Sie kämpfen gegen Armut, gegen Unterdrückung, um mehr Jobs und ihren Platz in der Gesellschaft: Eine neue Welle von Revolutionen im Nahen Osten beweist, dass mutige Frauen zum Motor einer neuen Ära werden. Allen Rückschlägen zum Trotz.
Eine kleine Revolution sei jeder ihrer Arbeitstage: So formuliert es Leila Mustafa. „Wir wollen erst Syrien, dann den gesamten Nahen Osten völlig verändern“, erklärt die 29-jährige Ingenieurin sehr selbstbewusst. Als neue Bürgermeisterin von Rakka, der ehemaligen Hauptstadt der Terrormiliz „Islamischer Staat“ in Syrien, wo einst 200.000 Menschen lebten, hat die junge Kurdin einen der härtesten Jobs der Welt übernommen: „80 Prozent der Stadt sind seit der Schlacht gegen die Terroristen in Trümmern, die meisten Straßenzüge sind vermint, die Wasserversorgung ist zusammengebrochen, in den meisten Vierteln gibt es keinen Strom“, skizziert sie im Stakkato ihre Mammutaufgabe: „Am wichtigsten ist es aber, die Seelen der Frauen aufzubauen. Nur eine Ordnung, die Frauen gleichberechtigt, ist Fundament echter Freiheit und auch Demokratie. Und ich als Bürgermeisterin bin der Beweis, dass dies klappen kann.“
SYRIEN, ÄGYPTEN, IRAN, SAUDI-ARABIEN
In jenem Teil Syriens, den heute kurdische Milizen dominieren, ist radikale Gleichberechtigung, wie sie Leila Mustafa vorlebt, Alltag. Es ist eine – noch – utopische Vision für den Rest des Nahen Ostens, doch der Aufstand der Frauen gegen politische und wirtschaftliche Unterdrückung in dieser Region ist seit 2011 zentrales Leitmotiv. Damals prägten mutige Demonstrantinnen die erste Phase des gewaltfreien Aufstandes gegen Unterdrückung, Korruption und Armut. „Wir wollen auf den Tahrir-Platz gehen, wenn wir noch ein wenig Ehre haben und in diesem Land in Würde leben wollen!“ – mit dieser Videobotschaft hatte die 26-jährige Asmaa Mahfouz den Massenprotest in Ägyptens Hauptstadt Kairo vom 25. Jänner 2011 ausgelöst.
Nun – sieben Jahre später – rückt trotz vieler Rückschläge des Kampfes der Frauen deren ungebrochener Mut erneut ins Bild: Im Iran schwenken sie ihre Kopftücher auf Stäben und stellen ihre Selfies mit offenem Haar mutig ins Internet. In Saudi-Arabien brechen sie eine Lanze für einen sozialen Wandel in der verknöcherten Öl-Monarchie und in den zuletzt massiv verarmten Städten Tunesiens rufen sie: „Wir warten nicht mehr länger!“
TUNESIEN ALS HOTSPOT
Selbst in diesem Vorzeigeland der Revolution von 2011 wird derzeit spürbar, dass die neue politische Elite die Einlösung vieler Versprechen schuldig geblieben ist und das Land in eine soziale Misere abgleitet. Wie dramatisch die Situation ist, wurde am 17. November 2017 schonungslos klar. An jenem Tag übergoss sich die 44-jährige Radhia Mechergui mit Benzin. Danach nahm die fünffache Mutter ein Feuerzeug aus ihrer Handtasche und zündete sich an. Sie befand sich zu jenem Zeitpunkt im Stiegenhaus der Gemeindeverwaltung von Sejnane, ihrer Heimatstadt im Norden Tunesiens. Zehn Minuten zuvor hatte sie erfahren, dass ihre monatliche Sozialhilfe von umgerechnet 51 Euro gestrichen werden würde – und dies, obwohl ihr Mann schwer erkrankt und arbeitsunfähig war. Ihren Job als Erntehelferin hatte sie vor Jahren verloren. Gerettet konnte sie nicht mehr werden. Sie starb am 8. Dezember.
Ihre Verzweiflungstat hauchte der schon brodelnden Proteststimmung in ihrem Land aber Leben ein. Noch im November wurde in Sejnane ein Generalstreik ausgerufen: als Protestzeichen gegen die erdrückende Armut. In der Stadt mit rund 6.000 EinwohnerInnen haben 1.200 Menschen keinen Job. Insgesamt lebt mehr als ein Fünftel der tunesischen Bevölkerung unter der Armutsgrenze; in jeder Familie ist ein Elternteil derzeit arbeitslos. Besonders hart trifft es junge Akademikerinnen, von denen die Hälfte keine Arbeit findet.
MIT SOCIAL MEDIA IN DIE ÖFFENTLICHKEIT
„Wir sind alle Radhia“, so lautete der Slogan der Massenproteste, die im Jänner von Sejnane aus das gesamte Land erfassten. Eine lange geplante Protestaktion verwandelte sich in einen Volksaufstand. Und so wie in den Revolutionstagen von 2011 übernahmen Frauen die vorderste Front der Kundgebungen und organisierten Proteste. Henda Chennaoui, eine 34-jährige Journalistin und Tunesiens prominenteste Bloggerin, wurde Sprecherin der spontan entstandenen Bewegung „Fech Nestanew“ („Worauf warten wir noch?“); ein mutiges modernes Gesicht einer neuen tunesischen Frauenbewegung. Die Proteste richteten sich gegen die Kürzungen von Subventionen von Treibstoff und Lebensmitteln, die Erhöhung der Mehrwertsteuer sowie gegen die Streichung von Jobs in der öffentlichen Verwaltung. Diese Einschnitte wurden durch ein „Finanzgesetz“ beschlossen, mit dem die tunesische Regierung den Weg für einen 2,9-Milliarden-Kredit des Internationalen Währungsfonds ebnen will.
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Die Frau hinter dem „Weißen Mittwoch“
Masih Alinejad
Sie lebt schon fast ein Jahrzehnt in New York im Exil. Doch verlassen hat die Journalistin Masih Alinejad ihren Iran nie wirklich. Sie wuchs im Tschador auf, dem schwarzen Umhang, in den Frauen im Iran ab der Pubertät gesteckt werden. Auf die Zuschauerränge hatte sie sich aber trotzdem nie verweisen lassen: Als Parlamentsreporterin deckte sie Missstände und Korruption auf – solange man sie ließ. Als „Welt der Frauen“ sie im Frühling 2018 erreicht, stöhnt Masih Alinejad ob ihrer neuen Prominenz: „Ich erhalte pro Tag 15.000 E-Mails, ich gehe unter angesichts der Aufmerksamkeit.“ Denn sie hatte die Idee für die Protestaktion „Weißer Mittwoch“. Über das Internet rief sie Iranerinnen dazu auf, sich jeweils an diesem Wochentag unverschleiert zu zeigen und dies mit Fotos zu dokumentieren. Während der Proteste im Jänner besuchte bereits eine Million Menschen Alinejads Internetseiten, wo sie die Aktion der mutigen Frauen dokumentiert. Verstöße gegen die Verschleierungspflicht von Frauen werden im Iran mit massiven Strafen geahndet, die von Auspeitschung bis zu mehrjährigen Gefängnisstrafen reichen. Aktuelle offizielle Zahlen gibt es kaum, nur jene aus 2014. Damals wurden 3,6 Millionen Iranerinnen wegen nicht ausreichender Verhüllung von der Polizei gestoppt. „Es ist enorm schwierig, sich für seine Rechte einzusetzen, wenn man dafür brutal niedergeschlagen wird“, sagt Masih Alinejad. Der Kopftuchzwang im Iran ist aus ihrer Sicht Symbol der Unterdrückung und der Kampf dagegen mehr als der Widerstand gegen eine Bekleidungsvorschrift.
Iran: Der Kopftuchzwang gilt seit 1979. Die jüngsten Proteste dagegen sorgen weltweit für Aufsehen: Frauen nehmen das Kopftuch ab und verwenden es als Fahne. Die Regierung kämpft massiv dagegen an.
Meine heimliche Freiheit:
Ein Fotoprojekt im Iran macht Mut
„My Stealthy Freedom“ (Meine heimliche Freiheit) heißt das Fotoprojekt der Niederländerin Marinka Masséus. Sie verleiht damit den Aktionen der iranischen Journalistin Masih Alinejad (siehe Seite 18) künsterlischen Ausdruck. Masséus fotografierte Iranerinnen, die sich ein Leben in Freiheit wünschen – und zeigt sie mit fliegenden Schleiern. „Diese Frauen protestieren nicht generell gegen das Tragen eines Kopftuchs. Sie protestieren dagegen, dass sie nicht die Freiheit haben, sich aus eigener Überzeugung dafür oder dagegen zu entscheiden”, sagt Masséus. Für die Bilder, die in einer Wohnung in Teheran aufgenommen wurden, spielten die Frauen mit ihren Schleiern, sie zeigten ihr Haar, manche auch ihr Gesicht. Die Botschaft der kunstvollen Bilder: „Wir geben die Hoffnung auf Freiheit nicht auf!”
Erschienen in „Welt der Frauen“ 04/18
Fotos: Mats van Soolingen/onassisfestivalny.org, Marinka Masséus