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04-05/24

Wie Vertrauen entsteht

Meine Hände schwitzten und meine Beine zitterten. Ich hatte immer gedacht, ich würde meinem Mann vertrauen – und dann das. „Trau dich“, schrie er. Ich krallte mich am Felsen fest und schaute nach unten. Ich wusste, wenn mein Mann das Seil auslässt, stürze ich 100 Meter tief ab. Allerdings wusste ich auch, dass ich keine wirkliche Alternative hatte, wieder runterzukommen, als mich ins Seil fallen zu lassen. Irgendwann lockerte ich den Griff, ließ den Felsen los und mein Mann seilte mich behutsam ab. Ich bekam damals nicht nur eine Lektion in Sachen Alpinklettern, sondern auch in Sachen Zutrauen.

Vertrauensentscheidungen laufen nicht immer so bewusst ab. Wir verlassen uns ständig und oft ohne Nachdenken auf Dinge und Menschen. Wenn wir mit dem Auto fahren, Essen kaufen oder mit dem Partner/der Partnerin ein persönliches Gespräch führen. Wir vertrauen in uns selbst, in andere, in gesellschaftliche Institutionen und Prozesse und vielleicht auch in eine höhere Führung.

Vertrauen sei ein „Mechanismus zur Reduktion sozialer Komplexität“, definiert es der Soziologe Niklas Luhmann. Vertrauen macht das Leben also irgendwie einfacher. Wer in der heutigen Zeit ausschließlich auf Kontrolle und eigenes Wissen setzen würde, müsste einen unglaublichen Aufwand betreiben und käme dennoch oft an Grenzen. Denn kein Mensch verfügt über genügend Informationen, um exakt abschätzen zu können, ob eine Handlung die gewünschten Folgen hat oder ob ein anderer Mensch genau das tut, was man von ihm erwartet. Kurzum: Ohne Vertrauen geht es nicht. Es gäbe keine Beziehungen zwischen Partnern, Eltern und Kindern, keine Freundschaften und auch keine Beziehungen in der Arbeits- und Konsumwelt.

VERTRAUEN UND RISIKO

„Vertrauen ermöglicht Interaktionen zwischen Menschen, die sich schlecht oder gar nicht kennen“, beschreibt es der Historiker Jakob Tanner, der an der Universität Zürich das interdisziplinäre Forschungsprojekt „Vertrauen verstehen“ geleitet hat, bestehend
aus HirnforscherInnen, ÖkonomInnen und GeisteswissenschaftlerInnen. Die Kehrseite der Medaille ist jedoch, dass Vertrauen ein großes Risiko birgt, nämlich hintergangen, betrogen oder ausgenutzt zu werden. Vertrauen sei eine riskante Vorleistung, so Tanner.

Wer weiß, ob der Kfz-Mechaniker die Schrauben beim Reifenwechsel ordentlich angezogen hat? Ob der Fisch wirklich frisch ist? Auch der Treue des Partners und der Partnerin kann man sich nie hundertprozentig sicher sein. Deshalb sollte man auch nicht „blind“ vertrauen, sondern sehr wohl achtsam sein und manchmal auch misstrauisch. Vertrauen und Kontrolle stehen damit nicht unbedingt im Gegensatz zueinander, sondern können sich ergänzen.

 

WIE VERTRAUEN ENTSTEHT

Die Fähigkeit, vertrauen zu können, hat vermutlich eine biologische Grundlage. Das Hormon Oxytocin dürfte eine zentrale Rolle beim Aufbau von Vertrauen zu anderen Menschen spielen. Es entsteht in der Hirnanhangdrüse unter anderem beim Stillen, bei Berührung und Zärtlichkeit. Wenn man es ProbandInnen in die Nase sprüht, gehen diese in spieltheoretischen Experimenten größere Risiken ein und vertrauen also ihrem Gegenüber eher.

Das Grundvertrauen bildet sich in der frühen Kindheit. Haben wir ursprünglich eine sichere Bindung erfahren, so ist das die Basis für Vertrauen. Je mehr unsere Bezugspersonen auf uns eingestimmt waren, uns zu neuem Verhalten ermutigt und uns gelobt haben, desto größer wurde unser Vermögen, auf uns selbst und die Welt um uns herum zu bauen. Selbstvertrauen und Vertrauen in andere hängen damit unmittelbar zusammen. „Wenn ich meiner selbst wenig sicher bin, übertrage ich die eigene Unsicherheit auf andere Personen“, erklärt die Diplompsychologin Friederike von Tiedemann. „Dann brauche ich jemanden, der an mich glaubt, das schafft ein hohes Maß an Abhängigkeit.“ Die beste Voraussetzung für eine glückliche Beziehung sei, bei sich selbst zu Hause zu sein, nach dem Motto „Ich liebe dich nicht, weil ich dich brauche, sondern ich komme mit mir gut zurecht, finde mein Leben schön, mit dir ist es aber schöner“.

Menschen, denen das Grundvertrauen fehlt, weil sie weniger sensible Betreuungspersonen hatten, verfügen oft über eine schlechtere Bindungsfähigkeit oder sie suchen sich superverlässliche PartnerInnen, so von Tiedeman. Durch zuverlässige PartnerInnen könne es heilende Neuerfahrungen geben, Wunden aus der Kindheit können heilen. Vertrauen ist nämlich nichts Unabänderliches, sondern es entwickelt sich ständig durch Erfahrungen.

 

einen Vertrauensbruch Verarbeiten

Vertrauensbrüche hat jede und jeder schon erlebt. Je näher man sich steht, desto schmerzhafter ist die Erfahrung. Um das Vertrauen wieder aufzubauen, brauche es von beiden Seiten den Willen dazu, sagt von Tiedemann. Erstens müsse die Person, die verletzt wurde, einen Vertrauensvorschuss gewähren, der anderen Person also noch einmal eine Chance geben. Diese wiederum müsse wiederholt Verlässlichkeit zeigen und sich an die Absprachen halten, worauf die andere Person Rückmeldungen geben könne, zum Beispiel: „Danke, dass du angerufen hast, jetzt weiß ich, dass du später kommst.“ Auf jeden Fall brauche es Zeit, um das Vertrauen wiederherzustellen. Und es gelinge auch nicht in jedem Fall.


nicht alle wunden sind heilbar

Für manche Menschen wird nicht nur das Vertrauen in andere, sondern ins ganze Leben zerstört. Barbara Preitler ist Psychotherapeutin beim Verein „Hemayat“ und betreut Folter- und Kriegsüberlebende. Wie können Menschen nach einer so schweren Traumatisierung wieder Vertrauen finden?

Das sei individuell ganz verschieden, weiß Preitler. Die Traumatisierung könne sich sowohl in psychosomatischen Beschwerden äußern, sehr häufig sei auch die posttraumatische Belastungsstörung, bei der man sich an das Erlebte ständig wieder erinnert, es kommt zu einer dissoziativen Störung. Zum Beispiel: Eine Frau hat panische Angst um ihr Kind. Eigentlich gilt die Angst jedoch ihrem verstorbenen Kind, das ermordet wurde. „Wenn man nicht einmal weiß, woher die Angst kommt, ist sie noch schwieriger auszuhalten und zu bewältigen“, sagt die Therapeutin.

In der Therapie sei es wichtig, einen sicheren Ort und eine sichere Beziehung zu etablieren. So kann eine Form der Kommunikation für das gefunden werden, was jenseits des Erklärbaren ist. Das kann auch über den Sport gehen, um so den eigenen Körper wieder als kraftvoll zu erleben und seine Grenzen zu spüren, oder über Maltherapie. Wichtig sei auch, das traumatische Ereignis dort zu verorten, wo es war, in der Vergangenheit, sodass es nicht mehr das ganze Leben bestimme. „Schwere Traumata schlagen Wunden, die nie ganz heilen.“ Aber man könne lernen, mit so schweren Verletzungen wieder Vertrauen ins Leben zu finden.

Vielleicht gelingt das auch oder gerade deshalb, weil sich Vertrauen allgemeingültigen Regeln und der Vernunft entzieht. Vertrauen oder Misstrauen sind immer auch teilweise emotional bestimmte Zustände. Oder wie es Khalil Gibran formuliert hat: Vertrauen ist eine Oase im Herzen, die von der Karawane des Denkens nie erreicht wird.

Bei aller emotionalen Unerklärbarkeit lässt sich aber schon auch ganz rational sagen: Wer vertrauensvoll handelt, kann zwar immer noch scheitern, aber wer misstrauisch handelt, kann die Möglichkeit des Gelingens von vornherein blockieren.

Hätte ich damals beim Klettern nicht vertraut und mich getraut, wäre ich vieler schöner darauf folgender Bergerlebnisse beraubt worden und der Erkenntnis: Es lohnt sich, zu vertrauen, aber es ist gut, auch die Ausrüstung vorher zu kontrollieren.

 

Wem vertrauen Sie?

Martin Schweer ist Professor für pädagogische Psychologie und Leiter des Zentrums für Vertrauensforschung (ZfV) an der Universität Vechta.

Immer wieder ist von einer „Vertrauenskrise“ die Rede. Schwindet das Vertrauen?
Prof. Schweer: Es schwindet immer wieder kurzfristig aufgrund von aktuellen negativen Erfahrungen. Prinzipiell müssen wir aber in unserer heutigen Gesellschaft mehr statt weniger vertrauen. Unser Leben wird immer weniger durchschaubar, und wir müssen uns auf Experten verlassen, die uns sagen, wie wir uns bestimmten Dingen gegenüber zu verhalten haben, das betrifft Fragen der Technisierung, des Gesundheitswesens usw.
Insofern glaube ich, dass die Bedeutung des Vertrauens zunimmt. Gleichzeitig führt diese Vielzahl von Veränderungen zu Unsicherheiten und Ängsten. Es ist eine paradoxe Situation: Auf der einen Seite benötigen wir mehr Vertrauen und auf der anderen Seite ist das Vertrauen zerbrechlicher, weil wir ein höheres Maß an Unsicherheit erleben.

Was heißt Vertrauen für Sie?
Für mich heißt Vertrauen, dass wir uns in die Hand von Personen oder Institutionen begeben und uns auf diese Weise Sicherheit verschaffen. Ein klassisches Beispiel ist der Arzt. Ich muss ihm vertrauen, dass er erstens die richtige Diagnose stellt und zweitens eine vernünftige Therapie einleitet. Wir begeben uns damit in die Hand dieser Person, das ist immer ein Risiko, aber es gibt keine andere
Alternative, außer vielleicht den Arzt zu wechseln.

Sie sind auch Unternehmensberater. Wird Vertrauen als Wettbewerbsfaktor in der Wirtschaft immer wichtiger?
Absolut. Vertrauen ist eine wichtige Ressource bei der Zusammenarbeit mit anderen Unternehmen, bei der Beziehung zu Kunden und auch in der Außendarstellung. Diese Ressource rechnet sich durchaus auch in Euro. In einer Vertrauenskultur sind Mitarbeiter zufriedener, leistungsbereiter
und engagierter, die Kommunikation funktioniert besser, Konflikte lassen sich zielführender lösen.

Wie lässt sich eine Vertrauenskultur in Unternehmen fördern?
Offene Kommunikation, Partizipation und Transparenz sind ganz wichtige Faktoren der Vertrauensförderung.

Es gehört dazu, ab und an einmal auf die Nase zu fallen und enttäuscht zu werden.

Wem vertrauen Sie?
Ich vertraue einigen wenigen Menschen in meinem privaten Umfeld, würde mich aber auch ganz klar zu denjenigen zählen, die immer wieder aufs Neue versuchen, das Wagnis des Vertrauens einzugehen. Mit einer grundsätzlich sehr kritischen Haltung gegenüber unseren Mitmenschen entgehen uns nämlich viele positive Erfahrungen. Es gehört dazu, ab und an einmal auf die Nase zu fallen und enttäuscht zu werden.

Fakten zum Vertrauen

1. Männer und Frauen vertrauen anders – zumindest beim Onlineshopping. Das ergab eine Studie der Universitäten Linz und Friedrichshafen unter der Leitung von Prof. René Riedl. Mittels Magnetresonanztomografie wurden Unterschiede in Gehirnaktivierungen bei Männern und Frauen gemessen. Das Resultat: Frauen hatten größtenteils andere Gehirnregionen aktiviert, sie prüften mehr als Männer.

2. In Ländern mit höherem Wohlstand ist das Vertrauen höher. Mehr Vertrauen führt zu mehr ökonomischen Transaktionen.

3. Religiösen Menschen wird mehr Vertrauen entgegengebracht. Besonders viel Vertrauen
wird religiösen Menschen von ebenfalls Religiösen entgegengebracht.

4. Misstrauen sind immer auch teilweise emotional bestimmte Zustände. Oder wie es Khalil Gibran formuliert hat: Vertrauen ist eine Oase im Herzen, die von der Karawane des Denkens nie erreicht
wird.

5. Bei aller emotionalen Unerklärbarkeit lässt sich aber schon auch ganz rational sagen: Wer vertrauensvoll handelt, kann zwar immer noch scheitern, aber wer misstrauisch handelt, kann die Möglichkeit des Gelingens von vornherein blockieren.

 

Buchtipps

Verena Bentele: Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser. Kailash Verlag, 8,99 Euro
Die Autorin sagt: „Vertrauen macht uns mutig, Vertrauen hilft uns ohne Vorbehalte einem anderen Menschen zu begegnen und Vertrauen ermöglicht uns das Überwinden von Grenzen. Vertrauen heißt aber auch, dass ich mir selbst etwas zutraue und Verantwortung übernehme.“
Zum Interview

Monika Nemetschek: Schattenseiten des Lebens – und wo bleibt Gott? Tyrolia Verlag, 14,90 Euro

Erschienen in der „Welt der Frau“ Ausgabe 10/2014, aktualisiert 01/ 2021.

 

 

 

 

Neue, brauchbare Werte für Frauen: Fünf Vorschläge

Über brauchbare Werte für Frauen.

Vor einiger Zeit kramte ich meine alten Stammbücher und die meiner Schwestern wieder hervor. Ich war erstaunt, was ich darin zu lesen bekam. Es schien mir wie Aufträge, die ich ins Leben mitbekommen hatte, von meiner Mutter, meiner Großmutter, meinen Schwestern, Schulfreundinnen und Lehrerinnen. Sie alle hatten sich in diese abgegriffenen kleinen Büchlein eingetragen. Erinnern Sie sich? Hatten Sie auch ein solches Album der weisen Sprüche? Was las ich nun darin?

WAS MAN UNS INS STAMMBUCH GESCHRIEBEN HAT

„Sage nie: Das kann ich nicht! Vieles kannst du, will’s die Pflicht, alles kannst du, will’s die Liebe. Darum dich im Schwersten übe. Schweres fordert Lieb und Pflicht. Sage nie: Das kann ich nicht!“ Meine Mutter hatte mir dieses Gedicht gewidmet. Was habe ich daraus gelernt? Pflichtbewusstsein.

„Lerne entsagen und ertragen, lerne vergessen und vergeben, dann hast du gelernt zu leben.“ Diesen inhaltsschweren Satz widmete mir eine Lehrerin. Was habe ich daraus gelernt? Verzicht.

„Kannst du kein Stern am Himmel sein, sei eine Lampe im Haus.“ Welch freundlicher Rat einer Schulkameradin. Was habe ich daraus gelernt? Bescheidenheit.

„Sei wie das Veilchen im Moose, so sittsam, bescheiden und rein, nicht wie die stolze Rose, die immer bewundert will sein.“ Hundertfach steht dieser Spruch in Stammbüchern. Was lernen wir daraus? Sittsamkeit.

Und noch ein fünfter Spruch ist mir aufgefallen: „Sei immer gut und edel, mit einem Wort: ein braves Mädel.“ Was habe ich daraus gelernt? Selbstlosigkeit.

Diese Haltungen und Tugenden, die uns das Stammbuch vermittelte, prägten sich uns ein. Im jungen Alter der Orientierung haben sie Gewicht. Sie dringen in unseren Kopf, in unser Herz ohne Reflexion, ohne Kritik. Sie bestimmen unser Leben – gerade wenn wir nicht in Distanz dazu gehen – mehr, als wir vielleicht selbst meinen.

Heute, fast vierzig Jahre später, frage ich mich, ob diese Sprüche mir im Leben geholfen haben. Nicht nur mir. Generationen von Frauen haben versucht, sich entlang dieser Leitlinien zu bewegen. Wie weit sind sie damit gekommen?

Die Landwirtin Marianne Ganglberger hat ihre Goldhaube einst selbst gestrickt. Die Mädchenhaube und das Kleid von Enkeltochter Lara sind geborgt.

WAS MAN UNS NICHT INS STAMMBUCH GESCHRIEBEN HAT

Als ich nachlas, welche Richtung die Sprüche in meinem Poesiealbum nahmen, stieg ein leichtes Gefühl der Beklemmung und des Unbehagens in mir auf. Was war das für ein Befehlston! Wie viel war da mit Ausrufezeichen geschrieben, mir von außen aufgetragen. Sehr viel an Leichtigkeit und Lebensfreude war da nicht zu spüren. War das womöglich mit ein Grund, warum so viele Frauen nach Perfektion streben, warum sie das Gefühl haben, es sei nie genug und man dürfe es sich nicht zu leicht im Leben machen?

Mich beschlich das Gefühl, man habe uns Mädchen mit diesen Sprüchen etwas einseitig gepolt, uns nicht die ganze Fülle des Lebens vermittelt. Da stieß ich wieder auf eine Geschichte aus der Bibel. Sie kennen sie? Sie handelt von Marta und Maria und ist beim Evangelisten Lukas im 10. Kapitel nachzulesen: „Sie zogen zusammen weiter, und er kam in ein Dorf. Eine Frau namens Marta nahm ihn freundlich auf. Sie hatte eine Schwester, die Maria hieß. Maria setzte sich dem Herrn zu Füßen und hörte seinen Worten zu. Marta aber war ganz davon in Anspruch genommen, für ihn zu sorgen. Sie kam zu ihm und sagte: Herr, kümmert es dich nicht, dass meine Schwester die ganze Arbeit mir allein überlässt? Sag ihr doch, sie soll mir helfen! Der Herr antwortete: Marta, Marta, du machst dir viele Sorgen und Mühen. Aber nur eines ist notwendig. Maria hat das Bessere erwählt, das soll ihr nicht genommen werden.“

Ist diese Stelle nicht eine einzige Provokation für alle, die sich wie Marta mühen? Und sind wir nicht alle, die in den Stammbüchern von Pflicht, Verzicht, Bescheidenheit und Mühe gelesen haben, in einer Situation wie Marta? Schauen wir kurz genauer auf Marta. Sie müht sich, aber sie ist voller Aggression, die sie aber nicht direkt ausdrückt, sondern indirekt. „Herr, kümmert es dich nicht?“, sagt sie anklagend. Und sie will, dass er ihre Schwester zurechtweist. Marta hat, so scheint es mir, nicht gelernt, „ich“ zu sagen. Sie definiert sich über andere, über ihre Pflicht, ihre Mühe, ihr unablässiges Tun. Und sie will dafür wahrgenommen, gesehen, gelobt, unterstützt werden. Erkennen wir uns darin wieder? Doch Jesus geht mit seiner Provokation noch weiter. Er knallt Marta vor die Nase, dass Maria sogar den besseren Teil erwählt habe, indem sie nichts tue, als zuzuhören. Stellt das nicht ein ganzes Mädchenstammbuch auf den Kopf?

Seit dem Biedermeier werden in Erica Zeilingers Familie Goldhaube und passender Schmuck vererbt. Die ehemalige Geschäftsfrau aus dem oberösterreichischen Lambach wird ihre Ausstattung an ihre Tochter weitergegeben.

Wenn man die Bibel nicht als historischen Tatsachenroman liest, sondern als Buch der inneren Bilder, können wir besser verstehen, was gemeint ist. Das Bessere, das Hören, kommt, so sagt es Jesus, vor dem Tun. Denn das Hören, das Innere, kann uns nicht genommen werden.

Wer sind wir, wenn wir nichts tun oder nichts mehr tun können? Haben wir dann noch Selbstwert? Denn nur er ist das Fundament, auf dem sich das Tun sinnvoll entwickeln kann. Bloßes Tun ohne Selbstwert führt zu Bitterkeit, so wie wir es an Marta und ihrer Reaktion sehen.

Beim Lesen dieser biblischen Geschichte wurde mir klar, dass man uns als Mädchen nur eine Seite der Wahrheit ins Stammbuch geschrieben hatte. Wir waren zu Martas erzogen worden. Die Maria hatte man uns vorenthalten. Doch Marta und Maria sind Schwestern, so steht es geschrieben. Deswegen müssen wir auch Maria zu ihrem Recht kommen lassen, wenn es uns gut gehen soll.

WAS WIR UNS HEUTE INS STAMMBUCH SCHREIBEN SOLLTEN

Was sind nun Marias Tugenden? Was könnten wir uns heute selbst ins Stammbuch schreiben, was könnten und sollten wir nachlernen? Ich mache Ihnen fünf Vorschläge.

1.  Eigensinn

Er leitet uns auf unserer eigenen Suche im Leben. Jede von uns ist ein unverwechselbares Individuum. So ist es uns zugesagt, auch aus dem christlichen Glauben. Wir haben nicht nur ein Recht, sondern sogar die Pflicht, unserem eigenen Sinn zu folgen. Wo finden wir ihn? Wenn wir nach unseren Träumen fragen, unseren Visionen, unseren Vorstellungen von unserem Leben. Jede Frau weiß, was sie sich erträumt. Sie muss nur wagen, diesen Träumen zu folgen. Sei nicht so eigensinnig, wurde uns oft schimpfend gesagt. Sei eigensinnig, sollten wir uns selbst lobend sagen. Im Eigensinn nehmen wir das Maß an uns selbst, wir überwinden Widerstände und können uns folgenden Satz von Katharine Hepburn ins Stammbuch schreiben: „Ich habe immer das getan, was ich selbst wollte. So habe ich es wenigstens einem Menschen in meinem Leben recht gemacht.“

Die ehemalige Schuldirektorin Marion Schweighofer hat ein Faible für Altes. Sie trägt eine „Bürgerhaube“, die sie einst selbst gestickt hat.

2. Hellhörigkeit

Sie hilft uns, die eigene innere Stimme wahrzunehmen. Wir könnten sie auch Intuition nennen. Sie ist jener Impuls, der uns genau erkennen lässt, ob wir etwas wirklich wollen, ob wir etwas anstreben, ob wir etwas bleiben lassen sollten. Die Hellhörigkeit braucht Zeit und Raum. Im Pilgern, im Gehen, im Schweigen kann sich das innere Ohr öffnen. Die Hellhörigkeit hilft uns, auf die Signale unseres Körpers zu achten und unangenehmen Gefühlen nicht auszuweichen. Wer hellhörig geworden ist, kann die eigenen inneren Schätze heben, gegen das Licht halten und sich an ihnen freuen. Ein Spruch der Schauspielerin Shirley MacLaine könnte in unserem Stammbuch dazu stehen: „Die am tiefsten gehende Beziehung, die wir jemals haben werden, ist die zu uns selbst.“

3. Klarheit

Wer eigensinnig und hellhörig geworden ist, kann klar sagen, was er will, kann Ja und Nein sagen. Wie schwer uns das fällt! Aber erst wenn wir „ich“ sagen gelernt haben, können wir auch wirklich „du“ sagen. Dann sind wir nicht in der Symbiose, die den anderen braucht, um sich überhaupt zu fühlen, dann brauchen wir nicht die Harmonie, die aus der Unterordnung um des lieben Friedens willen entsteht. In der Klarheit ändern sich Konflikte. Man gesteht dem oder der anderen eigene Interessen zu, die genauso stark sein dürfen wie die eigenen. Man kämpft nicht gegen, sondern mit den anderen. In der Klarheit nehmen wir in Anspruch, unseren eigenen Weg zu gehen. Und der braucht gelegentlich auch ein „Nein“. Was halten Sie vom Spruch Sophia Lorens für Ihr Stammbuch: „Ich kann in zwölf Sprachen Nein sagen. Das genügt für eine Frau.“

4. Verbundenheit

Auf der Basis dieser Tugenden kann Verbundenheit entstehen, die nicht aus Abhängigkeit, sondern aus Freiheit geboren ist.

Verbundenheit ist eine bewegliche Form der Zugehörigkeit. Sie weiß, dass Veränderung zum Leben gehört, und muss nichts ängstlich festhalten.

Verbundenheit kann sich auf vieles beziehen, auch auf Traditionen. Aber sie wird nichts festzuhalten suchen. Verbundenheit lässt Wachstum zu. Sie kennt das offene Wort und die offene Umarmung – und einen Spruch, den uns Hannah Arendt, die Philosophin, ins Stammbuch schreiben würde: „Freundschaft ist die Wurzel aller Menschlichkeit.“

5. Humor

Er weiß um die Vorläufigkeit allen Bemühens. Wir sind nur Menschen. Wir müssen nicht perfekt sein. Das Wort „Humor“ kommt vom „Humus“. Die Gärtnerinnen wissen, dass dieser das „schwarze Gold“ genannt wird. Wie im Humus alles verrottet, ist auch der Humor die Essenz des Verdauten. Aus Ärger wird Klugheit, aus Wut die Kraft, aus Niedergeschlagenheit Lachen. Wir müssen nicht perfekt sein, wir dürfen Mensch sein. Schon Papst Johannes XXIII. hat sich selbst immer wieder gesagt: „Giovanni, nimm dich nicht so wichtig!“ Man suche sich als Frau auch humorvolle Vorbilder für das Stammbuch. Beispielsweise die frühere litauische Staatspräsidentin Kazimiera Prunskiene. Sie hat gesagt: „Es stimmt, dass eine Frau doppelt so gut sein muss wie ein Mann. Gott sei Dank ist das nicht besonders schwer.“

WIE DAS ALLES EIN GANZES ERGIBT

Wenn wir die Eigenschaften von Marta und Maria nun zusammen betrachten, sehen wir, dass sie ein Ganzes ergeben. Wer Maria ist, der kann auch Marta anders leben. Da wird das Pflichtbewusstsein aus dem Eigensinn und nicht aus der Fremdbestimmung wachsen, da folgt der Verzicht aus der Hellhörigkeit, weil man nicht mehr alles tut, was man gar nicht will. Aus der Klarheit folgt die Bescheidenheit, weil man weglässt, was man nicht will oder braucht. Aus der Freundschaft ergibt sich die Sittsamkeit, das Befolgen von Regeln, um den Freund nicht zu verletzen. Der Humor schließlich führt uns zur Selbstlosigkeit, weil er uns zeigt, dass wir uns zwar wichtig, aber nicht tierisch ernst nehmen sollen.

Wenn Marta und Maria in uns selbst in der Balance sind, geht es uns gut. Und das Stammbuch ist komplett.

Der Artikel basiert auf einem Vortrag der Autorin beim Landestag der oö. Goldhauben- und Kopftuchgruppen 2012.

Festtagskleidung

Für die Serie „Golden Blossoms“ hat Robert Maybach über 100 Fotografien gemacht. „Dabei habe ich mich auf das Verhältnis zwischen Inszenierung und Authentizität konzentriert. Ich verknüpfte Kindheitserinnerungen an die Goldhaubenprozessionen beim Kirchgang mit meiner Gromutter mit Elementen der Modefotografie und der Renaissancemalerei.“

 

Erschienen in „Welt der Frau“ 78/2012 – von Christine Haiden

Selbstmitgefühl lernen – so geht’s!

Selbstversorger: Neue Wege zu mehr Lebensqualität

Die Höflichkeit wiederentdecken

Ins Blaue diskutieren

Rahel Varnhagen war eine Gesellschaftskünstlerin und vertraute darauf, dass wir alle zusammen genügend Ideen in uns tragen, um aus einem Abend ein Erlebnis zu machen. Auf Geist und Witz kam es ihr an. Jede Frage war erlaubt.

Auf einen Augenblick: Selbst denken

Wenn du der Nachwelt drei Dinge sagen könntest, welche wären das? Was ist gerecht? Ist es besser, zu glauben, ohne zu wissen, oder zu wissen, ohne zu glauben? Wofür lohnt es sich zu leben? Welches Buch rettet die Welt? Wieso, weshalb, warum – wer nicht fragt, bleibt dumm: Die meisten von uns haben das schon als Kinder gelernt. Lauthals mitgesungen. Und wieder vergessen. Die Lust am Fragen und die Lust am Denken gehören höchstwahrscheinlich nicht zu den bevorzugten Freizeitbeschäftigungen Erwachsener. Es gibt bequemere Zerstreuungen. Hochglanzmagazine, in denen das Leben der anderen stattfindet.

E-Bay, wo man das Sein durchs Haben ersetzen kann. Xbox und Playstation, die Abenteuer mit Sicherheitsabstand bieten. Der Fernseher, der aus Leuten, die peinliche Dinge tun, Superstars macht. Satt wird man davon nicht. Die Langeweile kratzt an der Tür.

Auf das Selberdenken kommt es an.

Das dagegen war das Motto der Rahel Varnhagen. Sie lernte es von Gotthold Ephraim Lessing. Seine Werke las sie ebenso wie die von Rousseau, Shakespeare, Dante. Die großen Klassiker, deren Einträge in Wikipedia uns schon zu anstrengend sind.

Dabei war Selberdenken für eine Frau des 18. Jahrhunderts nicht vorgesehen. Der weibliche Wert bemaß sich nach Schönheit und Stand. Rahel hatte beides nicht. Bildung fand ihr Vater nicht notwendig – sie schon. Also las sie, und so öffnete sich die Welt. Doch das reichte ihr nicht. Was nützen die klügsten Gedanken, wenn man sie nicht teilen kann? Rahel lud Gäste ein. Es gab kein großes Diner. Auch keine Sitzordnung, Unterhaltung bot sie ihnen nicht. Sie unterhielten sich selbst. Ob einer von Rang war und von Namen, war nebensächlich. Der Schein war Rahel egal.

 Es hat sich ausgegnädigefraut! Nennt mich Rahel!

Sie war eine Gesellschaftskünstlerin und vertraute darauf, dass alle zusammen genügend Ideen in sich tragen, um aus einem Abend ein Erlebnis zu machen. Auf Geist und Witz kam es an. Jede Frage war erlaubt. Jede Meinung willkommen. Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen gingen die Großen bei ihr ein und aus. Jean Paul. Bettina von Arnim. Alexander Humboldt. Diese schüchterten sie nicht ein:

Viel sprechen würd‘ ich immer, weil ich viel denke. Hierüber mündlich: dass das nämlich ein Irrtum ist, zu glauben, dass die, welche viel denken, schweigen. Wer plappert, freilich, der hat keine Zeit zum Denken. Aber wer Ideen hat, muss sie mitteilen.

Kunst. Philosophie. Literatur. Das Leben. So viel Stoff für spannende Geschichten. Die Welt ist so weit, wie man denkt. Rahel Varnhagen hätte sich wahrscheinlich gewundert, wie wenig davon auf unseren abendlichen Bildschirmen übrig geblieben ist.

Rahel Varnhagen lebte von 1771 bis 1833. Sie wurde bekannt durch ihre Salons, in denen philosophiert und diskutiert wurde. Als Schriftstellerin veröffentlichte sie Tagebücher und Briefe.

Mach's wie Rahel

Schalt den Fernseher aus. Setz den Computer in den Ruhezustand. Schaff Stühle herbei und lade Freunde ein oder andere interessante Menschen. Veranstalte einen Abend zum Reden, Denken, Ins-Blaue-Diskutieren. Ohne großes Essen, ohne aufwendige Vorbereitungen. Hab ein paar Themen in der Tasche und im Kopf. Verwandle die Welt in einen Ort voll Geist und Witz.

 


Erschienen in „Welt der Frau“ 3/2012 – von Susanne Niemeyer

Mut tut gut: Was Frauen mutig macht

Auf einen Augenblick: „Fremde! Zu Weihnachten!“

Frau Schmolka würde gerne in Ruhe das Fest vorbereiten. Aber dann platzt Gott dazwischen.

Am Morgen des 24. klingelt Gott an der Tür von Frau Schmolka, die gerade im Begriff ist, Birnen in eine Pute zu stopfen.  „Das kommt mir aber ungelegen“, stöhnt sie deshalb, was eigentlich jeder verstehen muss, weil man am Heiligen Morgen niemanden mehr besucht.

Gott scheint das nicht zu wissen. Er tritt ein und steuert auf Frau Schmolkas Wohnzimmer zu, in dem der Tannenbaum bereits probeweise leuchtet. „Oh“, ruft sie, „da ist doch schon alles fertig!“ Gott scheint das als Einladung zu betrachten und setzt sich. „Was gibt es denn?“, fragt Frau Schmolka und ringt nervös die Hände. Schließlich ist es schon fast elf. Um zwei kommen die Kinder.

„Ich suche eine Unterkunft für einen Jungen und seine Eltern.“

„Ach.“ Frau Schmolka ist überrascht, dass Gott sich jetzt auch um so was kümmert, wo es doch das Sozialamt gibt oder die Bahnhofsmission oder wer immer dafür zuständig ist.  „Warum nehmen sie kein Hotel? Es gibt sehr schöne Hotels hier …“

„Alles voll.“ Gott zuckt mit den Schultern. „Es ist Weihnachten …“ „Ja, das hätten die sich eben früher überlegen müssen.“ Frau Schmolka hat es noch nie verstanden, warum Menschen zu Spontanreisen neigten. Sie bucht ihren Urlaub sechs Monate im Voraus, da kann so etwas nicht passieren.  „Sie mussten fliehen.“ „Schlimm, schlimm, was es auf der Welt alles gibt.“ Sie schielt in die Küche. Wenn sie schon mal das Wasser für die Klöße aufsetzen könnte …

Aber Gott lässt nicht locker: „Ja, in der Tat. Der Sohn bekam Morddrohungen.“ „Dann wird er sicher etwas auf dem Kerbholz haben. Ich“, betont Frau Schmolka und würde jetzt wirklich gern zurück zu ihrer Pute, „habe jedenfalls noch nie eine Morddrohung erhalten.“ „Er ist ein Säugling.“ „Na, dann sind es eben die Eltern.“ „Ich dachte“, sagt Gott nachdenklich, „sie könnten hier eine Weile bleiben.“ „Hier?“ Frau Schmolka glaubt, sich verhört zu haben. „Ich kenne die doch gar nicht!“ „Aber ich.“

„Wie stellst du dir das vor! Wir wollen doch Weihnachten feiern!“

„Das passt ja.“ „Die Kinder kommen, da will man keine Fremden im Haus.“ Gott seufzt sehr tief. „Das sagen die Leute seit 2000 Jahren schon.“  „Na siehst du!“ Frau Schmolka hat es noch nie eingesehen, warum sie die Welt retten soll, während die anderen ja auch nichts tun. Das ist ja nun wirklich ein bisschen viel verlangt. Manchmal scheint es ihr, als habe Gott den Blick für die Realität verloren. Fremde! Zu Weihnachten!

Nimm das Kind und seine Mutter mit dir und flieh nach Ägypten

Später, als sie es sich alle gemütlich gemacht haben, liest Annemie, die gerade lesen gelernt hat, aus der Weihnachtsgeschichte: „Da erschien der Engel des Herrn dem Josef im Traum und sprach: ,Steh auf, nimm das Kind und seine Mutter mit dir und flieh nach Ägypten und bleib dort, bis ich dir’s sage; denn Herodes hat vor, das Kind umzubringen.‘ Da stand er auf und nahm das Kind und seine Mutter mit sich bei Nacht und entwich nach Ägypten.“ 

Mit glockenheller Stimme liest die Kleine. So niedlich.

So geht's:

Teil das Brot / hol den Wein / mach Licht in der Nacht / die kommen / könnten Könige sein.

Erschienen in „Welt der Frau“ 12/15 – von Susanne Niemeyer

Der Glaube gibt uns Sinn

Drei Schwestern aus dem Mühlviertel fallen auf: die Poxrucker Sisters über Prägungen, Werte, Ansichten und getimte Liebe. Im Advent schenken sie uns einen wunderbaren Moment Musik.

Kaum erklingen im Radio ihre Stimmen, verziehen sich die grauen Wolken des Alltags – so lebensfroh sind die Mundarttexte und Melodien der „Poxrucker Sisters“. Kein Wunder, dass die Gutelaunelieder der drei zierlichen Mühlviertler Schwestern in den Charts rauf und runter georgelt werden. Fast jedes Wochenende schlüpfen Stefanie, 27, Christina, 25, und Magdalena, 20, in ihre Dirndln und geben Konzerte. Werktags sieht ihr Leben anders aus. Da tragen sie Jeans und Waldviertler Schuhe und wohnen – jede für sich – in Linz. Während die Jüngste auf der Pädagogischen Hochschule der Diözese Volksschullehramt studiert, hat die Mittlere, eine Hauptschullehrerin, Religion inskribiert, werkt in einem Jugendzentrum und gestaltet Österreichs größte Jugendsozialaktion „72 Stunden ohne Kompromiss“ mit. Die Älteste, eine Sozialarbeiterin, engagiert sich als Jugendleiterin im Dekanat Altenfelden.

Ich habe den Eindruck, dass ihr den Leuten mit eurer Musik den Blick fürs Wesentliche öffnen wollt.

Steffi: Das trifft es sehr gut. Daher besingen wir bewusst auch das Fehlerhafte. Erst das macht Vollkommenheit aus. Unsere Welt ist nicht heil, aber man kann das Beste aus ihr machen, wenn man zusammenhilft. Niemand kommt alleine durch.
Magdalena: Man muss mit anderen leben können, egal welcher Konfession oder Kultur sie angehören, sonst funktioniert es nicht. Die Erde gehört uns allen. Auch den Generationen nach uns. Wir gehen wertschätzend mit ihr um, möchten sie als guten Platz verlassen.
Christina: Von klein auf lernten wir, Strom und Wasser zu sparen, den Wert von Familie, Freunden und Traditionen zu erkennen. Unsere Eltern vermittelten uns Weitblick und Toleranz, animierten uns zum Reflektieren. Wir lernten, uns einzusetzen – auch für andere.
Steffi: Oft nahmen sie uns zu Demos mit, etwa nach Temelin. Dort protestierten wir dann gegen das Atomkraftwerk. Für uns Kinder war das sehr spannend.

Ob sie zur Sonntagsmesse wollten oder nicht, durften die Schwestern stets selbst entscheiden. Elterlichen Zwang gab’s keinen. Just im Firmungsalter, in dem sich Teenager eher von der Kirche entfernen, brachte ihnen Jugendleiter Reini Fischer den Glauben näher. Mit ihrem Mentor waren sie viel unterwegs, lernten, sich selbst zu hinterfragen und anderen offen zu begegnen. Diese Zeit war so prägend, dass auch sie nun Jugendliche begleiten.

Sind Glaube, Gott und Kirche dasselbe für euch?

Magdalena: Nein! Ich trenne meinen Glauben von der Institution Kirche, wo viele Dinge nicht vertretbar sind. Für mich ist Gott ein guter Freund und Beschützer. Ich kann mir auch vorstellen, dass er mir in Gestalt von Mitmenschen begegnet, die mich wie Engel begleiten. Ich begegne ihm auf Augenhöhe, muss ihn nicht anhimmeln. Er belehrt mich, ohne auf mich herabzuschauen.
Steffi: Nicht umsonst findet man in der Bibel so viele Gottesbilder. Es wäre verheerend, wenn nur ein Blick der richtige wäre. Diese unterschiedlichen Zugänge sollte auch die Kirche zulassen. Der Umgang mit Glauben ist nicht in Zement gemeißelt. Er verändert sich stark im Leben. Für viele gehört der Messegang zum Brauchtum. Uns reicht es nicht, in den Sonntagsmantel zu schlüpfen, brave Christinnen zu heucheln und unter der Woche jede Mitmenschlichkeit zu vergessen. Die Diözese Linz fördert Jugendarbeit zum Glück sehr, auch wenn die katholische Jugend innerhalb der Kirche eine Revoluzzer-Stellung einnimmt. Das passt uns! Auch Jesus war provokant und rebellisch.
Christina: Gerade weil die Kirche nicht den besten Ruf hat, kann man nur etwas verändern, wenn man aktiv im System eingreift. Aussteigen und warten, dass andere es tun, bringt nichts.

56_IMG_0333_PS_1_KLEINEuer Glaube ist demnach eine pulsierende Energie, nicht nur das Herunterbeten des Vaterunsers. Gibt es trotzdem Phasen, in denen er euch nicht berührt?

Christina: Sicher. Wenn’s stressig ist, erscheint Glaube wie Zeitverschwendung. Dann fehlt die Zeit, um sich mit sich selbst, Gott und der Welt zu beschäftigen. In solchen Spannen zwinge ich mich zu ehrenamtlicher Arbeit. Auch da erlebe ich Spiritualität. Und im Nu ist sie wieder da, diese spezielle Kraft. Mal fühlt sie sich leicht an, dann tief. Immer aber trägt sie mich, löst Begeisterung aus. Nach dem Motto: „Jetzt kann ich alles schaffen“.
Steffi: Mich holt sie auch auf den Boden der Tatsachen zurück. Macht mir bewusst, dass Menschsein vergänglich ist, ich aber trotzdem nicht auf der Übelholspur unterwegs sein muss. Letztens, als die gesungene „Praytime“ in unserer Jugendgruppe zu Ende ging, seufzte ein Bursche in der ersten Reihe: „Na geh!“ Er wollte nicht, dass es vorbei ist.

Glaube ist nicht Wissen, inkludiert Zweifel. Was, wenn ihr am Ende feststellt, dass euer Glaube nur Einbildung war?

Magdalena: Das wäre nicht schlimm. Lieber habe ich Hoffnung, dass es weitergeht, als sie nicht zu haben. Glaube macht Sinn. Und er gibt Sinn.

Hilfreich sei er auch an tristen Tagen. Das „Grausliche“ in der Welt sei wichtig, um das Gute zu erkennen. Es brauche beide Seiten. Drücke das Herz, gingen sie nicht frustshoppen, sondern verdrückten eine Träne, richteten einander auf und musizierten. Das liege im Blut. Ihre Oma war Chorsängerin, die Eltern beim Singkreis dabei. Schon als Kinder besuchten die Schwestern die Musikschule, komponierten Lieder, sangen bei Hochzeiten, Taufen, Heimatabenden und bei Christinas Diplomprüfung. In der Kommission saß ihr heutiger Produzent Roman Steinkogler. Sofort wollte er eine CD aufnehmen.

Hättet ihr diesen Schritt aus eigenem Antrieb gewagt?

Magdalena: Bestimmt nicht so schnell. Wir haben keinen Inszenierungsdrang, wollen keine Stars sein. Deshalb nahmen wir nie an Castingshows teil. Ich bin definitiv keine Rampensau. Es gab Zeiten, in denen ich vor Auftritten 40 Grad Fieber bekam und umkippte.
Steffi: Also erzwangen wir nichts. Achteten lieber auf den Fluss, ließen es sich entwickeln.
Christina: Das tun wir bis heute. Wir machen uns nicht wichtig, bleiben der Sache treu. Eine Kunstfigur wie Conchita Wurst kommt exzessiver Selbstvermarktung nicht aus. Wir aber sind immer Schwestern – auf der Bühne und privat. Unsere Dirndln helfen, die Rollen zu trennen.

Wie steht ihr zu Andreas Gabalier? Stichwort: „Frauen sollen bei den Kindern bleiben“.

Magdalena: Wir denken fortschrittlicher.
Christina: Als Künstler hat er eine große gesellschaftliche Verantwortung, kann beeinflussen. Die Leute kaufen ihm alles ab. Deswegen hoffe ich, dass ihm seine polarisierenden Aussagen bewusst sind und er sie nicht nur tätigt, um im Gespräch zu sein.
Steffi: Dass er zigtausend Fans erreicht, gehört als Erfolg honoriert. Mit „Amoi seg’ ma uns wieder“ hat er einen Song präsentiert, der ins Herz geht und authentisch ist [sein Vater und seine Schwester begingen Suizid, Anm.]. Wir wünschen ihm, dass er da dranbleibt. Im Herbst haben wir die Chance, bei seiner Österreich- und Schweiz-Tour als Vorband aufzutreten. Uns ist wichtig: Er macht sein Programm, wir machen unseres. In manchen Bereichen haben wir ganz andere Botschaften.

In „Fiaranond“ singen die Schwestern davon, dass sie sich auch mal in die Quere kommen. Immerhin sind sie „drei Frauen, verschieden alt, mit unterschiedlichen Horizonten und Rollenbildern“.

Bei Geschwistern hat der oder die Älteste oft das Kommando, der Jüngste den Nesthäkchenstatus, die Mittlere das Los des zerriebenen Sandwichkindes. Wie ist das bei euch? 

Christina und Magdalena (lachen): Genauso.
Steffi: Ich, die Älteste, war die Wildeste von uns. Von 14 bis 18 war ich im Internat, weg von daheim. Viele Reibungspunkte kamen so gar nicht auf. Ich bin öfter mal direkt vom Tanzbeisl in die Schule gegangen. Trotzdem konnte ich vorne an der Tafel die Gleichungen lösen.
Magdalena (die Jüngste): Wegsein ist nicht meins. Nach einer Woche in Linz krieg ich schon Heimweh.
Christina (die Mittlere): Ich auch, bin sowieso die Besorgte. Nach Konzerten muss mir jede eine SMS schreiben, ob sie eh gut daheim angekommen ist. Diese Fürsorglichkeit habe ich vom Papa. Er sagt uns heute noch beim Queren der Straße, dass wir rechts und links schauen sollen. Steffi ist die Organisierteste. Sie hatte nur Einser. Sie ist auch definitiv die G’scheiteste.
Magdalena: Zumindest vom Schulsystem her. Wir beiden anderen haben uns geplagt. Waren leider in Bereichen gut, die nicht beurteilt wurden wie zum Beispiel im sozialen Miteinander.

57_IMG_1538_PS_1_KLEINWas gebt ihr als Pädagoginnen Kindern unserer Leistungswelt mit?

Magdalena: Werte. Nicht Noten, sondern Engagement und das Ausleben von Interessen sind entscheidend. Besonders bei der Berufswahl. Sich in einen Job zu zwingen, der einen nicht glücklich macht, wirkt sich negativ auf die Gesellschaft aus.
Christina: Daher sollten Lehrkräfte die Stärken der Kinder fördern, nicht ihre Schwächen unterstreichen. Das nimmt die Angst vorm Scheitern, nährt die Freude am Lernen …
Magdalena: … und lässt selbstbewusste Persönlichkeiten gedeihen. Leider ist manchen Lehrern nicht klar, dass sie nebst Autoritäten auch Menschenbildner sind, Teamleiter, Freunde und selbst fehlbar. Durch ihr Verhalten können sie ein Kind brechen – oder es bestärken, Ja zu sich selbst zu sagen.
Steffi: Gute Lehrer sind leider oft befangen, weil Kinder bereits an vorgekautes Lernen gewöhnt sind. Letztens fiel mir beim Malen mit den Jugendlichen auf, dass etliche nicht mehr frei gestalten können. Aus Unsicherheit, etwas falsch zu machen.
Christina: Kein Wunder! Unserem Schulsystem fehlt jedes Zutrauen. Es gibt nur eine rigide Marschrichtung: „So musst du es machen. Und wehe, du tanzt aus der Reihe.“ Dann wirst du sofort zum Problemkind und Außenseiter. Kinder bekommen keine Chance mehr, autonom zu denken. Deshalb fehlt ihnen die Lust, Neues auszuprobieren. Stattdessen werden sie schon im Kindergarten in Konkurrenz gesetzt: Wer ist der Schnellste und Beste?

Ein bisschen konkurriert haben natürlich auch die Schwestern miteinander – „man ist sich eben oft selbst nicht gut genug“. Trotzdem überwog stets die Solidarität. Viele Jahre waren alle drei Singles. Bis sie sich im gleichen Monat jeweils in die Oberösterreicher Konrad, Stefan und Paul verliebten. 

Steffi: Ich wollte mich erst selbst kennenlernen, bevor ich mich auf jemanden einlasse. Erst als wir wussten, wer wir sind und was wir wollen, hat’s gefunkt. 

Klingt stimmig! Mit „Scheiß di net o“ funkt ihr dafür gehörig gegen euer liebliches Image. 
Christina: Unsere kantigen Seiten sieht man uns nicht gleich an.
Steffi: Unsere Lieblingsfigur war Pippi Langstrumpf. Ihre Prinzipien sind die unsrigen: nachdenken, Herz einbinden, mutig sein. Dagegenreden ist immer schöner, wenn man es aus Freude tut als aus Unzufriedenheit oder Aggression heraus. Unser Aufbegehren ist getragen von einer positiven Überzeugung, nie von destruktiver Energie. Zerstörung hat niemals Sinn.

Erschienen in „Welt der Frau“ 07/15 

 

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