„Möchtest du in den Zirkus, ins Schwimmbad, auf den Spielplatz, in den Eissalon oder doch lieber …?“ Warum Mitsprache in der Erziehung wichtig ist und wann es zu viel ist.
Julias Familienrat
Früher durften Kinder kaum mitreden, heute werden sie ständig gefragt – ist das gut so?
Katharina Pölz: Ich finde das nicht gut. Kinder werden heute oft mit Entscheidungen überfordert. Den autoritären Erziehungsstil finde ich aber auch nicht gut. Ich frage meine Kinder nach ihren Wünschen, aber wir als Eltern entscheiden.
Andrea Wurz: Es ist eine tolle Errungenschaft der Pädagogik, dass Kinder mitreden dürfen. Manchmal wird dies jedoch missinterpretiert, sodass Eltern ihre Kinder in allen Lebensbereichen mitsprechen lassen und ihre Kinder überfordern.
Woran erkennen Eltern, dass ihr Kind überfordert ist?
Wurz: Manche Kinder trotzen, quengeln, andere werden aggressiv, ziehen sich zurück oder weinen. Eine Mutter hat mir erzählt, dass das Hinkommen zum Kindergarten eine Katastrophe sei. „Ich frage: ,Willst du mit dem Auto fahren, dem Roller, mit dem Fahrrad oder mit dem Dreirad?‘ Und jeden Tag gibt es ein Theater.“ Das ist eine klassische Überforderung. Ich rate, nur zwei Sachen anzubieten oder klar zu sagen: „Heute fahren wir mit dem Fahrrad. Das Wetter ist schön.“
Pölz: Ich war einmal mit meinem Sohn – er war fünf oder sechs Jahre alt – im Supermarkt einkaufen. Er durfte sich ein Stück aussuchen. Er war überfordert von dem Angebot. Bis zur Kassa hatte er immer noch nichts gefunden. Dann hat er irgendwas genommen und war unzufrieden damit.
Was kann man in so einer Situation tun?
Pölz: Meinem Sohn fällt es generell schwer, Entscheidungen zu treffen. Ich grenze die Auswahl ein: „Die zwei Sachen gibt es, such dir eine davon aus.“
Wurz: Genau. Man kann es auch vorher schon einschränken: „Möchtest du eine Zeitschrift, ein Joghurt oder eine Süßigkeit?“ Meine Empfehlung ist: Je jünger das Kind, desto größer sollte die Einschränkung sein. Es gibt aber auch Persönlichkeiten, die sich schwer entscheiden können. Wenn ich das Gefühl habe, jetzt ist es zu viel für mein Kind, treffe ich die Entscheidung.
Warum lassen Eltern ihre Kinder so vieles entscheiden?
Pölz: Sie sind selbst oft überfordert, weil sie ständig so viele Entscheidungen zu treffen haben. Wenn man im Supermarkt vor 20 Sorten Müsli steht und nicht weiß, welches man nehmen soll, fragt man das Kind.
Wurz: Ich sehe eher die Unsicherheit bei manchen Eltern. Sie wollen alles richtig machen und fragen sich: „Wird mein Kind zu einem selbstbestimmten Wesen, wenn ich das jetzt entscheide?“ Mitbestimmung ist grundsätzlich wichtig in der Erziehung.
Warum ist Mitsprache wichtig?
Wurz: Wenn ich als Kind gefragt werde, was ich will und was meine Meinung dazu ist, fördert dies das Selbstwertgefühl. Mitsprache bedeutet auch, dass man lernt, Kompromisse einzugehen. Kinder sollen mitbestimmen dürfen, aber nicht überall. Es gibt Entscheidungen, die treffen die Kinder, Entscheidungen, die trifft man miteinander, und Entscheidungen, die die Erwachsenen treffen – etwa bei Fragen wie „Kaufe ich mir ein neues Auto?“ oder „Soll ich den Beruf wechseln?“. Je mehr Kinder gefragt und ernst genommen werden, desto besser funktioniert es auch, wenn ich etwas bestimme.
Was kann ein Kindergartenkind oder Volksschulkind von seiner Entwicklung her selbst entscheiden?
Wurz: Das kann man nicht pauschal sagen. Mini-Entscheidungen können Kinder schon sehr bald treffen – beispielsweise was dem Kind schmeckt und was es essen will. Natürlich kann es nicht nur Süßigkeiten essen, da ist Führung von uns Erwachsenen angesagt. Generell heißt es, dass ein Kind dann entscheiden kann, wenn es sich der Tragweite der Entscheidung bewusst ist. Das ist aber selbst bei Pubertierenden nicht immer der Fall. Es gibt auch Phasen in der Entwicklung eines Kindes, in denen es nur eingeschränkt Entscheidungen treffen kann: in der Trotzphase, der Sechsjahreskrise, der Vorpubertät oder der Pubertät. Meine Tochter konnte immer gut Entscheidungen treffen. Einmal waren wir jedoch Schuhe kaufen, sie konnte sich nicht entscheiden und hat geweint. Ich habe dann gesagt: „Nimm die, die stehen dir.“
Pölz: Meine Kinder sind sehr unterschiedlich. Für meine Tochter war es nie ein Problem, sich im Supermarkt etwas auszusuchen. Sie tut sich aber schwer damit, zu entscheiden, was sie anziehen soll. Unser Sohn nimmt das erstbeste T-Shirt.
Wie lernen Kinder, zu entscheiden?
Wurz: Durch konkretes Vorleben und Praktizieren – und dadurch, dass ich das auch umsetze, was von ihnen kommt. Mein Rat ist, es entspannt anzugehen. Man kann auch Bewährungsproben machen. Die Kinder planen für die Ferien einen Kinderbestimmtag. Darauf lasse ich mich ein. Sie merken vielleicht, dass es auch anstrengend ist, sich entscheiden zu müssen, zum Beispiel wenn es darum geht, was es an diesem Tag zu essen geben soll.
Pölz: Wir reden sehr viel, begründen unsere Entscheidungen und halten auch Familienkonferenzen ab, wenn Themen anstehen. Mein Sohn wollte zwei Stunden am Tag iPad spielen. Ich habe gesagt: „Das passt für uns nicht. Wir müssen gemeinsam eine Lösung suchen.“ Ich war überrascht, welch kreative Lösung ihm eingefallen ist. Wenn sich Kinder selbst für etwas entscheiden, fällt es ihnen leichter, das einzuhalten.
Julia Langeneder,
Familienredakteurin und Mutter von zwei Kindern,
lädt jeden Monat zum Familienrat ein.
Julias Gäste
Andrea Wurz,
Pädagogin, Elterntrainerin und Mutter von drei Kindern (11, 8 Jahre und 8 Monate).
www.andreawurz.com
Katharina Pölz,
Physiotherapeutin und Mutter von zwei Kindern (9 und 6 Jahre).
Fotos: Alexandra Grill, Studio 4/Wilhelm Hierschläger, privat
Erschienen in „Welt der Frauen“ 10/2019