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Bewegung
04-05/24

Das Leben ist nicht immer geschmackvoll

Die Handlung zieht sich wie Kaugummi, der Held ist ein Antiheld und weinerlich noch dazu. Wer mehr Handlung will, kann das Buch auch gleich herschenken, mehr wird einfach nicht draus. Aber wer mit dem Ich-Erzähler durch den Alltag gleiten will, den Konjunktiv liebt und Selbstoptimierer verabscheut, erlebt Wonne: Da ist einer, mit dem Carola, die Irgendwie-Freundin, Unterwäsche kaufen geht, kaufen gehen muss. Nicht einmal das schafft er; genauso wenig ist ihm gelungen, ein gefragter Schauspieler zu werden. Nun spricht er Texte im Radio ein, das nimmt er sehr ernst, immer ein wenig böse auf die anderen, dass sie in ihm nicht das verkannte Genie erkennen. Dazwischen kauft er Semmeln, zu Deutsch Brötchen, starrt auf seinen Wecker und besucht Carola, die Irgendwie-Freundin, und deren Eltern. Natürlich, er hat den besten seiner drei Anzüge angezogen, aber auch das passt Carolas Vater nicht: Das Paar, das die biedere Tischgesellschaft ergänzt, sieht Elternfreuden entgegen. Wünscht sich Carola vielleicht auch ein Kind? Von ihm? Zimperlich mit anderen ist der Ich-Erzähler nicht, er analysiert die Tischgesellschaft, er findet passende Bezeichnungen für diverse Lokale, etwa „Rentnerlokal“, in dem Grauhaarige ihren Kaffee genießen und beim Erzähler, Reflektierer, Zauderer Unbehagen auslösen. Als sich Carola tätowieren lässt, nein, nicht nur auf der Schulter, von dem ganzen Rücken hinunter bis zur Hüfte, ahnt er, dass die Vagheit der Beziehung bald ihr Ende finden wird.

Wie immer trug sie ihr Haar offen, und wie meistens musste sie wenigstens dreimal auf die Toilette und schaltete dafür kurz die Nachttischlampe an, so dass ich mehrmals Gelegenheit hatte, im Vorüberhuschen ihren verunzierten Rücken zu betrachten. Schmerzlich veraltet erschien mir mein Wunsch nach einem bedeutsamen Leben.

Carolas Schwangerschaft verunsichert den Erzähler: Ist er wirklich der zukünftige Kindesvater? Soll er mit Carola zusammenziehen? Warum besucht Carola eine Beratungsstelle? Da zieht eine Gruppe Kindergartenkinder an ihm vorüber, die Kleinen gehen in Zweierreihen und rufen Erinnerungen an die eigene Kindheit hervor – ja, es ist die Erinnerung an eine schweißige Hand.

 

In diesem kurzen Text, vom Verlag doch nicht sehr trefflich mit „Roman“ untertitelt, mischt der Autor die Metaebene mit leichter Hand unter den zähen Teig des Heldenalltags. Carolas Ankündigung, sie würde bald Schluss machen mit ihm, lässt ihn nur an die adäquate Reaktion diverser Helden denken, die er immer wieder im Rundfunk einlas. Dazwischen agieren Kassiererinnen, die Treuepunkte anbieten, starke Frauen, die Mülltonnen zurechtrücken und sie lange betrachten, alte Bekannte, die schon lange im Altersheim wohnen und ihm Pommes vom Teller stibitzen. Zufälligkeiten, hier auf die kleine Bühne einer besonnenen Existenz gehoben: Der Erzähler beginnt ein Verhältnis mit Carolas Mutter – „sie beendete den Beischlaf, als würde sie irgendwo einen Stecker rausziehen“ – und kann es kaum fassen, dass er zudem ins Zahn-Ausfall-Alter eingetreten ist.

 

Was Sie versäumen, wenn Sie das Buch nicht lesen: Trägheit, Zitate, Selbstreflexion eines Gescheiterten, Faszination an Kleinigkeiten, bizarre Charaktere, die Eitelkeit eines Egoisten, die Abwesenheit von Spannung, Zeit für Betrachtungen und Beobachtungen, das Sich-Konzentrieren-Müssen, um den Erzählfaden zu halten, um nicht abzuschweifen und an der eigenen Bettwäsche zu riechen.

Der Autor, 1943 in Mannheim geboren, mehrfach ausgezeichneter Schriftsteller, u. a. 2004 mit dem Georg-Büchner-Preis, wird von der Literaturkritik als schreibender Flaneur bezeichnet, von den einen gefeiert und von den anderen kritisiert. Weitere Bücher von ihm „Wenn wir Tiere wären“ (2011), „Tarzan am Main“ (2013) und „Bei Regen im Saal“ (2014).

 

 

Wilhelm Genazino:

Außer uns spricht niemand über uns.

Roman.

München: Carl Hanser Verlag 2016.

Menschen, die ihr Leben zerschweigen

Zwei Frauen und ein Mann bewegen sich aufeinander zu, Entrinnen gibt es keines. Vielleicht wären sie einander auch nie begegnet, wenn Beba nicht in einem Lokal Klavier gespielt hätte, Isa nicht zu einer politischen Aktivistin geworden wäre und Innensenator Otten einige Entscheidungen anders getroffen hätte.

Der Roman setzt mit Ottens Beerdigung ein, Beba ist dort, geladen von der Familie. Ja, die Frau und die zwei erwachsenen Kinder des Innensenators wissen, dass sie als Hure arbeitet und auch nicht anders bezeichnet werden will. Doch genau genommen liegt das hinter ihr, sie ist schwanger von einem netten jungen Musiker. Aber jetzt der Reihe nach. Ursula Fricker lässt die drei Charaktere direkt aufeinander los, wobei Isa und Beba einander in der Not begegnen und helfen, da weiß ja Beba noch nicht, dass Isa Zeisler heißt, so wie der Freier, der etwa vor einem Jahr aufgetaucht ist. Alles gutbürgerlich, bis eben auf Beba, die geflüchtet ist, einfach daheim abgehauen ist, nachdem ihr Vater in den Flammen des Bauernhofs umgekommen ist. Ja, angezündet, zuvor hat er noch auf dem alten Klavier gespielt, Jazz, ja auch das. Die Kleine hat Sehnsucht nach diesem Vater und schuftet jetzt als Hure, um die unersättliche Mutter und Großmutter daheim zufrieden zu stellen. Doch ihr Eigenes, ein ganz gutes, wie ihr ihre Lehrerin versichert, hat sie sich auch schon zusammengespart.

Dazwischen Bildungsbürger, die mit Beba über ihre Arbeit und über ihre Heimat reden wollen. Nein, man will nicht diskriminieren, nur ein wenig reden halt. Auch Isa will das in der Refugee wellcome-Bewegung: Sie hat noch das Auto, das die Eltern bezahlen und gibt gern noch Geld für teure Lederjacken aus, aber damit will sie bald aufhören. Jetzt zuerst der Hungerstreik. Sie würde gut zu Ottens Tochter passen, die Pferde kauft, aber nicht pflegt, die nach Afrika will, den Armen dort helfen und dann doch wieder nicht.

„Sind wir, dachte Isa, nicht alle Kinder von Eltern, die alles besser machen wollten? So frei, wie sie erzogen wurde, sollte sie längst frei sein. Nie wurde dem Kind Zwang angetan, eigenmächtig durfte es seine Entfaltung bestimmen, wann, wo und wie, so war es gedacht.“

Doch jetzt ist Isa ausgebrochen, hat sich radikal für die Flüchtlinge und deren Bleiberecht eingesetzt und greift zu immer drastischeren Mitteln, um Otten einzuschüchtern. Aber auch der erinnert sich an besser Zeiten, linksintellektuell war er, jetzt überlegt er Zwangsräumungen und versteht nicht, warum die FlüchtlingsfreundInnen einfach einen Obdachlosen verprügeln, der im warmen Zelt Zuflucht suchte. Lag er falsch? Was machte seine Frau stundenlang im Reiterhof in der Box ihres Pferdes? Was will er selbst noch vom Leben: noch mehr Geld, seine Macht spielen lassen? Ottens Überdruss, Bebas Sehnsüchte und Isas Widerstände treffen aufeinander, wie gesagt: Wohlstandssorgen treffen auf eine Beba, die nicht zimperlich ist, wenn es um sie geht, die einfühlend ihrer Freundin beisteht, die weiß, dass man auf sich achten sollte und dabei hinreißend Klavier spielt. Noten sollte sie aber schon noch lernen.

 

Was Sie versäumen, wenn Sie das Buch nicht lesen: Zynismus der besten Art, Spannung, differenziert geschilderte Charaktere, Idyllen und Antiidyllen, Verlogenheit, stringente Handlungsführung, hinreißende Nebencharaktere, die Rehbraten servieren, Bestürzung, Orientierung inmitten einer schrägen Welt, Verzweiflung in unterschiedlicher Intensität, kleine Hoffnungen, Brutalität Frauen gegenüber, Banalität in so manchem Engagement des Bildungsbürgertums.

 

Die Autorin, 1965 in Schaffhausen geboren, studierte Sozialarbeit, arbeitete in einem Heim für geistig behinderte Menschen sowie als Theaterpädagogin; sie arbeitet als Journalistin und veröffentlichte bis jetzt drei Romane.

 

 

Ursula Fricker:

Lügen von gestern und heute.

Roman.

München: dtv 2016.

Ich werde dich nie verlassen!

Betty Feathers hält nicht viel von Anpassung, sie trägt Sandalen, wenn andere in wunderschönen Schuhen zum Empfang stöckeln, ihre Haare sind zerzaust, wenn die der anderen Frauen in Wellen gelegt sind. Sie ist in Hongkong aufgewachsen, liebt diese bunte, turbulente Welt: Eigentlich fühlte sie sich Zeit ihres Lebens als Chinesin und ist immer noch erstaunt, wenn der chinesische Priester vom Kantonesischen ins Englische wechselte, als er ihr das Brot reichte. Umso lieber besucht sie die laute Familie Amys, ihrer Freundin seit Kindheitstagen, hier herrscht Liebe, Verständnis und Normalität. Bettys rotbraune Locken ähneln denen ihres zukünftigen Mannes, eines Juristen namens Edward Feathers. Das ist ein ganz und gar verlässlicher und unromantischer Brite, der als Anwalt die meisten Fälle im fernen Osten gewinnt. Die Geschichte dieser Liebe und dieser tragischen Beziehung beginnt in Hongkong, vielleicht erlebt sie sogar so kurz vor der Hochzeit ihren Höhepunkt. Mit einem Kuss, den der schüchterne Edward Betty gibt. Und da steht er auch mitten in der Halle, Terry Veneering, Edwards Rivale im Gerichtsaal und charmante Plauderer auf Empfängen.

Betty begegnet Veneerings Sohn Harry auf diesem schicksalhaften Empfang, unterhält sich unbefangen mit dem Buben und erfährt, dass er am nächsten Tag auf Wunsch seiner Mutter zurück nach England soll. Betty ist traurig, den jungen Mann fern zu wissen, und entsetzt, als sie vom Absturz seines Flugzeuges erfährt. Als sie Veneering in dessen Hotel aufsucht und Harry dort leibhaftig und gesund stehen sieht, ist der Beginn einer leidenschaftlichen Beziehung gelegt und die beginnt gleich am Abend des vermeintlichen Unglücks. Betty kauft sich mit ihrem Notgroschen ein Seidenkleid mit passenden Schuhen.

Erst vor wenigen Stunden war sie entschlossen gewesen, ebenfalls eine tugendhafte Dame zu werden, wie die auf dem Foto. Sie hatte neben ihrem zukünftigen Ehemann gestanden – ihre Eltern wären begeistert gewesen von Edward Feathers – und hatte die Sterne am Himmel betrachtet und daran gedacht, wie sie ihren Kindern eines Tages erzählen würde, wie sie „ja, ich will“ gesagt und es auch so gemeint hatte. Sie sah das Gesicht ihrer Mutter vor sich, gefangen in den Gepflogenheiten des Empire und der Diplomatie. (S. 59)

Betty ist wild entschlossen, mit Edward Feathers glücklich zu werden, mit ihm, dem gänzlich steifen und wenig auf Familie fokussierten Mann, eine ebensolche zu gründen. Dazwischen taucht Ross, dieser seltsame kleinwüchsige Mann mit seinem riesigen Hut auf, will seinen Freund Edward vor Enttäuschung bewahren und lernt erst mit der Zeit Bettys Treue kennen und schätzen. Edward und Betty werden gemeinsam alt, Betty vergräbt eine geheimnisvolle Perlenkette in der Gartenerde und sein Erzrivale Terry Veneering zieht nach Bettys Tod neben Edward Feathers ein: Sie sind die Überlebenden einer langen, verzweigten, wilden Liebesgeschichte, in deren Verlauf sich Leidenschaft in Freundschaft verwandelte. Ja, Ross taucht auch noch auf mit seinem merkwürdigen Hut, den er nie absetzt, doch, am Ende des Romans, bei der Gedenkfeier für seinen langjährigen Freund Edward, tut er es. Es ist Zeit, Geheimnisse aufzulösen, Perlenketten zu verschenken und für erfüllte Sehnsüchte zu danken.

 

Was Sie versäumen, wenn Sie das Buch nicht lesen: Ihr Gespür fürs Skurrile bleibt ungeküsst, das wäre bedauerlich; Sie versäumen eine große Liebe und eine ebenso große Liebesgeschichte; Sie lernen nichts über die vielen Gesichter von Treue; Sie verpassen einen genialen Schluss.

 

Die Autorin, 1928 in North Yorkshire geboren, kassierte zahlreiche Preise, lebt in East Kent und wurde gleich zweimal mit dem Whitbread/Costa Prize ausgezeichnet, der sagt mir zwar nichts, aber es klingt beeindruckend.

 

 

Jane Gardam:

Eine treue Frau.

Roman.

Aus dem Englischen von Isabel Bogdan.

Berlin: Hanser 2016.

Morgen pflanzen wir eine Pfingstrose

Milos und Ljubinka Valetic, ein altes serbisches Ehepaar, waren Teilnehmer an einem EU-Programm für Rückkehrer in die alte Heimat Kosovo. Erst im Jahrt 2000 flohen sie aus dem Kosovo nach Belgrad: Jetzt wollten sie heim, nicht länger ihrer Tochter auf der Tasche liegen, das Programm klang vielversprechend und sicher. Milos war früher engagierter Lehrer für Latein- und Griechischlehrer, er hat seine SchülerInnen zu begeistern gewusst und war nie korrupt. Daher empörte er sich in seinen zahlreichen Briefen darüber, wie die Angehörigen der albanischen Minderheit aus ihren Ämtern und Posten gedrängt wurden. Ja, er, Milos war Serbe, damit hätte er die allerbeste Qualifikation gehabt, um Direktor des Gymnasiums ins Pristina zu werden. Mehr wurde und war nicht gefragt, Milos lehnte ab. Doch jetzt dieses Haus im Kosovo: Sein Sohn hatte doch empfohlen, bei diesem Programm mit dabei zu sein, es gäbe ein Haus, die EU und die serbische Regierung würden dafür sorgen, dass die UmsiedlerInnen sicher seien. Endlich wieder eine Heimat? Milos und Ljubinka Valetic werden durch Genickschüsse in diesem zugigen, aus wenigen Mauern bestehenden und keine Fenster habenden Haus hingerichtet: Wem war Milos auf die Füße gestiegen? Wen hatten die beiden alten Leute gestört?

Milena Lukin eilt durch Belgrad, sie ist auf dem Weg zu ihrem Onkel, der im Krankenhaus liegt: Sie trägt schwere Taschen, so gut ist die Versorgung im Krankenhaus nicht und auch die Verwandten wollen Onkel Miodrag nicht ohne Hochprozentiges und Fettes im Krankenhaus wissen. Es ist Onkel Miodrag, der seine Nichte, die hochqualifizierte Wissenschaftlerin, auf die Hinrichtung der beiden alten Leute im Kosovo hinweist: Ljubinka sei einst seine große Liebe gewesen, so ganz anders als seine jetzige Frau.

Milena muss sich gerade auf der Uni mit Einreichungen herumschlagen, weiß, wie diese am Institut für Kriminalistik und Kriminologie ablaufen – ganz und gar nach dem Motto „Papier ist geduldig“ – Milena ist es eben nicht!

Frau Lukin, wir reden hier vom Kosovo. Was für Fakten brauchen Sie? Das Kosovo ist ein von Verbrechern gegründeter Staat, ein Verbrecherstaat. Wir Serben sind da unten Freiwild. Die Rentner hätten nie einen Fuß ins Kosovo setzen dürfen. (S. 32)

Kosovo-Serben sind Menschen ohne Lobby, verhasst bei den Albanern, unerwünscht in Serbien und ein großes Problem für die EU und deren Auftrag. Milena beginnt, in alten Akten zu stöbern, ruft ihre zwei besten Freunde, einen Anwalt und eine Schönheitschirurgin zu Hilfe. Gleichzeitig muss sie sich mit dem Vater ihres Sohnes Adam wieder um fällige Unterhaltszahlungen fetzen: Gern denkt sie an ihre Zeit in Deutschland zurück. Vera, ihre Mutter, liebt und verwöhnt ihren Enkel, sie ist eine alte Partisanin und erzählt von den Auswanderungsfantasien Onkel Miodrags: Überall sei es damals besser gewesen als in der Heimat. So nimmt Milena eine Spur auf, die heiß und gefährlich ist. Immerhin führt sie zum serbischen Staatssekretär, einem Aufsteiger mit dem Charakter einer Teflon-Pfanne, der eine Schwäche für junge Mädchen, Tennismatches und seine Familie hat. Bald feiert er seinen 50-er und bald werden die Tageszeitungen ihn und seine Schönheitschirurgen-Schönheit von Frau als „Kennedy von Serbien“ bezeichnen. Teure Hobbys hier, alte Häuser dort, Menschen, die sich nach Heimat sehnen und nach Frieden. Hier wird um einen Reisepass gelogen, geschlagen und intrigiert; hier punktet, wer die richtige Nationalität hat, egal, ob es um ein neues Hüftgelenk oder eine Wohnung oder auch nur um einen Pass geht.

Dazwischen Alltag, Witze, Flirts, kleine Gerechtigkeiten und bizarre Abgänge aus diesen Lebenskämpfen. Übrigens: Pfingstrosen sind die Nationalblumen des Kosovo, sie sollen deshalb in derart intensivem Rot blühen, weil ihre Erde vor Jahrhunderten mit Blut getränkt worden ist.

Milenas Reise in den Kosovo konfrontiert sie mit Hass und den Lügen derer, die mit Rücksiedlungsprojekten Geld machen wollen: Ganz oben wird hoch gepokert, gelogen und hier werden entsprechende Akten schnell vernichtet. Der Krimi ist der neue Gesellschaftsroman: Skandinavische Krimis führen in die dunklen Abgründe der Menschen, Regionalkrimis zerpflücken die ländlichen Idyllen. Doch dieser Krimi hier leistet politiische Bildung, provoziert und macht nachdenklich.

Und jetzt hätte ich vor lauter Eifer Ihnen auch noch das Ende verraten; aber was ist hier das Ende? Ich habe die letzten Zeilen jetzt trotzdem gelöscht.

 

Was Sie versäumen, wenn Sie den Roman nicht lesen: Einblick in das Leben im Kosovo, Einblick in das Leben der Serben im Kosovo sowie der Kosovo-Albaner, Einblick in Krieg und Trauma, Einblick in das Gefühl der jungen Generation „Flüchtlingskinder“ zu sein, Einblick in korrupte Politiker, die beinahe immer gewinnen, Alltag einer engagierten Wissenschaftlerin, die einst die Welt retten wollte. Der Krimi ist der neue Gesellschaftsroman, nun macht er uns neugierig auf ein Stück Geschichte, das noch lange nicht aufgearbeitet ist.

 

Der Autor Christina Schünemann lebt in Berlin und hat in Moskau sowie in Bosnien-Herzegowina gearbeitet.

Die Autorin ist in Belgrad geboren, wo sie Neuere Deutsche Literatur und Kulturgeschichte lehrt; sie ist laut Klappentext sowohl in Belgrad als auch in Berlin zuhause und mit ihrem Co-Autor seit fünfundzwanzig Jahren befreundet.

 

 

Christian Schünemann; Jelena Volic:

Pfingstrosenrot.

Ein Fall für Milena Lukin.

Roman.

Zürich: Diogenes 2016.

Ein ausreichend gutes Leben

Wenn wir die Superlative in der Schublade lassen, gelingt es uns, einen klareren Blick auf Wirtschaft, Globalisierung, Wohlstand, Politik, in den eigenen Kühlschrank und auf die nie geschriebene Einkaufsliste zu richten. Wir glauben spätestens seit Kathrin Hartmanns Report „Ende der Märchenstunde: Wie die Industrie die Lohas und Lifestyle-Ökos vereinnahmt“ (Blessing 2009) nicht mehr daran, dass die Supermarktkasse unser neues Wahllokal ist und dass Kaufentscheidungen starke politische Entscheidungen sind. Also wie jetzt weiter? Wir wollen es uns gut gehen lassen, aber auch politisch korrekt leben, unseren Wohlstand nicht aufgeben, aber schon auch ein bisschen teilen. Eigentlich doch sympathisch? Oder doch nicht?

Hans Holzinger geht sein Thema basal an, er provoziert nicht, sondern baut seine Visionen auf solide Mauern: Das tut den LeserInnen, die stets von weiteren Optimierungen bedrängt werden, richtig gut.

Wir können nicht sagen, dass ‚Wenig’ immer gut ist und ‚Viel’ immer schlecht, dass ‚Langsam’ immer besser ist als ‚Schnell’ oder ‚Klein’ immer besser als ‚Groß’. Es geht um das rechte Maß, das immer wieder neu zu finden und zu reflektieren ist. (S. 9)

So baut der Nachhaltigkeitsforscher immer wieder Zitate in seine Analysen ein, die beweisen, dass die Wahrheit doch schon immer mit dabei war. Ein Beispiel mag der Ausspruch Mahatma Gandhis sein: „Die Welt hat genug für alle, nicht jedoch genug für die Gier von wenigen.“ Holzinger lädt seine LeserInnen ein, mit ihm gemeinsam den Suchprozess nach dem richtigen Maß, nach der richtigen Dosis für ein gutes Leben für alle zu beginnen, das Viel, Mehr, am Meisten zu hinterfragen, Defizite zu orten und zu benennen. Nebenbei ist es wunderbare Zusammenschau aller relevaten Publikationen zum Thema „Nachhaltigkeit“, „Globalisierung“, „Gemeinwohlökonomie“: Wer von Ihnen in der Erwachsenenbildung arbeitet, als LehrerInnen tätig ist, Stoff für Deutschmaturen zu relevanten Themen sucht, der findet hier ausreichend Material, genau und mit Liebe und Akribie zusammengestellt.

Wir leben ökologisch über unsere Verhältnisse, doch kulturell unter unseren Möglichkeiten. Diese Möglichkeiten auszuloten, ist eine lohnende und spannende Aufgabe. Sie trägt dazu bei, Reduktion nicht als Verzicht, sondern als Zugewinn zu begreifen.

11 Kapitel, eine ausführliche Literaturliste, werden vom motivierend-ehrlichen Vorwort und von einem zu Veränderungen Lust machenden Ausblick umrahmt. Selten las ich von WissenschaftlerInnen, dass sie sich irrten, nicht so Hans Holzinger. Man habe, so der Autor, zu stark auf Aufklärung und Bewusstseinsbildung gehofft, man wollte die Menschen aufrütteln, die sich aber ihrerseits an dieses Aufgerütteltwerden ebenso gewöhnten wie an den genussvollen Konsum, aus dem man sie gerade rüttelte. Der Autor setzt auf folgende zwei Strategien:

Erstens auf Veränderungen, die uns selber gut tun und die wir gerade deswegen angehen, weil sie uns gut tun, ohne dass wir dabei an die Rettung der Welt denken. Zweitens auf politisches Engagement, das aus dem Impuls demokratischer Verantwortung auf die Stärke des Rechts setzt, das neben Rechten auch Pflichten auferlegt. (S. 199f.)

 

 

Was Sie versäumen, wenn Sie das Buch nicht lesen: praktische Anregungen, sofortige Umsetzungsmöglichkeiten des Gelesenen, geht halt auch bei Sachbüchern besser als bei den großen Romanen, muss man echt sagen! Einen neuen und klaren Blick auf Wohlstand, die Umsetzung dieser Vision, Aufruf zum kollektiven Teilen.

 

Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen in Salzburg, Mitherausgeber der Zeitschrift „Pro Zukunft“ und als Nachhaltigkeitsforscher Mitglieder zahlreicher Nachhaltigkeitsnetzwerke.

 

 

Hans Holzinger:

Von nichts zu viel – für alle genug.

Perspektiven eines neuen Wohlstands.

München: oekom Verlag 2016.

Und dann sagst du deinen Namen

Wir wissen ja so viel über Schreib- und Leseverhalten, über distanziertes Lesen und jenes Eintauchen in einen Text, bei dem die LeserInnen mit dem erzählenden Ich verschmelzen. Und jetzt dieser Roman: Konsequent erzählt dir die Autorin, was du, ja du auch und du auch, siehst, fühlst, denkst; wovor zu dich fürchtest und was du alles erlebt hast. Ja, du hast noch die Narben deiner Pubertätsakne und jetzt findest du mitten in Casablanca das passende Make up, das all deine Wunden überdeckt.

Zuvor aber begegnest du im Flugzeug einer Frau mit sauberen aufgeblasenen Reeboks und du weißt, dass du sie kennst und du weißt auch, dass du sie nicht wiedersehen willst. Wegschauen und wegtauchen, das kannst du gut. Ein wenig anstrengend auf den ersten Seiten ist diese Erzählhaltung schon, aber sie entspricht der Dynamik der Erzählung: Hier ist eine Frau dabei, abzuhauen, sie will Neues erleben und Altes vergessen. Dazu gehört wohl die Passagierin, die mit einer Gruppe unterwegs ist und die sie aus einer der vielen dramatischen Situationen ihres früheren Lebens kennt.

Dann verschwindet dein Koffer und du musst sechs Hotelmitarbeitern zeigen, wie man das Video der Überwachungskamera zurückspielt, dann bekommst du bei der Botschaft andere Papiere, ja, man verwechselt dich. Du bekommst auch einen schwarzen Rucksack und lässt es erst mal gut sein, die andere hat kürzere Haare, also stutzt du deine zurecht. Du hast eine Zwillingsschwester, die hat dich immer zurechtgestutzt, du hast sogar ihr Kind ausgetragen. Ihr, die zweieigigen Zwillinge, habt viel miteinander erlebt, deine Schwester plant nicht nur die Einrichtung ihres Hauses auf den Zentimeter genau, sie plant auch dich ein, schließlich scheinst du ihr etwas schuldig zu sein.

Die Mädchen tauschen einen Blick aus, und einen Moment lang beneidest du die Vertrautheit zweier glücklicher Schwestern, das schöne Gefühl, immer jemanden an seiner Seite zu haben, der weiß, was man denkt. In jungen Jahren hast du gedacht, du und deine Zwillingsschwester könntet so sein; später hast du gedacht, die Ehe könnte so sein. Aber du hast dich zweimal geirrt.

Doch jetzt musst du ans Set, gibst das Double der berühmten Schauspielerin: Eine Szene, die des Schmerzes, spielst du sogar besser als die Diva selbst. Aber dann zerstörst du wieder alles, na ja, beinahe alles, als du dich – mit Kleid und Perücke ganz auf die Echtdiva gemacht – in Ricks Cafe: Die Schlagzeilen sind dir sicher und das Ende deiner Blitzkarriere wohl auch. Dazwischen gönnst du den LeserInnen Ruhe- und Esspausen, du schläfst in wunderbaren Betten, trinkst und isst gut und viel. Dann wieder eine neue Verkleidung und die Angst, dass die Frau, deren Sachen du bei der Botschaft ausgehändigt bekamst, tot sein könnte.

Und dann schließlich lässt du dich selbst zurück, verkleidest dich zwei letzte Male und suchst gemeinsam mit der Dame aus dem Flugzeug, die mit den weißen aufgeblasenen Reeboks nach dir selbst. Und dann gehst du einfach.


Was Sie versäumen, wenn Sie den Roman nicht lesen: eine dynamische Erzählung, die Sie als LeserInnen mit Du anredet und dauern auf Sie einredet, keine Zeit für Langeweile also, bizarre Episoden aus dem Leben einer jungen Frau, die mehr als ihren Rucksack, ihren Pass und ihr Geld verliert, Spiel mit Identitäten, Grausamkeiten in der Familie

 

Die Autorin ist eine der Herausgeberinnen des Believer Magazine, bisher hat sie vier Romane veröffentlicht; sie lebt in der San Francisco Bay Area.

 

 

Vendela Vida:

Des Tauchers leere Kleider.

Roman.

Aus dem Amerikanischen von Monika Baark.

Berlin: Aufbau Verlag 2016

Liebe und Alltag zwischen Grappasorbet und Hammerwerferinnen

Der Einstieg in diesen Roman fällt leicht und gibt eine bestimmte Lesart vor: Hier sitzt ein 80-Jähriger und verliebt sich via Fernsehen in eine 83 kg schwere Hammerwerferin. Da will man hin, da will man bleiben und sich gleich zu Beppi aufs Sofa setzen. Beppi ist der Anführer des Familienclans der Eismacher aus einem Dorf in den Dolomiten: Die beiden Söhne müssen bis sie in den Niederlanden im Eiscafe der Familie mitarbeiten dürfen bei der Großmutter im Dorf bleiben. Ein Schicksal, das die beiden Buben mit allen Dorfkindern teilen, nur Sophia, die Tochter eines Unternehmers wohnt behaglich mit ihren Eltern in der Nachbarschaft. Sie wird von den beiden Brüdern umschwärmt, beide sind in sie verliebt, würden das aber nie zugeben. Die Frauen arbeiten im Eisverkauf, füllen Waffeln und türmen die begehrten Eiskugeln auf die Eistüten: Ihre Hoffnungen sind ein wenig eingefroren, die Männer arbeiten hart und gönnen sich im Winter dann Zeit für ihre Hobbys, Alkohol trinken, Maschinen reparieren und über neue Eissorten nachdenken.

Es war das Los von Eismacher-Kindern. Als Babys, als Kleinkind, als Kindergartenkind kann man jede Saison bei seinen Eltern im Eiscafe verbringen, aber irgendwann muss man zur Schule. In Italien. Der Vorteil war, dass man im Winter nach Hause konnte und in den langen Sommerferien, die in Italien drei Monate dauern, in die Niederlande.

Es ist eine Kunst, Grappasorbet herzustellen, es muss das Verhältnis stimmen, es muss die Temperatur richtig sein: Die Männer experimentieren, fluchen und freuen sich, wenn eine neue Eissorte zum Verkauf steht. Die Rücken werden immer gebeugter, Luca hat schließlich Sophia bekommen, sein Bruder deren Mutter verführt oder auch umgekehrt: Beim Eismachen wird geschwiegen, beim Eisverkaufen nur mit den KundInnen geredet und nur Giovanni, der ältere Bruder, bricht mit der Tradition und widmet sich der Sprache und Poesie.

 

Was Sie versäumen, wenn Sie das Buch nicht lesen: das feine Gespür für Eis, für Sorbets, für ein Handwerk, das im Aussterben begriffen ist, für den Wechsel der Saisonen, für die Kauzigkeiten der starken Charaktere, für die Sehnsüchte der Frauen und die Visionen der Männer, für Verfall, für Schönheit und Eleganz, für Fleiß, Liebe und Leidenschaft.

 

Der Autor wurde 1981 in Bombay geboren, ist halb indischer, halb niederländischer Herkunft. Sein Besteller „Fünf Viertelstunden bis zum Meer“ ist eine kleine, feine Geschichte und zeugt von großer Beobachtungsgabe. Jetzt ist Ernest van der Kwast, der in Rotterdam und in Südtirol lebt, Bestsellerautor.

 

 

Ernest van der Kwast:

Die Eismacher.

Roman.

Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke.

München: Random House 2016.

Mehr als Kaffeesatz lesen

Körperpeelings können bis zu 90 % Mikroplastik enthalten, 89 Mrd. Liter Wasser werden jährlich weltweit in Plastikflaschen abgefüllt, davon landen 80 Prozent dieser Flaschen im Müll. Diese Fakten sind aktuell, aber bestens bekannt: Man weiß ja schon, wo es hakt, wo man mitspielt, wo man nicht hinschauen will. Wie viele Plastiksackerl in Österreich pro Minute ausgegeben, verwendet und weggeschmissen werden, ließe sich jetzt sofort ausrechnen. Die Fakten etwa zum Kapitel „Plastik macht krank“ erläutern die beiden Autorinnen auf klare, drastische und eindeutige Weise: Die Auflistung von Krankheiten zeigt die unmittelbare Wirkung dessen, dass wir Plastik trinken, essen und einatmen. Die LeserInnen – das klingt einfach klüger als „die KonsumentInnen“ – erhalten auch gleich auf den Folgeseiten Tipps zu Alternativen wie Glas und Papier. Fazit: Wiederverwenden ist besser als recyclen und ein erster Schritt in ein besseres Leben. Dass es nicht reicht, die Plastikflaschen künftig im Regal zu lassen, sondern dass wir vielmehr auf das versteckte Plastik achten müssen, ist die logische Konsequenz der Faktenlage. Und Achtung, es gibt sehr trügerische Papiertüten – außerdem ist es nicht sinnvoll so wahllos wegzuwerfen wie man zuvor eingekauft hat. Das ist sympathisch, denn das weist darauf hin, dass wir diszipliniert ans Werk gehen sollten: Bedacht auf die Umwelt, auf die Gesundheit und das Gemeinwohl.

Unser Konsumverhalten ist stark von Gewohnheiten geprägt. Oft bleibt uns im Alltag wenig Zeit, um uns über die Konsequenzen unserer Einkaufsentscheidungen Gedanken zu machen. Schnell greifen wir deshalb unüberlegt ins Regal und produzieren so unnötigen Plastik und Verpackungsmüll.

Die beiden Autorinnen führen ihre LeserInnen auch zur Waschmaschine und erläutern einige Basics. An dieser Stelle müsste jetzt eigentlich die Waschnüsse-Empfehlung kommen, denn wer auf sich hält, kauft bio und wäscht nussig (mit Waschnüssen aus Indien). Das nachstehende Zitat ist Beleg für die Umsicht und Gemeinwohl-Sicht der beiden Verfasserinnen: Greenwashing ist ihr Ding nicht, sie verkaufen keine alten Weine in neuen Bioschläuchen und haben den Blick auf das Ganze, also die Welt nicht nur vor der Haustür.

Seitdem immer mehr Europäer Waschnüsse für sich entdeckt haben, können sich Menschen in den Herkunftsländern keine Waschnüsse mehr leisten. Die Preise dafür sind so stark gestiegen, dass, zum Beispiel in Indien, fast ausschließlich chemische Waschmittel verwendet werden. Abwässer werden oft direkt in Flüsse geleitet. Aus diesem Grund sollten Waschnüsse vermieden werden. (S. 55)

Genau solche Zitate machen Bücher und die darin zu lesenden Empfehlungen „für ein besseres Leben“ empfehlenswert, denn das bessere Leben soll für alle gelten, nicht nur für die reichen Bobos im Norden.

 

 

Was Sie versäumen, wenn Sie das Buch nicht lesen: Impulse zur Veränderung, das gute Gefühl, jetzt und sofort und auch noch hier gleich etwas verändern zu können. Etwa Soda als WC-Reiniger in die Muschel zu streuen und sofort einen Kaffee trinken zu müssen, damit man endlich mit dem Kaffeesatz zu putzen, sich selbst zu peelen oder zu düngen. Es ist kein Besserwisserbuch, sondern ein Küchengespräch, bei dem einen zwei tolle Frauen sagen, dass man doch einfach den Korb nehmen und auf das Plastiksackerl verzichten soll. Ginge ja auch so! Außerdem sind die Fotos wunderschön, stimmungsvoll und die Erklärungen sachlich-praktisch-einfach.

 

Die Autorinnen: Sie verbannten vor zwei Jahren gesundheitsschädliche Stoffe aus ihrem Alltag, sie haben jeweils zwei Kinder und sind zu Profis der Plastikvermeidung geworden. Nadine Schubert ist Journalistin, Anneliese Bunk Designerin.

 

 

Anneliese Bunk & Nadine Schubert:

Besser leben ohne Plastik.

3. Auflage.

München: oekom verlag 2016.

Ein Leben aus kleinen Freuden und Qualen

Per Persson hat schon während seiner Schulzeit gejobbt: In Huddinge, in einem heruntergekommenen Holzhaus namens Club Amore. Per Persson lässt seine frisch verliebte wie vermählte Mutter mit ihrem isländischen Banker nach Reykjavik ziehen und macht seither das, was er besonders gut kann: Als Rezeptionist zu arbeiten und das in der Pension Sjöudden, wie sich der Club Amore nun nennt. Mörder Anders hat all seine Strafen abgesessen, doch ihm, dem 56-jährigen Johan Andersson, ist diese klare Ansprache lieber als sein bürgerlicher Name. Sofort lässt er sich in seiner Pension von Per Persson ein Bierchen einschenken und gut, Tabletten und Schnaps lässt er einstweilen weg.

Jonas Jonasson baut seine Bühne gekonnt auf, die Schrulligkeiten sind ausgeworfen, Alkohol und das wilde Leben in groben Strichen bereits skizziert. Doch wer taugt hier zur zentralen Person, wer gibt hier den 100-Jährigen, der aus dem Fenster steigt und wer seinen Gegenpart. Und da steht sie ja schon vor uns: Sie, die Pfarrerin Johanna Kjellberg, die aufgrund ihrer atheistischen Gesinnung prompt entlassen wurde und das mitten in einer ihrer Predigten.

Und wenn ich mal zwanzig Minuten frei habe und mich auf eine Bank setze, in sicherem Abstand zu den ganzen Räubern und Gangstern, mit denen ich dienstlich zu tun habe, dann taucht eine Pfarrerin auf, die nicht an Gott glaubt, die erst versucht, mir mein letztes Geld abzuschwindeln, und mir dann mein Pausenbrot wegisst. Da haben Sie mein Leben, es sei denn, das alte Freudenhaus hätte sich dank ihrer Fürbitte in ein Grandhotel verwandelt, wenn ich zurückkomme.

Die drei profitieren schnell von ihren unterschiedlichen Fähigkeiten: Sie gründen eine Körperverletzungsagentur, in der Mörder-Anders den Schläger gibt. Aufträge aus Deutschland, Frankreich, Spanien und England trudeln ein, nur die Italiener, die brauchen diese schwedische Agentur wohl nicht. Die erledigen das selber. Mörder Anders ist nicht darauf aus, Geld zu horten, lieber wirft er doch gleich die Jukebox aus dem Fenster seiner Stammkneipe und ersetzt der dann den Schaden: Was sind das denn für Menschen, die Geld in eine Maschine werfen, um Julio Iglesias zu hören? Und wie wäre es damit gewesen, einfach den Stecker der Jukebox zu ziehen? Eine existenzielle Frage, der Mörder-Anders gern nachgeht und dabei über die ungläubige Pfarrerin direkt bei Jesus landet.

Das Trio unternimmt eine gewagte Wendung, stellt mit der „Aktion Weihnachtsmann“ erneut Schweden auf den Kopf und überlegt, sein Geschäft mit dem Weihnachtsmann auf Deutschland auszuweiten, schließlich haben die Deutschen doch ein gutes Herz und Sympathien für den Weihnachtsmann.

Dass Per Persson und Pfarrerin Johanna Kjellberg einander immer näher kamen, seine Mutter sich vom isländischen Banker trennte … das sind Kleinigkeiten auf dem Weg in ein richtig gutes Leben.

 

Was Sie versäumen, wenn Sie das Buch nicht lesen: gelungene Unterhaltung, kantige Charaktere, Reisen durch Schweden.

 

Der Autor, 1961 in Växjö geboren, hat mit seinem Roman „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“ sofort einen Bestseller gelandet, einen Weltbestseller; so hat er wohl nie bereut, dass er einst seine Medien-Consulting-Firma verkaufte. Hoffen wir, dass er seinen drei HeldInnen hier nicht auf den Leim geht!

 

 

Jonas Jonasson:

Mörder Anders und seine Freunde nebst dem einen oder anderen Feind.

Roman.

Aus dem Schwedischen von Wibke Kuhn.

München: carl’s books.

Die Familie ist ein gefährlicher Ort

Es sind immer die netten Nachbarn und Nachbarinnen, die den Polizisten helfen, wenn die Türen aufbrechen müssen. Ja, der nette alte Herr ist also verstorben, er war schon arg mitgenommen von seinem Leben, nur in den letzten Wochen hat er wieder neuen Mut gefunden, ist neugierig geworden, hat sich auf eine alte Spur gesetzt.

Wie die NachbarInnen sind auch die PathologInnen eine große Hilfe, sonst hätten wir gar keine Kriminalfälle mehr, denn ein alter Mann kann doch einfach sterben. Oder man könnte ihn, hätte er seine Nase in fremde Angelegenheiten gesteckt, einfach auch ersticken. Zwischen dem frischen Mordfall und dem Mord einer jungen Frau in den Kriegsjahren bauen sich Zusammenhänge auf. Rosmunda ist damals erdrosselt worden, hat auch sie zu viel gewusst?

Auch Konrad ist pensioniert, doch sein Spürsinn wird sofort wieder aus dem Ruhestand geholt, als ihm seine Kollegin Martha von dem Mord an einem alten Herrn erzählt. Er erinnert sich daran, wie viel Aufsehen damals die Leiche der jungen Rosmunda direkt am Nationaltheater erregte. Aber hatte man da nicht einen jungen Mann festgenommen, der sich für isländische Sagen und Zauberwesen interessierte und waren da nicht noch mehr Zeitzeugen, die sich an den Mord erinnern können. Oder besser gesagt: Wer weiß, ob Rosmunda eine Abtreibung hatte? Wer weiß, wer Rosmunda Gewalt angetan hat? Wer weiß, ob der fesche amerikanische Soldat nicht auch Rosmunda geschwängert hat? Und ist nicht der alte Mann früher Soldat gewesen, hatte also schon früher mit Kriminalfällen zu tun?

Die beiden Männer erfuhren durch Petra, dass ihre Mutter praktisch nie über Rosmunda gesprochen hatte, nicht mit ihr und auch nicht mit anderen Leuten, soweit sie wusste. Sie hatte beiden versichert, dass sie wirklich nicht viel darüber wusste, wonach sie immer wieder fragten. Im Grunde genommen nicht mehr, als dass ihre Mutter in den Kriegsjahren wegen eines schlimmen Verbrechens von der Polizei verhört worden war.

Hier wird viel gelogen, hier wird viel erzählt und noch mehr verschwiegen. Die kleine Näherin, die naiv war, die in einem ehrenwerten Haus überfallen wurde? Ob sie sich das alles nur eingebildet hatte? Eine ehrbare reiche Familie, die ihre Kleider schneidern lässt, die kann doch nicht einen Mörder beherbergen? Ist es zu spät, den alten Mord noch einmal aufzurollen? Abtreibungen früher und heute, Missbrauch junger Mädchen damals und heute, Lebensfreude zwischen den Jahren und dazwischen einige sehr anständige Männer, die darauf pochen, dass die Gerechtigkeit siegt.

 

Was Sie versäumen, wenn Sie das Buch nicht lesen: Ein Gefühl für Eis, Schnee und Kälte, für Gerechtigkeit. Erinnerungen an Island in der Kriegszeit, Erinnerungen an den Status der Frauen, der Werte in einer modernen Gesellschaft.

 

Der Autor , Jahrgang 1961, war Journalist und Filmkritiker bei Islands größter Tageszeitung – heute ist er DER Krimiautor Islands, zeichnet er doch differenzierte Bilder der Gesellschaft und des Landes.

 

 

Arnaldur Indridason:

Schattenwege.

Island Krimi.

Aus dem Isländischen von Coletta Bürling.

Köln: Lübbe 2016.

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