In einer Nacht vor 2.020 Jahren kam Jesus in Bethlehem zur Welt. Seither erlebt die Stadt immer wieder religiöse Konflikte. Im Spital „Zur Heiligen Familie“ scheinen diese weit weg; hier wird jede und jeder behandelt. Eine Nacht in der Klinik.
Die Sonne ist hinter den sandfarbenen Häusern Bethlehems verschwunden. Die Touristenscharen in Jesus’ Geburtskirche sind fort, der Muezzin in der Moschee gegenüber hat sein Gebet beendet. Rund 800 Meter entfernt, hinter hellen Kalksteinmauern, beginnt der Trubel erst richtig – im christlichen Spital „Zur Heiligen Familie“.
Weiter so
18 Uhr, Entbindungsstation, Raum 1. Mit gespreizten Beinen liegt Sumaiyeh Aiyad auf dem Bett, Schweißperlen auf der Stirn, die Finger in die Hand ihres Mannes gekrallt. Und sie schreit. „Das sieht gut aus“, ermutigt sie Samar Qumsiyeh, die Hebamme, brauner Kurzhaarschnitt, rote Lippen. Hier nennen sie alle nur Schwester Samar. Generell spricht man sich in Bethlehem mit Vornamen an. Samar hat in 25 Jahren tausenden Babys auf die Welt geholfen. Routiniert zieht sie die Gummihandschuhe über und breitet Tücher unter Sumaiyeh aus. Die fuchtelt mit einer Hand über ihrem Gesicht herum, stöhnt, schnauft, schreit, presst. Drei Hebammen stehen inzwischen dabei und rufen: „Yalla, yalla, weiter so!“
Nur an dem Kreuz um Samars Hals erkennt man, dass sie Christin ist, ihre muslimischen Kolleginnen tragen eine Haube. Bei der Arbeit spielt die Religion keine Rolle. Doch in Gehweite des Spitals erinnert eine bis zu acht Meter hohe Mauer daran, dass seit Jahrhunderten um das Heilige Land in Palästina gekämpft wird.
Das alttestamentarische Bethlehem ist für Juden, Christen und Muslime von religiöser Bedeutung. Seit der Al-Aqsa-Intifada im Jahr 2000 dürfen Juden die palästinensische Stadt nicht mehr betreten. Deshalb ist Bethlehem ein von Christen und Muslimen beherrschter Ort. Der christliche Bevölkerungsanteil sinkt jedoch, kaum 20 Prozent beträgt er noch, immer wieder gibt es Auseinandersetzungen. Im Spital „Zur Heiligen Familie“ scheint all das draußen zu bleiben. Christen und Muslime behandeln Muslime und Christen.
Die Muslimin Sumaiyeh Aiyad und ihr neugeborener Sohn. Für sie und ihren Mann Issa ist es bereits das siebente Kind. „Viele Kinder bringen Glück“, sagt Issa.
Die Geburt der kleinen Sara ihres ersten Kindes war für Mama Zohra nicht leicht, ein Team aus fünf Personen kümmerte sich um Mutter und Kind.
Endlich ist das Warten für Mohammed Radayda vorbei: Er streicht seiner neugeborenen Tochter Sara über die winzigen Finger, ein Arzt bringt sie jetzt auf die Frühchenstation.
Pfleger Tariq Qeisieh gibt Sara ein Fläschchen. Sie entwickelt sich gut und kann bald auf die Neugeborenenstation.
Ein Pfleger hat ein wachsames Auge auf die kleinen PatientInnen der Frühchenstation.
Viele Kinder bringen Glück
Sumaiyeh ist Muslima, wie die meisten Patientinnen. Eigentlich wollte sie nicht noch ein Kind, sie hat schon sechs, ist 39 Jahre alt. „Aber jetzt freuen wir uns“, sagt ihr Ehemann Issa Aiyad, 54, ein kompakter Mann mit grauen Bartstoppeln. Schließlich habe ihre Mutter auch 14 Kinder. Obwohl die Arbeitslosigkeit in Bethlehem hoch ist und viele Palästinenser kaum genug Geld zum Leben haben, wünschen sich insbesondere Muslime kinderreiche Familien. „Viele Kinder bringen Glück“, sagt Issa. Sumaiyehs Schrei unterbricht ihn. Das schwarzbehaarte Köpfchen ist schon zu sehen, Samar zieht den kleinen Körper heraus. Schmierig und zerknittert liegt er auf dem Bauch der Mutter, als Samar die Nabelschnur durchtrennt. Ein langgezogenes Weinen. Es ist ein Junge.
Manchmal, wenn wenig los ist, sitzen die Hebammen und Ärzte des Spitals stundenlang in der kleinen Küche nebenan, quatschen und warten, trinken Salbeitee und essen Fladenbrot mit Olivenöl und Zatar, einer Gewürzmischung mit Sesam. In dieser Nacht wird die Küche leer bleiben. Es werden sechs Babys zur Welt kommen.
Sie singt mit den Babys, sie streichelt und herzt sie: Chefärztin Micheline Al-Qassis verbringt oft 24 Stunden bei den Neugeborenen im Spital.
Das christliche Spital „Zur Heiligen Familie“ in Bethlehem ist ein eindrucksvolles Gebäude. Religiöse Konflikte bleiben draußen, hier behandeln Christen Muslime und Muslime kümmern sich um Christen.
Das GeburtsSpital „Zur Heiligen Familie“
Bethlehem liegt im Südwesten des Westjordanlandes in Palästina. Vor gut 130 Jahren gründeten vinzentinische Schwestern hier das Spital „Zur Heiligen Familie“. 1989 wandelte es der Malteserorden in ein Frauen- und Geburtsspital um. Seither ist es das größte und modernste der Region und das einzige mit einer Intensivstation für Neugeborene. 80 Prozent der Patientinnen können sich die Behandlung nicht leisten und zahlen nur einen Bruchteil der Kosten oder gar nichts. Den Rest finanziert das Spital mit Spendengeldern.
Erschienen in „Welt der Frauen“ 12/18