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Ausgabe:
Bewegung
04-05/24

Wissenschaftliches für die breite Öffentlichkeit, also für Menschen wie mich

Also, damit Sie mich jetzt nicht falsch verstehen: Leichte Kost liest sich anders. Aber dafür gibt es ja auch die anderen Bücher, die so flott aufgemacht sind, dass man gleich nach dem Klappentext schon fertig damit ist. Das ist der vorliegende Band nicht: Aber niemand, nein, wirklich niemand, wird sich für das Thema interessieren und erwarten, dass ein lockeres Sachbuch-Dings-Da vor ihr und ihm liegt. Ich bin schlauer geworden beim Lesen, habe Anregungen gefunden, die ich in Seminare mitnehme: Mein Ehrgeiz, dieses Buch unter die Leute zu bringen, ist geweckt.

Kaum eine Schlagzeile kommt ohne das Nomen „Konflikt“ aus: Konflikte in bzw. im, Konflikte mit und Konflikt um – das sind die begleitenden Präpositionen. Warum nur meint man, dass „Konflikt“ negativ besetzt werden muss? Wilfried Graf und Werner Wintersteiner beziehen sich in ihrem Beitrag auf Ralf Dahrendorf, der „Konflikt als ein Grundmerkmal jeder Gesellschaft definiert und ihn auch als treibende Kraft gesellschaftlichen Fortschritts begreift.“ (S .64)

Gertraud Diendorfer und Johanna Urban widmen sich in ihrem Beitrag zum Thema „Politische Bildung“ (S. 124 – S. 179) historischen und aktuellen Gegebenheiten. Es tut gut, hier den Transformationsprozess nachzulesen, den die Politische Bildung in den vergangenen 100 Jahren durchlief. Vielleicht werde ich doch einsichter und nachsichtiger mit mir und den jungen Menschen, wenn sie sich starke Männer in der Politik wünschen, die jung und smart sein müssen. Schöner kann man es doch nicht formulieren als die beiden: „Zweite Republik: Von der Staatsbürgerschaftskunde zur Politischen Bildung“. (S. 130)

Für die Entwicklung der Politischen Bildung in der Nachkriegszeit Österreichs kann zusammenfassend festgehalten werden, dass die Bildung mündiger BürgerInnen nicht zu den Prioritäten der regierenden Parteien gehörte, vielmehr wurde auf die Kultivierung eines Österreichbewusstseins Wert gelegt. (S. 131)

Seit 2008 ist das Wahlalter von 18 auf 16 Jahre gesenkt worden, das hatte Auswirkungen auf die Konzepte und das Wording der Politischen Bildung – „Entscheidend bist du!“. Dass Einwanderungsgesellschaften zur Herausforderung der Politischen Bildungen wurden bzw. ständig werden, kann hier ebenfalls nachgelesen werden. Wie also lassen sich Mehrfachidenitäten begreifen, wie kann man ihnen Rechnung tragen? Das Konzept des „global citizen“ und der „global Citizenship Education“ ist hilfreich für alle, die über Tellerränder schauen wollen bzw. können: Wer versteht sich als WeltbürgerIn, respektiert Diversität, übernimmt Verantwortung für das eigene Tun? Achtung, jetzt kommt ein harter Bruch in meinem Text zu Anton Pelinkas Beitrag „Populismus“, den er schlechthin als anti-kosmopolitisch bezeichnet.

In der zeitgenössischen Demokratie ist keine Partei, die Erfolg hat oder haben will, frei von populistischen Schattierungen. Das ist die Folge des Wettbewerbs um Wählerstimmen, die unvermeidlich zu bestimmten inhaltlichen Vereinfachungen und emotionalen Mobilisierungen führt. (Pelinka, S. 322)

 

Was Sie versäumen, wenn Sie das Buch nicht lesen: Orientierung, Teilhabe am wissenschaftlichen Diskurs, Auffrischung des eigenen Wissens, Horizonterweiterung, Beweis, wie wichtig die Gesellschaftswissenschaften sind, Grundlagenwissen, noch einmal Erklärungen zum Konzept der Demokratie – und, ganz subjektiv, wer Pelinkas Beitrag über „Populismus“ liest, erspart sich gleich drei Diskussionsrunden im Fernsehen, kann sich ab dann fundiert über Populisten aufregen bzw. sie als Teil des Systems sehen. Vom Mögen redet hier keiner!

 

Alles über die AutorInnen bzw. HerausgeberInnen finden Sie ab Seite 391. Die möchte ich am liebsten alle kennenlernen.

 

 

Gertraud Diendorfer/Blanka Bellak/Anton Pelinka/Werner Wintersteiner (Hrsg.):

Friedensforschung – Konfliktforschung – Demokratieforschung.

Ein Handbuch.

Wien u. a.: Böhlau 2016.

Schau dir einfach mal deine Jeans an

Auch wenn alle Wege angeblich nach Rom führen, Papst Franziskus mutiger und sozialer auftritt als mancher Politiker in Österreich, muss man wohl hinnehmen, dass einerseits klug gedacht und geschrieben wird, andererseits banal und gierig agiert. Jeder und jede weiß, dass die 80 Euro, die eine absolute Durchschnitt-Jeans kostet, nicht gerecht zwischen Unternehmen, Handel und ArbeiterInnen verteilt werden. Fair-Jeans kaufen, eine Möglichkeit? Und was kümmert einen das, wenn man gerade 15 Jahre alt ist? Oder kümmert einen das mit 15 Jahren mehr als mit 65 Jahren, wenn man noch so richtig den James Dean geben will, wild und sexy.

Sexy – diesen Begriff verwendet Hubert Gaisbauer nicht, beim Papst wär ich mir da nicht so sicher: Er schreibt und spricht ja so, dass man ihn gut versteht, etwa im Bereich der Empfängnisverhütung. Verstehen muss man halt wollen.

Enzyklika – ein Brief an alle Menschen, die guten Willens sind, denn jeder und jede kann etwas tun, damit man unsere Erde schützen und vor noch größerem Schaden bewahren kann. Das schreibt Hubert Gaisbauer in seinem Buch, das die geniale Eleonora Leitl illustriert hat: Ein Genuss, eine Initiative und ein richtiges Hausbuch für Junge und Alte, egal, ob sie nun Jeans tragen oder nicht. Daher hier im Blog, denn die Großen haben das Geld, das Buch zu kaufen und zu verschenken, ein etwas spätes Geschenk zur Firmung, ein frühes Buch für Weihnachten oder einfach auch ein Buch, weil man die Beschenkten mag und sich selber manchmal auch.

Caro ist das Kind, an das Hubert Gaisbauer diese Briefe über einen Brief des Papstes schreibt: Der Brief und das Buch sollen die Runde machen, man soll über seine Umwelt, über seine Mitwelt reden, den Unterschied zwischen Lebewesen und Dingen bereden und begreifen.

Franz von Assisi liebte das Studieren in Büchern nicht sehr. In seiner Lebensbeschreibung heißt es, dass er nur „zuweilen“ las, dann allerdings so konzentriert, dass das Gelesene „unauslöschlich in sein Herz“ geschrieben war. Sein gutes Gedächntis ersparte ihm daher auch das Nachlesen in Büchern.

Wer den Sonnengesang kennt, kann ihn beim Lesen summen. Wer mehr über die Gedanken von „Laudato si“ wissen will, findet schnell gute, weiterführende Literatur. Vielleicht fährt man gleich mit dem Rad in die nächste Buchhandlung, isst fünf Tage kein Fleisch und begreift, dass es ernst ist und kein Geplänkel mehr hilft, wenn uns einer die Frage stellt – es muss nicht immer ein Papst sein, es könnte auch ein Kind so fragen: „Welche Art von Welt wollen wir denen überlassen, die nach uns kommen, den Kindern, die gerade aufwachsen?“

 

Was Sie versäumen, wenn Sie das Buch nicht lesen: Inspiration, Freude, Nachdenklichkeit, Bezug zu den Äußerungen von Papst Franziskus, Weltbewusstsein, Freude am Leben und am Dasein, Lust auf Veränderung und Mitgestaltung derselben.

 

Die Illustratorin: 1974 geborene Künstlerin, Absolventin der Meisterklasse für Grafik- und Kommunikationsdesign in Linz. Mehrfach ausgezeichnet sowohl für ihre Texte als auch für ihre Illustrationen, einer der ehrlichsten Menschen, die ich kenne, experimentierfreudig, neugierig, fleißig, ambitioniert und voller Wertschätzung für kluge Texte, die sie dann ebenso klug, findig und mit sehr viel Elan illustriert.

 

Der Autor: 1939 geboren, Journalist (ORF), 1967 war er Mitbegründer des Kultursenders Ö1, später u. a. Leiter der Hauptabteilung Religion.

 

 

Leonora Leitl (Ill.); Hubert Gaisbauer (Text):

Ein Brief für die Welt.

Die Enzyklika Laudato si von Papst Franziskus für Kinder erklärt.

Innsbruck – Wien: Tyrolia Verlag 2016.

Verrate niemals ein Familienmitglied

Dem Autorenduo ist es wichtig zu betonen, dass dieser Roman auf einer wahren Geschichte basiert, genauer auf der Familiengeschichte Stefan Thunbergs: Er ist einer der bekanntesten Drehbuchautoren Skandinaviens, seine Brüder waren gemeinsam mit dem Vater berüchtigte Bankräuber in Schweden. Wie im Roman waren die Brüder schlecht auf den Vater zu sprechen, doch das Band zwischen den Brüdern scheint niemals zu zerreißen, niemand wird es trennen können.

Es riecht nach Essen, genauer gesagt nach Tomatensoße mit Fleisch, die Spaghetti sind auch fertig, als es an der Tür läutet. Es hätte harmloses Gerangel dreier Brüder sein können, wer die Tür öffnet. Doch dann herrscht Stille: Er ist zurück. Auch die Mutter reagiert nicht sofort, denn heute schlägt er anders als in den Jahren zuvor. Leo springt dem Vater auf den Rücken, denn er hat eines begriffen: Heute hört Vater erst mit dem Schlagen und Treten auf, wenn Mama tot ist. Ihr gelingt dank Leo die Flucht, Vater und Sohn starren sich in der mittlerweile leeren Küche an, es riecht noch immer nach Fleischsoße, nach warmem Essen und nach dem Blut der Mutter.

Viel Hass, viel Verzweiflung und viel nicht gelebte Liebe zwischen den männlichen Akteuren der Familie, Leo kennt Vater ja auch anders, streng, unnachgiebig, ausfallend, wenn er zu viel getrunken hat. Und das hat er meistens. Er will, dass seine Söhne keine Waschlappen werden, trainiert sie und zwingt sie, sich ihren Gegnern in der nicht gerade feinen Wohngegend zu stellen. Sie müssen lernen, richtig zuzuschlagen, der erste Hieb muss sitzen. Das lernt Leo fürs Leben, seine beiden Brüder Vincent und Felix werden seine genialen, manchmal noch zu beaufsichtigenden Gehilfen: Sie werden die berühmtesten Bankräuber Schwedens.

Leo hat lange geplant: Zuerst brechen die Brüder in ein Waffenlager der Armee ein, lange bleibt der Einbruch unbemerkt. Dann setzt die Welle der Banküberfälle ein, sie wollen das Geld, sie achten darauf, niemanden dabei zu töten. Sie verkleiden sich als Araber, achten darauf, schlechtes Englisch zu reden, die blonden Haare unter Perücken versteckt. Einen haben sie noch dazu genommen, zu viert sind sie unschlagbar: Pech, dass ihr Vater beginnt, sich Gedanken über diese Bankräuber zu machen. Pech auch, dass John Broncks, der Ermittler, die Motive der Bankräuber zu erkennen scheint, intuitiv wie Leo denken kann.

Das erwartete Gefühl wollte sich nicht einfinden. Obwohl die vierzehn Monate währende Ermittlung mit Grübelei, Frust, Jagdfieber, Mutlosigkeit, Wut und hin und wieder sogar Hass nun endlich vorüber war. Big Brother saß nur wenige Hundert Meter entfernt in einer Zelle … eine ganze Familie war in die Sache involviert gewesen. Drei Brüder, ein Kindheitsfreund, eine Freundin und der Vater. Eigentlich müsste er feiern, lachen, jubeln. Aber die Freude blieb aus. Vierzehn Monate und dann – nichts.

 

 

Was Sie kennenlernen, wenn Sie den Roman lesen: Gewalt in Familien, Gewalt gegen Kinder und Frauen: Das ist die Matrix, der dieser Roman folgt. Er stellt Solidarität in Familien in Frage, er erzählt vom Leben in sozialen Brennpunkten, in denen der Recht hat, der stärker als die anderen ist. Sie lernen die Unerbittlichkeit eines Ermittlers kennen, die Verzweiflung der Frau, der Mutter und die inneren Kämpfe der Söhne. Energie, hier in Gewalt kanalisiert.

 

Die Autoren:

Anders Roslund: ein für seinen investigativen Journalismus mehrmals ausgezeichneter Autor, der versteht, Spannung bis zum letzten Satz zu halten.

Stefan Thunberg: Bruder der einst berüchtigsten Bankräuber Schwedens, der unterschiedliche Reaktionen aus seiner Familie auf diesen Roman erhielt. Er ist ein bekannter Drehbuchautor, alle Fans der Fernsehserien um Mankells Wallander und Hakan Nessers van Veeteren kennen seinen Stil.

 

 

Anders Roslund & Stefan Thunberg:

Made in Sweden.

Thriller.

Deutsch von Holger Wolandt und Lotta Rüegger.

München: Goldmann 2016.

Einmal schreiben wie Günther Grass

Die Märchen von 1001 Nacht haben ja schon mal geholfen, jetzt kehren wir zurück zum Lesen und das in genau 19 Abenden. Klar bekommen wir davor die Spielregeln erklärt, sogar mit Formular zum Nachmachen. Da wird mit dem Zauber des Anfangs gespielt, genauer mit dem Zauber des Romananfangs. Probieren wir es doch gleich aus, alle Streber heben die Finger, die Frischmaturierten haben es schwerer, die Alten kannten Romananfänge ja noch besser, also die nicht ZentralmaturantInnen, die hatten zumindest diesen Romananfang drauf, sogar ich mit meiner Handelsakademie-Matura kannte den. „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.“ Genau, da könnten wir doch gleich mal mitraten. „Ilsebill salzte nach.“ Ja, das wird schon schwieriger.

Aber wie geht es weiter? Selbst bei diesen kanonisierten Anfängen verlässt uns häufig schon beim zweiten Satz die Textkenntnis. Dafür eröffnen sie sofort Assoziationsräume und engen gleichzeitig den Korridor der plausiblen Fortsetzungen ein. Das gilt in gleichem Maße für weniger berühmte erste Sätze. Bei Mimikry ist der erste Satz der Ausgangspunkt, von dem aus die Mitspieler weiterschreiben.

Dann also auf zum ersten Abend, einem 14. März 2015, Holm Friebe ist Gastgeber, die Chronistin die rotzfreche Jungautorin Ronja von Rönne, weitere Spieler Philipp Albers, Lukas Imhof und Lina Muzur. Genau, dann beginnt man zu googeln, was dier Imhof macht und die Lina Muzur und schon geht es los. Die Romane, aus denen der jeweils erste Satz vorgelesen wird sind unter anderem „Portnoys Beschwerden“ von Philip Roth, „Gläserne Bienen“ von Ernst Jünger und „Albatros“ von Stanislaw Lem, drei habe ich jetzt nicht erwähnt. Ob diese professionellen LeserInnen wohl den echten Philip Roth erraten aus den so gut „nachgemachten“ bzw. „nachempfundenen“ weiteren Sätzen? Klar, die Auflösung kriegen wir auch mitgeliefert, wäre ja sonst nicht auszuhalten, dass jede Leserin und jeder Leser in die nächste Öffentliche Bibliothek rennen müsste, um nachzuschauen. Obwohl, das wäre doch ein Anfang, Bibliotheken 24 Stunden lang aufzusperren und die Leute dafür zu bezahlen. Vielleicht ja auch nur 12 Stunden oder 8 oder so. Und das Personal zu bezahlen, sagte ich das schon?


Was Sie versäumen, wenn Sie das Buch nicht lesen: ein besonderes Salonspiel, Freude am Dichten, sich einmal wie die ganz Großen fühlen, die Chance, so richtig zu punkten, kennenlernen besonderer Bücher, Texte, Zeit, sich mit Literatur zu beschäftigen und dabei nicht Bestenlisten auswendig lernen zu müssen, Anregungen, wie man Lust aufs Lesen machen kann ohne gleich ein Stundenbild zu entwerfen, so richtig lachen können und dann noch völligen Unsinn über Käseschnittchen lesen oder waren es Käsehäppchen oder war es einfach doch nur Käse?

 

Die Herausgeber – Philipp Albers und Holm Friebe – sind Gründer und Geschäftsführer der Zentralen Intelligenz Agentur in Berlin; sie spielen gern und sind klug dabei, erfanden elaborierte Spiel- und Improvisationsformate wie Powerpoint-Karaoke.

 

 

Philipp Albers, Holm Friebe (Hrsg.):

Mimikry. Das Spiel des Lesens.

Blumenbar.

Auch als Ebook erhältlich

 

Es ist dein Leben, Elena

Brandenburg. Irgendwo dort liegt Unterleuten. Da wollen viele hin, denn die Grundstücke dort sind extrem günstig. Die Leute dort? Na ja, schon schrullig, aber schrullig lässt einen die geniale Autorin ja auch selber sein. Zuerst schauen wir also mal bei Gerhard und Jule rein, das sind die Spinner mit dem Baby, der Alte, der sich für Vögel interessiert und seine um gefühlte 100 Jahre jüngere Frau, das Baby brüllt meistens. Gerhard hat alles dran gesetzt, die neue Familie nicht zu versauen, er hat diese Stelle angenommen, ist jetzt eine Art Vogelwart: Aber er liebt Jule, die ihm damals als Dozent doch gleich schon in seiner Vorlesung aufgefallen ist. Blöd ist nur, dass der Spinner gegenüber auf seinem Grundstück immer Autoreifen verbrennt. Jetzt riecht sogar das Baby nach verbranntem Gummi. In anderen, in kürzeren Romanen, geschähe jetzt ein Mord. Nicht so hier, man geht zum nächsten Spinner und das wird wirklich eine besondere Tour durch ein ganz normales Dorf, in dem die Grundstücke billig und die Leute ein wenig kauzig sind. Doch die Stadtflüchtlinge – nicht einmal Berlin Kreuzberg und Latte Macchiato dort konnte sie halten – haben natürlich auch schwarze, tiefgründige und abgründige Seiten, darüber liegt ihr Gelaber über die Freude am Landleben. Die Provinz zeigt sich nur kurz von ihrer besten Seite, dann kommen die Investoren und machen die Ureinwohner gierig, die anderen auch, die brauchen nur länger, um mögliche Gewinne zu kapieren.

Berliner Aussteiger wollen hier in Unterleuten gute Menschen sein, sie halten sich für intelligenter als die gewitzten Unterleutner. Die hören sich nämlich die Geschichten des Windrad-Verkäufers, einer Witzfigur wie aus dem Überraschungsei, erst einmal an, dann ziehen sie sich zurück. Und einer, der auch seine Geschäfte machen will, denkt dabei nur daran, seinen drogenabhängigen Sohn weiterhin unterstützen zu können: Wenn der Windrad-Deal genug Kohle abwirft, hat der Senior wieder mehr Kohle für Koks. Dazwischen wieder Therapeuten-Gelaber, Bobo-Gelaber, herrlich, abgründig, böse, schräg. Und dann schreit ja auch wieder das Baby von Jule, die Unterschriften gegen Windräder sammelt und dabei einschläft. Wendegewinner und Wendeverlierer treffen sich hier, schauen einander über die Zäunchen, plaudern über die jeweiligen Schrulligkeiten, einer sucht noch immer seine verschwundene Hebebühne! Zuerst schaut man lesend bei Frieß rein, das sind die mit dem Brüll-Baby, dann geht’s weiter zu Franzen, auch dort ist es nicht besser: Der kleine Bruder Timo hat nämlich Millionengewinne gemacht, während der große Bruder Frederik alles verpennt hat und jetzt den kleinen als Bürgen bei der Bank nennen muss.

Natürlich hätte Frederik seinen kleinen Bruder fragen können. Timo hätte sie in seine atemberaubend große, atemberaubend unordentliche Wohnung gebeten, ein paar Flaschen Club-Mate serviert und beim Zuhören die Stirn gerunzelt, nicht aus Ärger, sondern weil das bei ihm einen Ausdruck höchster Konzentration darstellte. Hin und wieder hätte er genickt und „Das ist ja schön“ oder „Kann ich gut verstehen“ gesagt. Am Ende hätte er, anders als Lindas Familie, nicht gefragt, ob sie verrückt geworden seien.

Pferde, Vögel, Hebebühnen, alte Liebes- und genauso alte Hassgeschichten liegen hier Zäunchen an Zäunchen beisammen. Man möchte hier nicht leben, aber würde gern auch nach Romanschluss weiterlesen. Denn Juli Zeh erzählt einfach unaufgeregt, kommentiert den Wahnsinn nicht, lässt die Leute sich selbst vorführen und lässt kein Detail aus, das Orte wie Unterleuten ausmacht. Und damit die ganz normalen Menschen in ihrem ganz normalen Alltagswahnsinn.

 

Was Sie versäumen, wenn Sie den Roman nicht lesen: einfach alles, denn jedes Fachbuch ist hier in Personen gegossen, da sind die Hipster, da sind die Alten und die Neuen, da sind alte Väter mit jungen Müttern und gut behüteten Kindern, da sind die Schrillen und die, die extrem viel unter ihre Teppiche kehrten, da sind alte Lieben und ebensolche Verletzungen, da sind geniale Charaktere, die erst mit einem Krückstock zuschlagen und sich dann linkisch dafür entschuldigen, genial, dass diese Entschuldigung auch noch angenommen wird. Sie ersparen sich dreimal Tatort-Schauen, die kommenden vier kritischen Sachbücher zum Thema Nachhaltigkeit und Solidarität und Sie wollen einfach dahin, nach Unterleuten. Nicht zum Bleiben, aber schauen wär doch auch schön!

 

Die Autorin ist 1974 in Berlin geboren, hat Jura, konkret Europa- und Völkerrecht studiert; nach längeren Aufenthalten in Krakau und New York gelang ihr mit ihrem Romendebüt „Adler und Engel“ (2001) ein Welterfolg, der Roman wurde in 35 Sprachen übersetzt. Preise und Stipendien folgen. Mehr: www.juli-zeh.de

 

 

Juli Zeh:

Unter Leuten.

Roman.

München: Luchterhand 2016

Lieben bis zur Schmerzgrenze

Genau 420 Seiten, von Winter auf Seite 7 bis zum Winter auf Seite 427 erzählt Anna Mitgutsch die Geschichte von Theo, dem stillen Theo, dem Theo, der sich immer zurücknimmt und der niemandem wehtun will. Theo, 97 Jahre alt, liebt sein Daheim: So läuft er jetzt leichtfüßig über weichen Rasen und erkennt, dass er erstens kein Kind mehr ist und er zweitens diesen Sturz nicht aufhalten können wird. Theo kommt ins Krankenhaus, seine zweite Frau Berta, mit der er sich doch immer so gut ohne Worte verständigt hat, sitzt an seinem Bett. Hier, im Bett liegend, taucht immer wieder Wilma in seinen Gedanken auf: Zuerst fühlte er, der Gärtnergeselle, der Holzknecht, sich auserwählt, von der Enkelin des Bürgermeisters wahrgenommen zu werden. Doch dann war er schnell zu minder, wusste nicht, was mit der schönen Stoffserviette anzufangen sei, schwieg, war noch unbeholfener als zuvor. Dann erkrankte Wilma, wurde launisch, die gemeinsame Tochter Frieda litt darunter, dann lächelte Theo alle Sorgen weg.

Hier breitet sich ein ganzes Universum an Verschwiegenem, an Missverständnissen, an Ungesagtem aus: Frieda hasst Berta, die ihr dümmlich erscheint. Berta hasst Frieda, die ihren Vater immer kritisiert und sie selbst ignoriert. Theo liebt Frieda und liebt Berta, aber mit Berta ist er glücklich, wie er es mit Wilma nie war, das Paar versteht sich ohne Worte. Berta, einfach, kaum des Schreibens mächtig, kocht prächtig, legt Deckchen im Haus auf und bewundert ihren Mann. Da ist Frieda, die verbissen Geschichte studiert und von ihrem Vater immer wissen will, was genau er im Krieg getan hat, ein ganz anderes Kaliber: Aufgeweckt, intelligent, angriffslustig, bereit, jeden Konflikt auszutragen. So wundert sich Theo nur geringfügig, als er Friedas Mann, einen Schnösel aus gutem Haus, der sich mit der Mao-Bibel dekoriert, kennen lernt. Die Ehe geht natürlich nicht gut, die Tochter will beim Vater bleiben, der Sohn kommt zu Frieda, ist häufig und gern bei Theo und Berta. Diese gibt ihm Liebe, Wärme und all das, was sie wichtig für ein Kind hält, ach, soll diese Frieda doch bleiben.

Theo sinniert im Krankenbett über sein stilles Leben, hinterfragt seine eigene Zurückhaltung: Hat er zu oft geschwiegen? Aber, was hätte ihm denn ein Streit gebracht? Einmal lag er in seinem eigenen Blut, war angeschossen, ob das Frieda gereicht hätte, ihn nicht länger unter Generalverdacht zu stellen? Zwischen Winter 1 und Winter 2 kommt schließlich Ludmila ins Haus, schließlich schafft Berta die Pflege ihres Mannes nicht mehr, ist selbst herzleidend, abgemagert, schnell aufgebracht.

Theo war froh, dass Ludmila nicht auf Antwort wartete, wenn er ihre Sätze nicht verstehen konnte, sie drängte ihm ihre Fürsorge nicht auf, war zu Stelle, wenn er aufstehen wollte, und stützte ihn so leicht, dass er glauben konnte, er käme ohne Hilfe zurecht. An der Badezimmertür drückte sie die Klinke herunter, aber er schob sie von sich ohne sie anzusehen und sie verstand: Er war kein hinfälliger Greis und legte auf seine Würde Wert.

Ludmila will ihn unterstützen, die Rosenstöcke umzusetzen; gleichzeitig will auch Berta ihre Beachtung, sie soll jetzt die Tochter sein, die diese nie hatte. Einmal will Ludmila eine Sportsendung im Fernsehen sehen mit dem Argument, daheim sehe ihre Tochter die gleiche Sendung, das bedeute doch Verbundenheit. Ludmila kehrt zu ihrer Familie in die Ukraine zurück, wohin ihr Frieda mit einem langjährigen Freund nachreist. Menschen gehen sich aus dem Weg, halten an alten Regeln fest, öffnen sich nicht und sehnen sich alle danach, geliebt zu werden: Theo, Berta, Wilma, Frieda, Melissa und die vielen anderen Figuren in diesem Familienbild.

 

Was Sie versäumen, wenn Sie das Buch nicht lesen: Beziehungen, die hart sind, Hoffnungen, die sich vielleicht auch erfüllen können, starke Charaktere, die sich nicht verbiegen wollen, exakte Analyse und Charakteristik eben jener starken Charaktere, Landschaften, die sich im Gegensatz zu manchen handelnden Personen sehr wohl öffnen, Mehrsprachigkeit des/der Menschen.

Die Autorin ist 1948 in Linz geboren, ist mehrfach ausgezeichnete Autorin, arbeitet auch als Übersetzerin von Lyrik, legt mit Romanen wie „Die Züchtigung“ oder „Die Ausgrenzung“ (1989) oder „Haus der Kindheit“ (2000) Psychogramme und Soziogramme vor: Sie kartiert Österreich und seine BewohnerInnen präzise, blickt tief und achtet exakt auf den Unterschied zwischen dem Finden und dem Erfinden.

 

 

Anna Mitgutsch.

Die Annäherung.

Roman.

Luchterhand 2016.

Ottakring in Körper und Geist

Der Roman setzt mit Katjas Gespräch mit ihrem Vater ein: Kaum meldet sich der Vater, hat Katja das brennende Gefühl, sich sofort um ihn sorgen zu müssen. Allein dieses Gespräch eröffnet uns LeserInnen Einblicke in Katjas Kindheit. Am Tag der Matura hat Katja ihre Eltern und den Gemeindebau verlassen, jetzt, nach dem Anruf des Vaters fährt sie hinaus nach Ottakring. Der Vater macht sich inzwischen frisch, trinkt von seinem Wein und will seiner Tochter gleich von seiner Diagnose erzählen. An die hat ja niemand geglaubt, das, obwohl er, der Franz, doch mit 50 in Frühpension gehen konnte: Klar, er hat Krebs. Die Killerzellen wüten bereits in ihm. Er hat exzessiv gelebt, dafür gibt’s Krebs, das hätte er, der Franz doch wissen müssen.

Doch Franz ist sein ganzes Leben lang schlecht informiert gewesen. Er hatte die falsche Zeitung gelesen, klein im Format, begrenzt im Inhalt. Seinen Bezirk hat er nur verlassen, wenn er musste. Ottakring. Hier wurde er geboren, hier geht er mit seinem Hund Gassi, hier wird er sterben.

Katja erkennt die vom Leben Gezeichneten, ihren Vater Franz und die vielen anderen Menschen im Wirtshaus: Lebenslang Schnitzel und dazu mehr Wein als Weib und Gesang, schließlich haben sich ihre Eltern ja auf einer Praterwiese kennengelernt. Und ihre Mama Helli, ach die, die hat sie sogar vor dem Krankenhaus auf dem Gehsteig entbunden und ist sowieso jeden Tag in der Arbeit. So war es, Papa war in Katjas Kindheit viel im Vegas und die Mama arbeiten: Franz wollte immer dabei sein, beliebt, bekannt, ein Held. Dessen Vater war wie er selbst alkoholkrank, ein Wrack war aus diesem Mann geworden, der nach dem Krieg nur mehr Schnaps soff. Franz fand ihn schließlich auf dem Boden liegend in der dreckigen Wohnung: Er lüftet erst, nachdem der Leichnam abtransportiert wurde.

Wenn dein Hund Sinatra heißt, dann liebst du eben das Rat Pack, wie toll diese Jungs die Whiskeygläser in den Händen halten, wirklich lässig! Krankheit, Angstzustände, die Kündigung: Franz verlor schon vor langer Zeit die Orientierung, während Helli in der Manner-Fabrik schuftete und Katja sich in der Schule mit dem Mannerschnitten-Bruch sehr beliebt machen konnte. Aber auch das hilft nicht, an den Wochenenden suchen Helli und Katja nach Franz und ziehen von Gasthaus zu Gasthaus in Ottakring.

Endlich kommt Katja an, die erwachsene Tochter kocht Essen für ihren verwirrten Vater, es schmeckt ihm, auch das Gläschen Wein zum Essen genießt er. Dann beginnt er zu röcheln.

 

 

Was Sie versäumen, wenn Sie das Buch nicht lesen: Gemeindebau, Ottakring, Saufengehen, Lügen, Träumen, ein Spaziergang durch die ganz großen Träume, Ängstlichkeit und die Erklärung ihrer Ursachen, Alkoholkrankheit über die Generationen, Ehrlichkeit. Eine atemlos erzählte Geschichte, die sich nur manchmal ausrasten will. Clubs, Beisel, das Vegas und so viele unglückliche Momente, dass man selbst gern einen Schluck mittrinken würde. Pure Menschlichkeit.

 

Die Autorin arbeitet und lebt in Wien; studierte Kostümbild und später Theaterwissenschaften, arbeitete u. a. als Regieassistentin bei Film- und Fernsehproduktionen. Sie hat mehrere Kinderbücher und Romane verfasst und kann sich über zahlreiche Nominierungen bei renommierten Literaturpreisen, u. a. Glauser-Preis, freuen.

 

Amaryllis Sommerer.

Wie das Leben geht.

Roman.

Wien: Picus 2016.

Träumen kostet Mut

Diese Lesezeichen haben Ähnlichkeiten miteinander, nicht nur, weil sie immer dieselbe Autorin haben: Ich nehme ganz selten den ersten Satz oder Absatz, um O-Töne zu vermitteln. Bei diesem Bericht, der sich wie ein Roman liest, wie eine Biografie motiviert und wie eine Kampfschrift auf mich wirkt, hat mich gleich der erste Absatz gerührt. So richtig getroffen.

 Meine Mutter hat mir beigebracht, dass in diesem Land jeder die gleichen Chancen hat. Sie hat mich dazu ermutigt, zu träumen. Obwohl sie sich in den Warteräumen des Jobcenters nicht als vollwertiger Mensch und oft hilflos fühlte, habe ich sie nie auf andere oder auf den Staat schimpfen hören.

Denn wie redet Deutschland hässlich über seine Hartz-IV-BezieherInnen und Österreich ist nicht besser, das schiefe Bild der „sozialen Hängematte“ hält sich ja hartnäckig. Und dann kommt Undine Zimmer, Journalistin, und erzählt uns von ihrer Kindheit, von ihren Eltern, ihrem Umfeld und ihrem Aufwachsen: nicht reißerisch, nicht nach Mitleid heischend – eine solche Mutter hätten wir doch alle gern, eine Mutmachmutter! – und all die Selbstzweifel äußernd, von denen „soziale AufsteigerInnen“ ihr Leben lang begleitet werden. Therapie hilft da nichts, warum auch: Man weiß, woher man kommt und kennt all die Benimmregeln nicht, die Leichtfüßigkeit des Bürgertums ist einem völlig fremd und ein Ausflug ist schon was Besonderes. Für dieses Buch habe ich auch mein Vorhaben „aktuell“ weggeschmissen, denn es erschien bereits 2013. Über seine Aktualität müssen wir jetzt aber nicht reden? Oder?

Undine Zimmer hat nicht über ihre – getrennt lebenden – Eltern geschrieben, sondern über sich und ihre Kindheit. Dann hat sie den Text ihren Eltern gezeigt, manches verändert: Das heißt Respekt, Achtung, Liebe. So erzählt uns die Autorin von ihrer Kindheit, von einem Leben mit Transferleistungen und will keine Verallgemeinerungen aufkommen lassen: Sie schreibt über sich, ihre Kindheit, ihre Erlebnisse. Sie hatte es gut, findet sie, die Mutter hat sich beispielsweise ihre Ballett-Stunden – die waren sehr günstig! – förmlich vom Mund abgespart. Dann hat das Mädchen auf seinem Weg immer wieder Menschen getroffen, die es förderten, begleiteten, auf Ausflüge mitnahmen, auch einmal ins Konzert.

Plötzlich waren Sonntage nicht nur Tage, an denen nichts passierte und niemand Zeit hatte. Wir machten gemeinsame Spielfilmnachmittage, Ausflüge in den Tiergarten und aßen anschließend Pfannkuchen. Zum einen habe ich also sehr viel erlebt für ein Kind aus einer armen Familie. Zum anderen habe ich es fast immer ohne meine Familie erlebt und mich daran gewöhnt, Dinge ohne meine Mutter zu tun.

Nach dem Studienabschluss kellnert Undine Zimmer, sie muss ja schließlich die Miete bezahlen, hat Auslagen: Eine ihrer Uni-Professorinnen begegnet ihr im Cafe und staunt. Ist hier Endstation des Aufstiegs? Undine Zimmer blickt zurück in ihre Schulzeit, wie anders sahen die Wohnungen der MitschülerInnen aus: größer, mit Rückzugsräumen, Kinderzimmer genannt. Undine zieht sich damals in die Badewanne zurück, um in Ruhe lesen zu können, es gab wenig Raum daheim. Doch die Mutter hört Platten, ist ausgebildete Krankenschwester, liest, fördert das Kind – übrigens: Undine ist ihr richtiger Vorname, ein Wesen zwischen zwei Welten, wie passend, wie weise von der Mutter. Und in diesem Mutter-Tochter-Kosmos wird das Ivar-Regal zum Symbol: Die anderen haben es im Keller stehen, bei ihnen steht es im Wohnraum, alles, was ihnen Wert ist, muss reinpassen. Der Vater, der damals noch Taxi fuhr, hat die Sachen von Ikea in die neue Wohnung geliefert: Umzug, Rausreißen aus Vertrautem, weil dort die Miete zu hoch war; genaue Kalkulationen – das beherrscht die Mutter, beim Einkauf beim Diskonter und beim Einkauf bei Ikea. Das Abwägen, das Sich-Bescheiden – brauch ich das jetzt wirklich – ist immer präsent, gibt auch Freiheit, ist gleichzeitig auch Einschränkung.

Und dann kommt ausgerechnet die Undine häufig zu spät in die Schule: Nein, keine schlampigen Verhältnisse, nein, die Kleine hört so gern Radio, am Morgen gibt es einen Fortsetzungsroman, den will sie nicht versäumen. Die Mutter lässt sie gehen, zu Jugendgruppen, zu den Familien ihrer Mitschüler, damit das Kind nichts versäumt: Sie selbst hat diese glücklichen Momente versäumt, war nicht bei der Maturafeier Undines in Schweden mit dabei, doch der Vater kam, die Mutter hat es nicht geschafft. Loslassen, hier im Extrem gelebt, zum Wohle des Kindes und gegen alle Vorurteile der Gesellschaft.

 

Was Sie versäumen, wenn Sie das Buch nicht lesen: einfach all das.

 

Die Autorin, Jahrgang 1979, studierte in Berlin Skandinavistik, Neuere Deutsche Literatur und Publizistik. Sie hat u. a. bei der „Zeit“ gearbeitet, ihre Reportage „Meine Hartz-IV-Familie“ erschien im Zeitmagazin, sie erhielt dafür den Henri-Nannen-Preis.

 

 

Undine Zimmer:

Nicht von schlechten Eltern.

Meine Hartz-IV-Familie.

Frankfurt a. Main: S. Fischer Verlag 2013.

Agedashi Tofu in einer federleichten Panko-Panade
Vom Essen, Tangotanzen, Taxifahren und anderen wichtigen Kleinigkeiten

An sich meide ich Menschen, die ausschweifend vom Essen schwärmen, so als sei Essen eine Hauptbeschäftigung. Doch Layene Mosler hat mich bei der Lektüre ihres Buches belehrt, nicht gerade bekehrt: Es ist möglich, begeistert übers Essen zu reden und zu bloggen und dabei dennoch die Welt nicht aus den Augen zu verlieren, noch viel für Mitmenschen übrig zu haben. Layne hat die Gabe, mit TaxifahrerInnen ins Gespräch zu kommen, der erste taxista in Buenos Aires erzählt ihr beim Taxifahren und Matetrinken von einem besonderen Restaurant. Die Autorin ist begeistert, damals ist sie übrigens nur ein Gast in einem Taxi, aus Kalifornien kommend, in einem Promirestaurant als Küchengehilfin gescheitert und somit wieder auf der Suche nach dem passenden Beruf. Ja, mit Essen soll er zu tun haben, um Essen soll sich das Leben und die Arbeit so drehen. Je länger ich das Buch lese, desto mehr glaube ich das jetzt auch selbst: Da gibt es Taxifahrer, die kaum etwas verdienen und dennoch herrliches Essen – gut und billig – genießen; die nicht im Zentrum zu McDonalds gehen, fette Burger essen, sondern die niemals so genannte Ethno-Küche zu genießen wissen. Auch das Taxifahren in Buenos Aires und New York wird entromantisiert, hoch verschulden sich die Lizenznehmer, wenn sie überleben wollen. Doch welch andere Alternative haben sie? So fahren auch zwei junge Frauen das gelbe Taxi und erzählen Layne von ihren Lieblingsrestaurants und dem Essen, das dort mit großem Ernst und viel Geduld zubereitet wird. Keine Hektik beim Taxifahren, beim Kochen und beim Essen noch weniger: Das wäre ein Modell, das sich zu imitieren, nachzuahmen, lohnt. Tangotanzen lernt die Autorin auch so nebenbei, ihren ersten Tango tanzt sie in Flip-Flops, danach wird es besser, doch nie zu perfekt.

Ich aß langsam, ignorierte das Fußballspiel und beobachtete, wie die anderen Gäste mit den Händen aßen – daher auch das Waschbecken in der Ecke des Speiseraums -, softballgroße Klumpen von etwas, das wie roher Teig aussah, und die sie in familiengroße Stücke Schüsseln mit Eintopf tunkten. Ich fühlte mich wie ein Idiot mit meiner Plastikgabel, aber ich wusste, dass es mir nicht gelingen würde, sauber mit den Fingern zu essen. Außerdem wäre noch sehr viel mehr nötig, um hier drin nicht aufzufallen.

In Berlin schließlich trifft sie zwar nicht Herrn Lehmann, aber gemütliche Taxler; sie verliebt sich und kehrt doch nach New York zurück. Jetzt selbst Besitzerin einer Lenker-Lizenz erlebt Layne alle Taxifahrten anders, souveräner, sie freut sich über die Reaktionen auf ihren Blog, genießt das Essen in Deutschland, genauer, in Berlin und verliebt sich kompromisslos in Rumen, einen leidenschaftlichen Mann und Leser. Und wissen Sie? Es ist völlig normal, sich manchmal zu verfahren: mit dem Taxi und in der Liebe auch.

 

Was Sie versäumen, wenn Sie das Buch nicht lesen: Genuss, Lebensmut, Verwegenheit, heitere Taxifahrten in Buenos Aires, Berlin und New York, liebevolle Eltern, die ihre Tochter auch mental unterstützen, neue Zugänge zum Tango und zum Leben an sich. Die Erkenntnis, dass man nicht vermögend sein muss, um gut zu essen; großen Respekt vor dem Leben der Menschen und den Orten, an denen sie gern sind und essen. Einen richtigen Hunger aufs Leben und aufs Essen auch.

 

Die Autorin hat eine große Leidenschaft: gutes Essen. So will sie in den Orten, an denen sie lebt, stets so gut essen wie die Einheimischen. Zehn Jahre träumte sie davon, ein eigenes Restaurant zu eröffnen, dabei ist sie eine bessere Esserin als Köchin, diese Erkenntnis dämmert ihr nach einem Rauswurf und den Brandblasen an ihren Händen, die sich in der Küche aufgrund ihrer großen Ungeschicklichkeit geholt hat. Sie geht, fährt Taxi, lernt Tango tanzen und den Kultblock „Taxi Gourmet“ zu beginnen. Die Liebe schließlich verschlägt sie nach Berlin.

 

 

Layne Mosler:

Taxi Gourmet.

Auf der Suche nach dem Geschmack des Lebens und der Liebe.

Aus dem Amerikanischen von Sabine Thiele.

München: Droemer 2016.

 

Empfänglich für die Achterbahn des Lebens

Die Heldin dieses Romans, die Ich-Erzählerin Amory Clay, lässt keine Gelegenheit aus, das Leben zu kosten, sich ein großes Stück zu nehmen und dabei auch noch darauf zu achten, dass die ihr Nahestehenden niemals leer ausgehen. Amory – das Mädchen – wird vom Vater 1908 in der Geburtsanzeige in der Times als Sohn begrüßt, dass das kein Fehler, sondern wohl kalkulierte Absicht war, weiß die gesamte Familie. Als der Vater 1918 aus dem Ersten Weltkrieg, dem Großen Krieg, heimkehrt, ist nur körperlich unversehrt. Er, der einigermaßen bekannte Schriftsteller, zieht sich immer mehr in seinem großen Anwesen zurück, seine Frau lässt ihn gewähren und dirigiert die Hausangestellten im Cottage. Der kleinen Amory kommt immer wieder in den Sinn, wie ihre Eltern wohl vor dem Großen Krieg und vor allem vor der Geburt der drei Kinder waren? Lustig, fröhlich? Es ist ihr Onkel, die ihr die erste Kamera schenkt und ihr beibringt, sie richtig zu handhaben: Seit sie zum ersten Mal mit der Kodak Brownie Nr. 2 ihr Motiv ausgewählt, die Belichtungszeit gewählt und ausgelöst hat, legt Amory die Kamera so gut wie nie mehr aus der Hand.

Sie ist eine gute Schülerin im schottischen Internat, übt mit einer Mitschülerin den Zungenkuss und lässt sich auch von der Schulleiterin nicht einschüchtern: „Ich will Fotografin werden, nein, studieren will ich eigentlich nicht.“ Es ist ein Literaturstipendium, das die Tochter aus gutem Hause nach Oxford bringen könnte, wenn da nicht der Vater aufgetaucht wäre. Er fährt sich und Amory direkt in einen See, will sich umbringen und dabei seine Tochter „mitnehmen“: Der Vater kommt in eine Anstalt, der Tochter wird eine längere Zeit der Erholung zugestanden. Sie ist traumatisiert, verlässt das Internat und unterstützt ihren geliebten Onkel Greville als Gesellschaftsfotografin. Sie ist in ihren Mentor dermaßen verliebt, dass ihr völlig entgeht, dass Greville doch die Männer den Frauen vorzieht. Amory möchte berühmt werden: Gekonnt setzt sie die Damen der feinen englischen Gesellschaft in Szene, einmal nur zu mutig, schon ist sie ihre Stelle los und geht nach Berlin. Skandalbilder bringt sie mit: Nachtclubs, Kabaretts, Jazz, käufliche Liebe, miteinander schmusende Frauen, Wolllust – der Skandal ist zwar da, bringt der jungen Fotografin außer einer Verurteilung aber wenig.

Das Buch erzählt Stationen einer mutigen Frau, viele davon erzählen von ihrem inneren Wachstum, ihrer Auseinandersetzung mit ihrer neurotischen Familie, der Verarbeitung des geplanten Suizids des Vaters, Amory hasst den Krieg und wird als junge Fotografin doch eines der Opfer des Zweiten Weltkriegs, des Faschismus.

Ich spürte, dass Ärger in der Luft lag. Und mir fiel auf, dass sich die Anzahl der Schwarzhemden, die als Ordner fungierten, auf geheimnisvolle Weise vergrößerte, da sich immer mehr junge Männer in Uniform dem Zug unauffällig anschlossen. Es gelang mir, etwa zwanzig Schwarzhemden zu fotografieren, die in einer Art Phalanx aus der U-Bahn-Station Stepney Green zum Vorschein kamen, während die gesamte Marschkolonne gerade nach links in die White Horse Street einbog.

Amory wird zusammengeschlagen, sie wird, so die Diagnose, nie Kinder bekommen können. Ihre Arbeit in New York gipfelt in einer wilden Liebesbeziehung, Paris erlebt sie als besetzte Stadt, immer ist sie auf der Suche nach dem Außergewöhnlichen, während ihre Auftraggeber ihre Perspektive nicht immer zu schätzen wissen. Unzählige Cocktails werden hier getrunken, die Fotografin liebt, trinkt, genießt gutes Essen, gute Gespräche und guten Sex. Anpassung ist nicht ihre Stärke, wie auch ihre Schwester eine außergewöhnliche Pianistin und ihr kleiner Bruder ein außergewöhnlicher Lyriker und Pilot wird: Alle drei Kinder sind Künstler, während der Vater in einer Art Schlaftherapie in der Klinik ruhig gestellt wird und sich nach Amory sehnt.

Eine starke Frau, die liebt, die verzweifelt lieben kann, die sich in Männer verliebt, die nicht Helden sein wollen: Die prekären finanziellen Verhältnisse ihrer Kindheit wiederholen sich ihr Leben lang, als Witwe muss sie das Anwesen mit ihren Zwillingstöchtern verlassen – sie ist krank, alt und will in Würde sterben. Rückblenden in die Kindheit, in die Jugend und in die Zeit als junge Frau im Berlin der 30er-Jahre wechseln mit beschwerlicheren Wegen der älteren Frau ab, die über ihr kompliziertes Leben und das Glück, das aus so mancher Komplikation erwuchs, nachdenkt. Pflücke den Tag, Amory!

 

Was Sie versäumen, wenn Sie das Buch nicht lesen: Lust auf ein wildes Leben, Ausgelassenheit, einen anderen Blick auf den Ersten und Zweiten Weltkrieg, Sehnsucht, einen Skandal auszulösen, Lust, wieder zu fotografieren; einen neuen Zugang zu allen Spielarten von Liebe und Wahnsinn, Hektoliterweise Alkohol, Stangenweise Zigaretten – Abstand zu Tofu und Ideen zum „richtig gesunden Leben“, Huldigung an die Liebe, die Melancholie, eine bizarre Heldin.

 

Der Autor, 1952 in Ghana geboren, ist mehrfach ausgezeichneter Verfasser von Drehbüchern, Romanen und Kurzgeschichten.

 

 

William Boyd:

Die Fotografin.

Roman.

Aus dem Englischen von Patricia Klobusiczky und Ulrike Thiesmeyer.

München: Berlin Verlag 2016.

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