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04-05/24

NachbarInnen: Fluch oder Segen?

NachbarInnen: Fluch oder Segen?

Brückenbauerinnen zwischen den Kulturen

Gut integrierte und speziell geschulte Migrantinnen holen als Profi-Nachbarinnen in Wien ihre Landsleute aus der Isolation.
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Das Leben in der Fremde lässt sich für Frauen leichter bewältigen, wenn jeman zuhören kann, verstehen will und bei Problemen weiterhilft.

Der arabische Frauenname Mashaer bedeutet „Gefühl“. Und Einfühlungsvermögen braucht Mashaer Ali Hamad, um Migrantinnen aus ihrer Zurückgezogenheit herauszuhelfen. Die gebürtige Sudanesin, vierfache Mutter und Arabischlehrerin in einer Wiener Moschee, ist „Profi-Nachbarin“. Sie wurde mit einem Dutzend anderer Frauen  fünf Monate lang an der Alpen-Adria-Universität in Klagenfurt geschult, wie sie Menschen aus ihrem eigenen Kulturkreis fundiert zur Seite stehen kann.

Die Aufgaben sind vielfältig, sie reichen von schulischen und Erziehungsfragen bis zur Unterstützung beim Arztbesuch oder der Auswahl des richtigen Deutschkurses. Wer die 300 Stunden Ausbildung absolviert hat, wird vom privaten Verein „Nachbarinnen in Wien“ halbtags angestellt. 720,00 Euro netto gibt es für die kulturellen Brückenbauerinnen, die in Parks, auf Spielplätzen oder in der Moschee mit Müttern in Kontakt treten und sie später auch daheim besuchen.

Die Idee zu der preisgekrönten Initiative hatten die Internistin Christine Scholten und Renate Schnee, die Leiterin des Begegnungszentrums Am Schöpfwerk. „Unser Ziel ist es, dass Frauen aus Migrantenfamilien am Leben in Wien aktiv teilnehmen“, so Scholten. „Wir wollen ihnen Chancen eröffnen und ihnen zeigen, was sie für sich und ihre Kinder tun können.“

Der Bedarf ist riesig: In Wien gibt es Tausende Frauen, die oft viele Jahre in Österreich leben, aber ohne Deutschkenntnisse Angst vor ihrer Umgebung haben. Das weiß Mashaer Ali Hamad aus vielen Gesprächen. Was tun, wenn jemand krank wird? Mit wem reden, wenn der Mann keine Arbeit findet und sein Frust die Familie trifft? Wohin sich wenden, wenn die Kinder Probleme in der Schule haben oder Missverständnisse entstehen? Wie etwa im Fall einer Mutter, die nächtelang darüber grübelte, warum ihr Sohn von der Volksschullehrerin scheinbar fertiggemacht wurde: „Er bekam bei vielen Übungen ein Kreuzchen, weil er die Aufgaben super gelöst hatte. Aber die Mutter fühlte sich durch das Symbol angegriffen.“ Die Muslimin verstand nicht, warum die Lehrerin Kreuze in das Heft malte. Die Erleichterung war groß, als Mashaer Ali Hamad ihr die Bedeutung erklärte: „Sie war so erleichtert und stolz auf ihr Kind.“

Es ist wichtig, die Ausgangslage der Frauen zu verstehen, denn dann werden auch die Angebote zur Integration besser angenommen. Lehrkräfte, AMS-BeraterInnen und offizielle Stellen können oft einschüchtern, auch wenn ihre Erklärungen gut gemeint sind. „Die Angebote bestehen zwar, aber die Menschen sind nicht imstande, sie zu nutzen“, erklärt Scholten. Ihre mit viel Engagement betriebene Initiative schließe die Lücke zwischen Familien und Institutionen.

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Nurten Müller (li.) und Mashaer Ali Hamad stehen als ausgebildete Profi-Nachbarinnen beratend zur Seite.

Der wahre Lohn für ihre Tätigkeit als Nachbarin sei das wunderbare Gefühl, in kurzer Zeit verzweifelten Frauen wieder Hoffnung geben zu können, erzählt Nurten Müller. Sie ist in Ostanatolien/Türkei geboren und kam zum Anthropologie-Studium nach Wien. „Ich fühle mich glücklich, wenn eine Frau wieder lächeln kann“, sagt sie. Der Druck lässt nach, wenn Probleme angesprochen werden. So wie bei jener Türkin, die durch eine arrangierte Ehe mit einem entfernten Verwandten vor Jahren nach Österreich kam: Als sie mit Nurten Müller in Kontakt kam, war sie psychisch am Ende, konnte sich nicht konzentrieren. Ein Kind hatte sie während der Schwangerschaft verloren, ein zweites starb nach einem Jahr. Sie hatte enorme Angst, dass ihre unglückliche Situation auch gesundheitliche Folgen für ihre jetzt achtjährige Tochter haben könnte, dass sie krank werden könnte.

Nurten Müller wird die Frau zur genetischen Beratung im Wiener AKH begleiten. Sie bemüht sich aber auch um mehr Normalität im Alltag: „Wir waren gemeinsam beim Yoga. Die Frau nimmt an einer Ernährungsberatung teil. Außerdem ist sie durch unsere Gespräche viel selbstsicherer geworden. Sie möchte besser Deutsch lernen und traut sich nach mehreren Rückschlägen wieder einen Kurs zu.“

Die Profi-Nachbarinnen erreichen mit ihrer Tätigkeit pro Jahr etwa 400 Familien. Demnächst wird ein Verein in Linz das Konzept übernehmen. Und in Wien wird mit einem Preisgeld eine Migrantin als Geschäftsführerin angestellt. Der Verein „Nachbarinnen in Wien“ wird zu 60 Prozent durch private Spenden und langfristig engagierte Sponsoren sowie zu 40 Prozent aus öffentlichen Geldern finanziert. Persönlicher Einsatz etwa in Form von Lernhilfe für Kinder ist willkommen. Lernhilfe soll mindestens einmal pro Woche erfolgen und nicht weniger als ein Semester dauern, um Stabilität zu gewährleisten. Dafür gibt es 10,00 Euro pro Stunde Aufwandsentschädigung. Weitere Infos: [email protected] sowie www.nachbarinnen.at.

Tipps zur guten Nachbarschaft

  • „Auf gesunde Nachbarschaft“: Nachbarschaftsinitiativen aus Stadt und Land. www.gesunde-nachbarschaft.at
  • FGÖ-Weiterbildungsdatenbank: Seminare zum Thema „Gesundheitsförderung“ sowie „Gesunde Nachbarschaft“. weiterbildungsdatenbank.fgoe.org
  • Netzwerk Nachbarschaft: Die deutsche Initiative  mit Ausläufern nach Österreich gibt Anregungen, wie sich das Wohnumfeld verbessern lässt. Mit Checklisten und Tipps für ein aktives Aufeinander-Zugehen. www.netzwerk-nachbarschaft.net
  • „Gemeinsam gesund in …“: Für Gemeinden und Städte, die sich mehr engagieren wollen. Fonds Gesundes Österreich, Tel. 01 895 04 00-24. www.gesunde-nachbarschaft.at
  • Nachbarschaft InTakt – Mediationsinstitut: Der Verein mit österreichweitem Netzwerk bietet Streitparteien eine geförderte Mediation. Tel. 01 512 94 77. www.nachbarschaftsmediation.at
  • Martin Kind: Wenn Nachbarn nerven …, Wien 2013, 180 Seiten, Euro 14,90. Dieses KONSUMENT-Buch ist im Buchhandel sowie beim VKI unter der Tel. Nummer 01 588 774 erhältlich bzw. kann unter www.konsument.at/nachbarn bestellt werden

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Das Interview mit der Mediatorin Andrea Jungbauer-Komarek über Konfliktlösung und die richtige Mischung aus Nähe und Distanz finden Sie in der Printausgabe der „Welt der Frau“ 02/14!

 

Erschienen in „Welt der Frau“ 02/14 – von Romana Klär

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  • Veröffentlicht: 31.01.2014
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