzeug. Dennoch bleibt die Fotografie das beliebtestes Medium der Erinnerung, wir verwenden sie in Dokumentationen der Zeitgeschichte, für private Memoiren, für Forschungszwecke, Familienalben.

NICHT OHNE SMARTPHONE
Was geschieht aber, wenn die Kameras uns nicht nur das Erinnern abnehmen, sondern den Sehsinn – und somit das Live-Erlebnis – in den Hintergrund drängen? Bis vor einigen Jahren witzelte man hierzulande noch boshaft über TouristInnen aus Japan, die in Wien vor den Sehenswürdigkeiten standen und scheinbar nur durch Digicams hindurch Urlaub machten, um dann schnell weiterzuhasten. Heute machen wir es mit unseren Smartphones oftmals recht ähnlich und es erscheint ganz normal.

Ein Video, das diesen alltäglichen Wahnsinn sehr deutlich vorführt, gibt es frei im Internet zu bestaunen: „I Forgot My Phone“ („Ich habe mein Handy vergessen“) heißt der Kurzfilm und zeigt im Zeitraffer eine junge Frau, die US-Amerikanerin Charlene deGuzman, der einen Tag lang auf drastische Weise bewusst (gemacht) wird, wie sehr die Smartphone-Benützung alles um sie herum bestimmt. Unbeschreiblich ist das mit Worten, die Bilder sprechen jedoch Bände.

Es erscheint als Groteske, dass solche kritischen Videos gerade in sozialen Netzwerken wie Facebook weitergereicht werden und sogar äußerst beliebt sind. Die Jugend und auch immer mehr die Elterngeneration speist allein dieses populärste aller sozialen Netzwerke mit täglich mehr als 350 Millionen neuen Bildern (vgl.: www.businessinsider.com). Diese Aufnahmen entstehen immer und überall, die Anschaffung der Werkzeuge hierfür ist kein Hindernis mehr, ebenso wenig wie der Zugang zum Internet. Fotografie ist in unseren Breiten mittlerweile zu einem vollständig demokratischen Medium geworden, alle können es nutzen.

Der Arzt und Theoretiker Oliver Wendell Holmes behauptete schon um 1860 in beinahe prophetischer Weise: „Die Welt wird zukünftig in zweierlei Gestalt existieren: In der Welt der Formen (Fotografie) und in der Welt der materiellen Urbilder (Wirklichkeit), die immer mehr an Bedeutung verlieren wird.“ Tatsächlich erscheint es heute oft wichtiger, zum Beispiel die Szene eines Geburtstagsliedes digital aufzuzeichnen, als herzhaft mitzusingen.

In Windeseile verbreiten sich heute Neuigkeiten in Form von Bildern über die ganze Welt. Blitzlichtgewitter begleiten die Stars und Idole aus allen Bereichen. Es scheinen nicht länger die menschlichen Sinne, sondern vielmehr die Kameras unsere Abenteuer zu erleben. Aber wie konnte es dazu kommen? Fotografie ist nicht mehr wie in ihren Anfangsjahren einer Elite von Privilegierten vorbehalten, sondern jeder und jede kann Bilder produzieren. Ein berühmt gewordenes Zitat aus der Werbung für die erste Kodak-Kamera lautet: “You press the button – we do the rest” („Sie drücken den Auslöser, alles andere erledigen wir“). Was 1888 die analoge Fotografie so populär machte, nämlich die einfache Handhabung, ist heutzutage nochmals einfacher geworden und außerdem kostengünstig.

Über diverse Plattformen im Internet ist eine schnelle Verbreitung möglich, und sogar eine eventuelle finanzielle Vermarktung stellt sich auch für Laien und Laiinnen relativ einfach dar. Fotoagenturen horten Bildarchive unvorstellbarer Größe. Im Bildarchiv der österreichischen Nachrichtenagentur APA (www.picturedesk.at) stehen rund zehn Millionen Bilder gegen Honorar zur Nutzung bereit. Internationale Bilddatenbanken wie Getty Images bieten satte 80 Millionen Fotografien und Illustrationen zur Verwendung an. Bei ihren Subunternehmen wie Thinkstock sind es hauptsächlich sogenannte Stock-Fotos, also Bilder, die eigens zu gewissen (presseüblichen) Themen erstellt wurden und oftmals recht betont plakativ sind. Sucht man zum Beispiel nach dem Begriff „Familie“, liefert der Anbieter Corbis 515.639 adäquate Bildvorschläge.

Über Photocase, fotolia, Naturfoto-Online und unzählige ähnliche Vermittler bringen oft auch Amateurinnen und Amateure ihre Fotografien auf den freien Markt. Seit die Digitalisierung zu einer Massentauglichkeit des Mediums Fotografie geführt hat und Smartphones so umwerfende Fotoqualität liefern, hat sich statistischen Beobachtungen zufolge die Produktion an privaten Bildern verhundertfacht.

AUFNAHMESTOPP
Die Bilderflut im Fernsehen, auf Plakatwänden, in Printmedien und erst recht im Internet ist überwältigend. Es wirkt so, als hätten wir Menschen brav gelernt, was die Werbung anpreist. Wir produzieren und konsumieren massenhaft Bilder. Kleine Babys schlafen prompt ein, wenn es ihnen zu viel wird – wie tröstlich für sorgenvolle Mütter! Aber diese natürliche Belastungsgrenze lässt sich flott wegtrainieren. Leider. Kritische BildkonsumentInnen wollen sich vermehrt  bewusst machen: „Wo liegt die Grenze meiner persönlichen  Aufnahmefähigkeit? – Und wo die meiner Kinder?“  In der Medientheorie gibt es zur kognitiven Belastung durch die Bilderflut verschiedenste Untersuchungen.

Das Fernsehen und andere Monitorbilder darf man hier nicht ausklammern. Kurz gefasst: Empfohlene Zahlen von Organisationen ohne Verkaufsinteresse liegen meist weit entfernt von der alltäglich konsumierten Bildermenge.

DER WERT EINES FOTOS
ProfifotografInnen beklagen mitunter dieses Überangebot und die Konkurrenz durch „Billiganbieter“. Denn tatsächlich kommen in der schnelllebigen Berichterstattung unserer Gegenwart immer öfter auch Amateurbilder zu großer medialer Verbreitung. Man denke nur an den Arabischen Frühling. Die Digitalisierung beflügelt, doch andererseits führt die Allgegenwart der übervollen Bilderwelten in der Kunst zu einer Rückbesinnung auf das Wesentliche. Der ganz besondere, perfekte Augenblick wird wieder abgewartet. FotografInnen arbeiten vermehrt wieder mit analogen Systemen, etliche verwenden die einst totgesagte Großformatfotografie. Man setzt auf Entschleunigung und auch auf Kontinuität und Qualität.

Aber wie wirkt sich die endlose Vervielfältigung von Bildern tatsächlich auf die Menschen aus? Schmälert die Masse den Wert eines subjektiv wertvollen Fotos? Die Bedeutung von Bildern hat sich verschoben, das steht fest. Von mir existiert nur ein einziges echtes Babybild, und das kenne ich auswendig. Von meinem Sohn hingegen habe ich so viele Fotos gemacht, dass ich manchmal beim Durchkämmen der alten Ordner im PC überrascht bin: „Aha – das hab ich aufgenommen!?“

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Wilma Hurskainen (2. von li.) stellt Szenen aus ihrer Kindheit nach. Die Schwestern hier in einer Kabine am Schiff zwischen Helsinki und Stockholm. (In den Jahren 1986 und 2005.) Fotos: Wilma Hurskainen

PRIVATES ALS KUNST
Fotografien aus früheren Zeiten decken Veränderungen auf. Das kann frustrierend sein, wenn man sich allzu sehr am ehemaligen jugendlichen Aussehen misst. Zufrieden stellt das Betrachten solcher Fotos, wenn man sich herzlich an gemeinsam Erlebtem erfreuen kann oder an der schlichten Erinnerung an Personen, die den Lebensweg kreuzten.

Namhafte FotografInnen wie Friedl Kubelka oder Nicolas Nixon zeigten in beeindruckenden seriellen Porträtarbeiten den Wandel von Menschen im Laufe des Alterns. Im Kunstkontext reüssieren derartige Bilder derzeit. Ein prinzipielles Festhaltenwollen an der Jugend könnte es sein, wenn alternde Menschen immer öfter die Bilder von „damals“ hervorholen und in ewig wiederholendem Beschreiben sich erinnern und schwärmen oder wehklagen. Für diesen Zweck sind „Knipserbilder“ zumeist ebenso effektiv wie Fotos von MeisterfotografInnen oder Künstler­Innen. Für Demenzkranke, die in der Realität oft nicht mal die eigenen Familienmitglieder erkennen, lösen Fotos vertraute Erinnerungen aus.

Die finnische Künstlerin Wilma Hurskainen erforscht ihre eigene Entwicklung in Bildpaaren: Alte Kindheitsfotografien von ihrer Familie werden kombiniert mit nachempfundenen aktuellen Gruppenporträts. Diese lösen eine Art kollektive Erinnerung bei den BetrachterInnen aus. Eine gewisse Nostalgie, der man sich nicht entziehen will. „Die Aufnahmen vermitteln den Eindruck, als ob wir in unsere Kindheit zurückkehren …“, sagt die Fotokünstlerin, „… doch es misslingt uns ganz zwangsläufig. Und es muss uns auch misslingen – denn es gibt keine Rückkehr in die Zeit.“

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  • Veröffentlicht: 01.07.2014
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