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03/24

Die Sehnsucht nach Stille

Die Sehnsucht nach Stille
Wir wollen dem Informationsrausch und dem Lärm um uns herum entfliehen, kommen aber nicht in der Ruhe an. Was ist an der Stille so schwer und wie können wir ihren Wert wiederentdecken?

Die Stille habe ich erst im Gefängnis gefunden“, sagt Andre Vries. Seit sechs Jahren ist der Holländer mit asiatischen Wurzeln in der Justizanstalt Garsten wegen Rauschgiftdeliktes inhaftiert. In seinem früheren Leben reiste er als Chefeinkäufer einer großen Modekette durch die ganze Welt, heute bewohnt er mit drei Mithäftlingen eine 35 Quadratmeter große Zelle, putzt, teilt Essen aus und macht Kaffee. Dreimal am Tag schaut er sich die Nachrichten im Fernsehen an, er spielt Theater und diskutiert in der Bibelrunde. Dazwischen ist viel Zeit zum Nachdenken und viel Stille. In der U-Haft brachte ihn die Stille an den Rand der Verzweiflung: Acht Monate in einer drei mal zwei Quadratmeter großen Zelle und nichts zu tun außer Lesen, Nachdenken und Deutschlernen. Nur durch den Rückhalt seiner Familie, das Meditieren – das er als Schüler in einem buddhistischen Kloster gelernt hat – und das Akzeptieren seiner Schuld habe er überlebt, sagt er.

Wer Stille finden will, muss nicht unbedingt ins Gefängnis gehen oder ins Kloster. Doch im Internet-Zeitalter ist Stille eine knappe Ressource geworden. Wir leben umgeben von akustischer Penetranz und einer Kommunikationsflut, der man Kopie von KLEIN_01_131021-01 Cover, Aufmacher-0383 RGB RZsich schwer entziehen kann. WLAN ist überall und das ist ja auch sehr praktisch, schließlich kann man sich von zu Hause aus mit Hunderten von Menschen vernetzen, am Sonntagabend noch schnell ein paar Termine koordinieren und auf dem Weg zur Arbeit ein paar Facebook-FreundInnen dazugewinnen. Trotzdem ist da dieses Gefühl des Mangels. Diese Sehnsucht, sich vom elektronischen Dauergeschnatter und der permanenten Erreichbarkeit einfach einmal zu verabschieden.

WO FINDET MAN STILLE?

Echte Stille kennen wir genau genommen gar nicht. Schon drei Monate vor der Geburt ist ein Embryo in der Lage, Geräusche wahrzunehmen, denn das Innenohr ist dann als einziges Organ bereits in voller Größe entwickelt. Und auch beim Tod eines Menschen, wenn das Bewusstsein bereits erloschen ist, nimmt das Ohr noch die Schallwellen auf.

Stille ist also viel mehr eine subjektive Wahrnehmung, Stille entsteht im Kopf, daher ist sie auch für jede und jeden etwas anderes. Für die eine ist es, allein auf einem Berggipfel zu stehen, für den anderen ist es ein Spaziergang am See im dichten Nebel; eine Mutter erlebt Stille, wenn ihre Kinder schlafen, und eine Frau, die an einer stark befahrenen Straße wohnt, genießt die Stille zwischen 3.00 und 4.00 Uhr morgens, wenn für ein paar Minuten kein Auto vorbeifährt.

Stille ist ein wertvolles Gut, das auch gut vermarktet wird: Wir buchen einen Klosteraufenthalt, ein Schweigeseminar oder eine Meditationswoche auf Mallorca, um Ruhe in unseren überfrachteten Alltag zu bringen. Dabei suchen wir eigentlich etwas, das nichts kosten dürfte: verbindliche Ruhezeiten.

LEISER LÄRM MACHT KRANK

Die Sehnsucht nach Stille ist nicht neu. Schon im alten Rom muss es sehr laut zugegangen sein: „Ich soll inmitten des Lärms, der Nacht und Tag durchtobt, dichten?“, fragt der Dichter Horaz verzweifelt in seinen Episteln. Auch das Mittelalter war nicht gerade leise – man stelle sich nur das Poltern von Rädern und Fässern auf den Pflastersteinen, das Gebrüll der MarktschreierInnen oder das Getöse der Kreuzzüge vor. „Jede Epoche hat ihre Lärmsignatur und Lärmempfindlichkeit“, schreibt die Schweizer Kulturjournalistin Sieglinde Geisel in ihrem Buch „Nur im Weltraum ist es wirklich still. Vom Lärm und der Sehnsucht nach Stille“.

So wie die Stille spielt sich auch der Lärm im Kopf ab. Hier wird entschieden, ob es sich bei einem Geräusch um Lärm handelt.

Oft wird darüber geklagt, dass die Welt immer lauter wird. Nachweisen lässt sich das nicht. Immerhin lebt ein ganzer Industriezweig von der Lärmreduktion, man baut Schallschutzwände und -fenster und entwickelt leisere Maschinen. Moderne Flugzeuge und Autos sind geräuschärmer als ihre Vorgänger, und auch dem ICE hört man seine 300 Kilometer pro Stunde nicht an. Was uns heute quält, ist auch und vor allem der „lautlose Lärm“. Es ist ein Lärmempfinden, das entsteht, wenn wir unaufhörlich damit beschäftigt sind, E-Mails und SMS zu checken.

Während früher in der Nacht Ruhe herrschte, so reißt der Strom von Neuigkeiten und Mitteilungen nicht mehr ab. Im Kopf entsteht ein ständiges Rauschen von Informationen, die eine andauernde Alarmbereitschaft  auslösen, etwas zu verpassen. Mehrere groß angelegte Studien belegen mittlerweile, dass auch „leiser“ Dauerlärm krank machen kann: Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen, Bluthochdruck, Depressionen bis hin zum Herzinfarkt oder Schlaganfall können die Folge sein. Lärm ist jedoch nicht generell als negativ zu bewerten. Bei Geräuscheinwirkung steigt der körpereigene Adrenalinspiegel, was aktivierend wirkt, ja sogar euphorisierend, etwa bei Rockkonzerten. Schlecht ist jedoch der dauerhafte akustische Smog.

Stille lässt sich nicht an äußeren Orten finden. Der wichtigste Ort, an dem wir Stille erfahren können, ist unser Herz.

Anselm Grün

Um diesen zu reduzieren, wurde im Rahmen der „Europäischen Kulturhauptstadt 2009“ in Linz die Initiative „Hörstadt“ gegründet, die die Welt des Hörens mit einer Vielzahl von Projekten ins öffentliche Bewusstsein rückt. Eines davon ist die Kampagne „Beschallungsfrei“. Der Musiker Peter Androsch, Leiter von „Hörstadt“, schätzt, dass inzwischen um die 10.000 Orte den Aufkleber „Beschallungsfrei“ tragen. Auch die Supermarktkette Spar hat in allen Linzer und auch in einigen Filialen in Österreich die Lautsprecher abgestellt, und generell wurde die Hintergrundmusik gedämpft . Eine Studie gemeinsam mit Spar und der Johannes Kepler Universität (JKU) ergab übrigens, dass das Abstellen der Hintergrundmusik keinen Einfluss auf den Umsatz hatte.

 

GEBORGENHEIT IM INTERNET

Warum wehren wir uns nicht gegen die Dauerberieselung, steigen aus dem Datenrausch aus und gönnen uns stattdessen ein wenig mehr Stille? Weil unser Verhältnis zur Stille ambivalent ist. Wir sehnen uns danach und fürchten uns davor. Und Stille fällt vielen Menschen schwer. Sie hat auch etwas Bedrohliches, sie kann ein Gefühl innerer Leere und Einsamkeit hervorrufen und etwas, das wir ganz und gar unerträglich finden: Langeweile.

Dieses Gefühl kompensieren die nie versiegenden E-Mails: „Sie liefern uns die Bestätigung dafür, dass wir existieren“, schreibt Sieglinde Geisel. „Im Internet gibt es keine Sendepause, und darin liegt ein tiefer Trost. In der Endlosigkeit des Chattens, Twitterns, Bloggens finden wir eine schwer fassbare Geborgenheit, allerdings um den Preis einer nie dagewesenen Zerstreuung.“

Die Suche nach Geborgenheit in der virtuellen Welt dürfte gerade auch bei jungen Menschen eine Rolle spielen. Die kanadische Soziologin Rhonda McEwen, die das Kommunikationsverhalten von Jugendlichen untersucht, stellt fest, dass Kopie von KLEIN_04_131021-01 Cover, Aufmacher-0311 RGB RZHeranwachsende ihre Sommerferien zunehmend weniger in der Natur verbringen wollen. „Die Teilnehmer meiner Studie fühlten sich allesamt sehr unwohl, wenn sie raus in die Natur fuhren. Wenn es dort keinen Handyempfang und kein Internet gibt, denken sie: ‚Was zum Teufel soll ich hier?‘ Also fahren sie einfach gar nicht mehr. Mit ihren elektronischen Geräten haben Jugendliche einen so dichten Kokon aus Geplapper um sich gesponnen, dass sie nicht mehr wissen, was Alleinsein bedeutet“, sagt die Soziologin.

Dabei birgt die Stille ein riesiges Potenzial. Die englische Autorin Sara Maitland schreibt in „A Book of Silence“ nicht nur über ihr eigenes Leben auf Inseln, in Klöstern und in den Bergen, sondern berichtet auch über die Stille-Erfahrungen anderer Menschen.

Die unmittelbarste Wirkung betrifft die körperlichen Wahrnehmungen. Alles klingt, riecht und schmeckt intensiver. Als Sara Maitland in einer Berghütte eingeschneit wird, lernt sie die Stille von ihrer dunklen Seite her kennen, mit Angst und akustischen Halluzinationen: „Ich habe die Stille schreien hören.“ Als wichtigste Stille-Erfahrung beschreibt sie jedoch ein unbeschreibliches Glücksgefühl: „Ich fühlte mich absolut mit allem verbunden (…). Stille erzeugt Freiheit, freie Entscheidungen, innere Klarheit und Stärke. Eine Freiheit vom eigenen Selbst und eine Freiheit, man selbst zu sein.“

Aber wie können wir nun in der Stille ankommen, ohne einen so radikalen Selbstversuch zu starten wie Sara Maitland? Der deutsche Benediktinerpater und Bestsellerautor Anselm Grün ist ein Experte in Sachen Stille. „In der Stille kommt das Wesen der Dinge zum Vorschein“, erklärt er. Aus diesem Grund hätten auch so viele Menschen Angst vor der Stille: Weil sie Angst vor der inneren Wahrheit haben und vor Schuldgefühlen, da könnte ja das ungelebte Leben sichtbar werden.

ZUGANG ZUR STILLE

Pater Anselm Grün hat mehr als 300 Bücher geschrieben und ist wirtschaftlicher Leiter der Benediktinerabtei Münsterschwarzach mit 300 MitarbeiterInnen. Man fragt sich, wie er noch Zeit für Stille findet. „Ich stehe um 4.40 Uhr auf und genieße jeden Morgen die dreistündige Stille: das gemeinsame Chorgebet, das ins Schweigen führt, die stille Meditation, die Eucharistie, Frühstück im Schweigen und Lesen. Für mich ist das eine Quelle, aus der ich jeden Tag schöpfe, die mich davor bewahrt, in der Arbeit aufzugehen“, berichtet er über seine Morgengestaltung die „freilich ein Luxus ist“, wie er sagt. In der christlichen Tradition gibt es viele Wege zur Stille: Das Gebet, die Meditation, das Atmen – „wenn ich bewusst ruhig atme, beruhigen sich auch die Gedanken“ – oder das Gehen. „Gehen heißt, sich frei gehen von Belastungen. Wenn ich gegangen bin und mich hinsetze, bin ich stiller als zuvor.“

Auch Rituale helfen beim Weg in die Stille. Sie bannen die Angst, schenken Geborgenheit und Sicherheit. Für ein kleines Kind ist das Ritual vor dem Schlafengehen ganz wichtig. Es nimmt ihm die Angst vor der langen, dunklen Nacht. Ein Ritual für den Berufsalltag kann sein, bevor man das Büro verlässt, kurz innezuhalten und bewusst ein- und auszuatmen. „Viele sind ständig auf Durchzug, sie sind nie bei sich. Rituale öffnen Türen und schließen sie. Das ständige Überallsein ist nicht gut. Still sein heißt, ganz bei sich sein, das kann auch im Trubel sein.“ Wem der Zugang zur Stille gelingt, dem gibt sie am Ende etwas zurück. „Geh in die Stille, denn die Stille wird dich alles lehren“, lautet ein berühmter Satz, der dem heiligen Augustinus zugeschrieben wird. Die Stille kann eine Quelle für neue Lebensenergie sein und uns mit uns und anderen in Berührung bringen. Doch dazu braucht es Mut.

Rituale der Stille

Mittags Auszeit nehmen

Menschen machen ihre Pausen viel zu unbewusst und nutzen sie nicht für eine wirkliche Auszeit. Nimm dir etwas Zeit und kehre in der Stille in dich ein. Blicke kurz zurück, was am Vormittag passiert ist, doch lass die Gefühle, Situationen und Gedanken an dir vorbeiziehen und schenke ihnen keine Aufmerksamkeit.

Die Stille des neuen Tages

Öffne am Morgen, noch bevor du ein Wort gesprochen hast, ein Fenster, atme tief ein und spüre die noch ungebrochene Stille und die Reinheit des neuen Tages.

Die Stille zwischen Tätigkeiten

Wenn du eine Tätigkeit, wie zum Beispiel Aufräumen, einen Anruf tätigen, beendet hast, geh nicht sofort zur nächsten Tätigkeit über. Halte in einem kurzen Moment des Schweigens inne und atme dreimal kräftig ein und aus. Beim dritten Atemzug heißt du die anstehende neue Aufgabe mit einem Lächeln auf den Lippen willkommen.

Die Stille des Schnees

Geh im Winter, wenn alles dick verschneit ist, in die Natur. Spüre nach, wie still der Schnee alles macht: Er dämpft deinen Schritt, den Widerhall, die Geräusche des Waldes. Spüre den Frieden, der von ihm ausgeht.

Eine Kerze anzünden

Wenn du innerlich aufgewühlt bist, setze dich im Schweigen nieder und zünde eine Kerze an. Erspüre die Ruhe, die von ihrer Flamme ausgeht, und halte alle deine Gefühle und Gedanken in ihr Feuer und lass sie in der Flamme der Kerze verbrennen.

Alles darf so sein, wie es ist

Wenn du nach einem anstrengenden Tag das Gefühl hast, gegen Wände zu rennen und gar nichts bewirken zu können, halte inne und werde still. Erlaube allen Situationen genau so zu sein, wie sie sind. Lass deine Anstrengungen los, nimm alles so an, wie es ist, und urteile nicht. So kann in dir eine Ruhe entstehen, die dich gelassener mit allem umgehen lässt.

Aus: Anselm Grün: Rituale der Stille. 30 Meditationskarten und Begleitheft. Vier-Türme-Verlag 2011, Euro 19,90

 

„Hier ist mein Paradies“

Anna Pollhammer war früher Unternehmerin. Heute lebt sie in einem 500 Jahre alten Forsthaus und schreibt Bücher.

Wer Anna Pollhammer erreichen will, muss ihr einen Brief schreiben. Denn im Forsthaus Welchau gibt es weder Strom KLEIN_17_131022-04 Anna Pollhammer-0050 RGB RZnoch Telefon. Ein Handy hat sie zwar, nur gibt es keinen Empfang rund ums Haus. Die Texte für ihre Bücher mit Titeln wie „Heilende Stille“ oder „Weihnacht im Schweigen der Wälder“ (Freya Verlag) schreibt sie mit der Hand, zum Abtippen auf dem alten Computer muss sie den Stromgenerator anwerfen.

Mit ihren wachen Augen wirkt Anna Pollhammer fast jugendlich, dabei ist sie schon über 70. Und sie strahlt eine große Ruhe aus. Kaum zu glauben, dass sie Unternehmerin war. 40 Jahre lang führte sie gemeinsam mit ihrem Mann eine Fleischhauerei in Steyr und zog vier Söhne groß: „Aber mir ist immer etwas abgegangen.“ Etwas, was sie in Kindheitstagen kennen und lieben gelernt hatte. Ihre Eltern hatten eine Landwirtschaft und Anna war am liebsten bei den Kühen auf der Weide. Das waren Zeiten der Unbeschwertheit und der Freiheit und auch Zeiten der Stille im Einklang mit der Natur. „Ich habe immer davon geträumt, wieder so zu leben.“

Irgendwann war der Weg für sie klar. Das Haus in der Stadt übergab sie an einen ihrer Söhne, und es bot sich die Gelegenheit, das Forsthaus zu pachten. „Ich habe alles losgelassen und wieder zu leben angefangen“, blickt Anna Pollhammer zurück. Sie steht um 5.00 Uhr morgens auf, meditiert und schreibt. Dann heizt sie den Ofen ein, kocht Kaffee und geht mit dem Dackel zur Wildfütterung oder auf einen der umliegenden Berge. Es gibt Tage, an denen sie keinen Menschen sieht. „Aber einsam fühle ich mich nicht.“ Zu Tieren hat sie eine besondere Beziehung, sie hat einen Fuchs aufgepäppelt und einen Marder großgezogen.

„In der Stille wird die Wahrnehmung intensiver und man wird feinfühliger“, weiß Anna Pollhammer. Im Sommer wurde ihr Leben in der Stille auf die Probe gestellt. Sie musste ihren alten Jeep reparieren lassen und hatte zwei Monate lang kein Auto. „Ich hab mir gesagt: ‚Jetzt musst du durchhalten.‘“ Angst kennt sie nicht. Das hat einerseits mit ihrem optimistischen Naturell zu tun, andererseits mit ihrem Gottvertrauen. Egoistisch findet sie ihren Lebensentwurf nicht. Viele Leute, die zu ihr kommen, schätzen sie als gute Zuhörerin und Ratgeberin. „Die Leute laden hier ab und die Batterien wieder auf. Es ist ein heilsamer Ort.“

„Danke vorm Einschlafen“

Stille erlebt Elisabeth Schimpl (38), Mutter von vier Kindern (19, 15, 5 und 2,5 Jahre), selten. Dafür mit besonderem Genuss.

Die Zeit so um 22.00 Uhr oder 22.30 Uhr ist Elisabeth Schimpl heilig. Dann, wenn alle schlafen und Ruhe ins Haus KLEIN_18_131021-02 Lisa Schimpl-0066 RGB RZeinkehrt. Die vierfache Mutter genießt diesen Moment kurz vorm Einschlafen ganz bewusst. Sie hört auf die Stille hin, atmet tief durch und sagt innerlich Danke dafür, dass der Tag gut gelaufen ist und alle gesund sind.

Der Tag beginnt im Hause Schimpl um 6.00 Uhr und endet selten vor 22.30 Uhr. Die diplomierte Sozialpädagogin trainiert Erwachsene für den Elternführerschein. Dazwischen sind Essenkochen und -aufwärmen, Vorlesen und Trösten, Aufräumen und Taxidienst angesagt. Stille gibt es in dem bunten Treiben so gut wie nie. Ihr Smartphone hat Elisabeth Schimpl immer eingeschaltet, sogar in der Nacht, wenn der älteste Sohn fortgeht. Sie will erreichbar sein, falls eines ihrer Kinder anruft.

Der Mühlviertlerin sind Rituale wichtig, sie schaffen Ruhepole im Familienalltag. Das ist der tägliche Spaziergang mit den Jüngsten und am Sonntagabend die Familienkonferenz. Da sagt jeder, was ihn bewegt. Im Advent wird der Fernseher für vier Wochen ins Abstellkammerl verbannt. „Das ist immer eine besondere Erfahrung“, weiß Schimpl. Statt des Fernsehens werden am Abend Adventlieder gesungen und Geschichten vorgelesen.

„So, und jetzt bin ich dran“

Karin Benischko (54) leidet zeitweise an Tinnitus. Durch das Dröhnen im Ohr hat sie gelernt, Momente der Ruhe und Stille in ihr Leben zu integrieren.

KLEIN_18_131021-03 Karin Benischko-0092 RGB RZVor elf Jahren war er zum ersten Mal da. Der Tinnitus, ein eigenartiges Dröhnen im linken Ohr. Ein Geräusch, das immer da war, nachts im Bett oder tagsüber, wenn die Telekom-Sachbearbeiterin Karin Benischko im Büro saß. Besonders schlimm empfand sie das Dröhnen bei Stimmengewirr, dann verstärkte es sich und wurde unerträglich. Aber auch bei Stille war der Tinnitus unangenehm, dann schaltete sie leise Musik dazu, um das Geräusch zu übertönen.

Den Auslöser sieht Karin Benischko im Stress. „Ich nehme alles viel zu genau, und ich habe sehr viele Interessen, manchmal zu viele.“ Klavierstunde, Italienischkurs, Golf, FreundInnen treffen, Enkelkinder betreuen, Haus und Garten, Ehrenamt und ein 40-Stunden-Job: Durch den Tinnitus hat die Mutter eines erwachsenen Kindes gelernt, auf die Stopptaste zu drücken. Sich hinzusetzen und nichts zu tun fällt ihr aber schwer. Besser klappt es, wenn sie die Momente der Stille im Kopf vorausplant und sich vorstellt, wie es ist, in der Sonne zu liegen und nur dem Summen der Bienen zu lauschen. Dazu gehört auch „Nein sagen lernen, denn das heißt, sich selbst wertzuschätzen: ‚So, und jetzt bin ich dran.“

„Man ist ganz sich selbst ausgeliefert“

Margit Pflügl (49), Musikerin und Künstlerin, hat sich kritisch mit der Stille auseinandergesetzt.

„Warum bringt ihr nicht ein leeres Blatt?“, ist Margit Pflügls erste Reaktion auf die Interview-Anfrage. „Es wird viel über Lärm geklagt, das langweilt inzwischen.“ Margit Pflügl hat die Stille bewusst gesucht. Nach ihrem Studium lebte sie ein Pflueglpaar Jahre in Linz-Urfahr. Für die Musikerin (Barockcello und Viola da Gamba), die auf dem Land aufgewachsen war, stand aber immer fest, dass sie raus aus der Stadt wollte, weil es auf dem Land ruhiger war. Das stellte sich jedoch als Illusion heraus, denn auch auf dem Land gibt es Lärmquellen, wie unter anderem den Autolärm, der sich flächendeckend über die Landschaft legt.

Margit Pflügl wohnte zuerst am Rand eines Dorfes in einer Hausgemeinschaft, und ohne dies langfristig zu planen, ergab es sich, dass sie drei Viertel des Jahres in einer nahe gelegenen, zwölf Quadratmeter großen Hütte lebte – ganz spartanisch, ohne Fernseher und Telefon. Die stärkste Erfahrung war anfangs das Hingeworfensein in eine Kargheit und Leere, ohne jede Ablenkung. „Man ist ganz sich selbst ausgeliefert.“ Unweigerlich werde man mit Sinnfragen, Einsamkeit und den letzten großen Fragen konfrontiert: Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Warum sind wir hier?

Margit Pflügl kann verstehen, dass sich viele Menschen lieber der Dauerbeschäftigung und dem Lärm hingeben, aus Angst, sich dem zu stellen, sie möchte diese Zeit dennoch nicht missen. Eine Zeit, in der unter anderem auch ein großer Kalligrafiezyklus entstand. Seit einem Jahr lebt sie wieder am Stadtrand von Linz-Urfahr, weil sie das besser mit ihren beruflichen, privaten und künstlerischen Verbindungen vereinbaren kann. „Ein guter Kompromiss“, wie sie sagt. „Aber nur vorübergehend.“ Langfristig möchte sie wieder auf’s Land, jedoch in Stadtnähe.

Margit Pflügl geht täglich in die Natur und meditiert. „Es gehört Mut dazu und eine große Reife, um Stille auszuhalten“, berichtet sie aus ihrer Erfahrung. Eine spirituelle Begleitung empfiehlt sie. Stille ist für die Musikerin eine Haltung und Stille kann auch sehr laut sein. Der Schriftsteller und Philosoph Henry David Thoreau spricht in seinen Tagebüchern (1837–1861) vom „unendlichen Getöse“ der Stille: „Diese paradoxe Erfahrung kann nachvollziehen, wer einmal der Stille in der Wüste gelauscht hat.“ Margit Pflügl: „Es gibt aber auch im Mühlviertel solche Plätze.“

 

Erschienen in „Welt der Frau“ 12/2013

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  • Veröffentlicht: 29.11.2020
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