Aktuelle
Ausgabe:
Bewegung
04-05/24

Brauchen wir noch einen Muttertag?

Wir sind auferstanden

Die Suche nach dem Wesentlichen – was uns spirituelle Frauen lehren

Warum beten Menschen?

Muss man alles loslassen?

Vergeben und versöhnen – wie wir friedlicher miteinander leben können

„Ein Unrecht muss vergolten werden“, so denken wir. Und das ist richtig. Doch ohne Versöhnung mit vergangener Verletzung gibt es keine Zukunft. Verzeihen sollten wir daher auch um unser selbst willen. Wie aber gelingt gute Versöhnung?

Wir alle erfahren auf unserem Lebensweg Kränkungen und Verletzungen. Das ist schmerzhaft, besonders dann, wenn dies durch einen Menschen geschieht, der uns nahesteht. Unser Leben gerät aus dem Gleichgewicht. Wut, Angst, Ohnmacht und Traurigkeit ergreifen von uns Besitz. Unsere Gedanken kreisen unablässig um das erlittene Unrecht und kommen nicht los von dem Menschen, der uns verletzt hat.

Oft fanden solche Verletzungen bereits in unserer Kindheit statt.

Wenn mir dies damals nicht geschehen wäre, könnte ich heute glücklich sein.

Eine Mutmaßung. Wir tragen anderen etwas nach und tragen selbst doch am schwersten daran. Denn die Weigerung, zu verzeihen, bindet uns nicht nur an diejenigen, die uns Unrecht zufügten, sie bindet uns auch an die Vergangenheit und überschattet unsere Gegenwart. Und nicht genug damit – oft übertragen wir unseren unverarbeiteten Groll auf gegenwärtige Beziehungen und verursachen dadurch neues Leid.

Vergebung ist daher immer eine Entscheidung für das eigene Lebensglück und trägt entscheidend zu einem friedlichen Miteinander in der Welt bei. 

SICH AUF DEN WEG MACHEN


Doch wie geht Vergebung? Und welche Schritte erfordert sie? Dass es sich bei der Vergebung um einen Kraftakt handelt, der Mut, Entschlossenheit und einen langen Atem braucht, spürt jeder sehr schnell, der sich dazu bereit macht. Denn es bedeutet, sich all seinen verletzten Gefühlen zu stellen und sich den Weg durch Zorn, Scham, Angst, Enttäuschung und Trauer zu bahnen.

Kein Wunder, dass wir davor zurückscheuen und diese Gefühle lieber verdrängen oder vergessen würden, anstatt uns ihnen auszusetzen. Oft sind es auch nahestehende Menschen, die uns nahelegen, doch endlich einen Strich unter die Sache zu ziehen und Gras über die Sache wachsen zu lassen. Doch gerade unter diesem Gras wuchern Kränkungen oft unbemerkt weiter und wachsen sich zu Groll und Bitterkeit aus.

 

Rache ist nicht süß

Nicht selten ergreifen dann Rachegedanken von uns Besitz. Wir wollen es dem anderen heimzahlen. Soll er doch auch einmal spüren, wie sich das anfühlt! Der Wunsch nach Rache ist eine natürliche und archaische Reaktion auf Unrecht. Doch Rache ist nicht süß, sie schmeckt bitter. Sie heilt auch nicht den Schmerz, sondern verursacht nur noch mehr unnötiges Leid. Was sie anrichten kann, führen uns die gewaltsamen Konflikte in der Welt vor Augen, denen meist völlig Unschuldige zum Opfer fallen. Und doch liegt dem Drang nach Vergeltung ein berechtigter Wunsch zugrunde: der nach Gerechtigkeit und Wiedergutmachung. 


Vergebung bedeutet nicht, auf Gerechtigkeit verzichten zu müssen. Sie führt auch nicht zwangsläufig in die zwischenmenschliche Versöhnung mit der Verursacherin oder dem Verursacher der Verletzung, denn sie hat in erster Linie die innerseelische Aussöhnung mit dem eigenen Schicksal zum Ziel.

Es ist daher durchaus möglich, einem Menschen zu vergeben und ihn für seine Vergehen vor Gericht zu bringen, denn die Wahrheit muss ans Licht gebracht, das Unrecht beim Namen genannt werden. Aus diesem Grund entschied sich Südafrikas Regierung nach Beendigung der Apartheid zur Einrichtung landesweiter Wahrheits- und Versöhnungskommissionen. Neu daran war, dass den Täterinnen und Tätern Straffreiheit zugesichert wurde, wenn sie ihre Verbrechen öffentlich gestanden und Reue zeigten.

Gewalt und Rache – ein Teufelskreis


Der Teufelskreis von Gewalt und Rache sollte dadurch ein für alle Mal unterbrochen und Versöhnung möglich gemacht werden. Indem den Opfern die Möglichkeit gegeben wurde, vor die Schuldigen zu treten und zu bezeugen, was ihnen angetan wurde, traten die einst hilflos Gepeinigten aus ihrer Opferrolle heraus und eroberten sich Würde und Macht zurück.
„Ich glaube, das ist der schnellste Weg, um Frieden zu finden und vergeben zu können“, sagte der südafrikanische Bischof und Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu. 

DIE VERSTRICKUNG LÖSEN


Natürlich hofft jeder Mensch nach erlittenem Unrecht auf ein Schuldeingeständnis des anderen und auf dessen Bitte um Verzeihung. Doch solange wir unsere Vergebung davon abhängig machen, bleiben wir an genau den Menschen gekettet, der uns Schaden zugefügt hat, und übergeben ihm den Schlüssel für unseren Heilungsprozess. Was aber, wenn er seine Schuld abstreitet? Oder wenn er sie gar nicht mehr eingestehen kann, weil er zu alt oder nicht mehr am Leben ist? 

In diesen Fällen kann es hilfreich sein, sich einen Stellvertreter zu suchen, einen nahestehenden Menschen oder vielleicht auch eine Therapeutin, die einem sagt:

Ja, dir ist Unrecht zugefügt worden. Es tut mir von Herzen leid.

Diese Worte aus dem Munde eines anderen Menschen werden als sehr befreiend und heilend erlebt. Manche Menschen haben darauf ihr ganzes Leben gewartet. 

Auf dem Weg der Vergebung erkennen wir, dass die Dinge nicht mehr so sind, wie sie einmal waren, und dass sie auch nie wieder so sein werden. Vergeben fordert von uns nicht mehr und nicht weniger, als die Hoffnung auf eine bessere Vergangenheit ein für alle Mal aufzugeben. Was geschehen ist, ist geschehen. Es lässt sich nicht mehr rückgängig machen, sosehr wir uns dies auch wünschen. Wir müssen deshalb nicht gutheißen, was geschah.

Unrecht bleibt Unrecht

Doch indem wir das Unveränderliche Schritt für Schritt akzeptieren, erschöpfen wir uns nicht länger im Widerstand dagegen und sammeln unsere Kraft, das zu ändern, was wir tatsächlich verändern können: unsere Sicht auf das, was geschehen ist, und unsere Reaktion darauf. Vergebung ist somit immer auch eine Entscheidung, die ungeahnte Entwicklungsmöglichkeiten in sich birgt.

Solange wir uns mit der Frage quälen, warum der andere uns verletzt oder betrogen hat, bleiben wir an ihn und die Vergangenheit gekettet. Wenn wir jedoch unsere Perspektive verändern und die Zukunft in den Blick nehmen, öffnen wir uns für Veränderung. Vielleicht gelingt es eines Tages dann sogar, einen Sinn in dem Leid zu entdecken, das uns widerfahren ist. Denn wir selbst entscheiden darüber, wie wir die Verletzung in unser Leben einordnen wollen. Nehmen wir sie zum Anlass für Rache oder Resignation? Oder erblicken wir in ihr die Aufforderung, uns auf einen Weg der Heilung zu begeben? 

Zwischen Tat und Täter trennen

Oft sind es ja gerade die Menschen, die wir am meisten lieben, die unserem Herzen die schwersten Verletzungen zufügen. Menschen, die sich einst liebten, können so zu erbitterten Feinden werden. Denn verletzte Gefühle führen zu einem eingeschränkten Blick auf den anderen. Mit einem Schlag verliert dieser alles Liebenswerte, das er noch vor wenigen Minuten hatte, denn wir setzen den Menschen mit dem gleich, was er getan hat.

Daher ist es auf dem Weg der Vergebung so wichtig, zwischen Handlung und Handelndem, zwischen Tat und Täter zu unterscheiden. Dies ermöglicht es uns, nicht gleich den ganzen Menschen in Bausch und Bogen zu verdammen. Und je mehr wir uns dazu bereit machen, die Hintergründe für das verletzende Verhalten des oder der anderen zu erforschen, desto eher können wir einen Funken des Verständnisses in uns entzünden.

Versuchen Sie daher, den anderen vor dem Hintergrund seiner Lebensgeschichte und seiner aktuellen Lebenssituation wahrzunehmen. Das heißt nicht, dass Sie sein Verhalten billigen oder rechtfertigen müssen. Es macht jedoch die Aktivierung von Empathie möglich. Und Empathie ist der zentrale Schlüssel für Versöhnung. Sie ermöglicht es, sich in die Situation des anderen einzufühlen und zu fragen: „Wie kam er in diese Situation, mir Leid zuzufügen? Was sind die Hintergründe für sein Verhalten?“

Vergebung ist nur dann möglich, wenn wir uns dafür entscheiden, auf das Gute im Menschen zu blicken. Dies kann zu einer tiefgreifenden Versöhnung mit dem anderen und zu einem Neuanfang in der Beziehung führen.

Machen Sie sich bewusst:

1) Sie selbst tragen den Schlüssel für Versöhnung in der Hand.

2) Versöhnung ist ein Akt der Stärke. Und ein Akt der Liebe. Sie befreit den, der sie gibt, und den, der sie empfängt.

3) Versöhnung macht Beziehung möglich. Wir geben dem Leben und den Menschen eine neue Chance, öffnen der Zukunft die Tür und tragen die Schutzmauern ab, die wir um unser verletztes Herz errichtet haben.

Wie kann ich Leid überwinden?

„Wende dich nicht ab, halte den Blick auf die wunde Stelle gerichtet, denn dort tritt das Licht ein“, schrieb der Sufi-Mystiker Mevlana Rumi einst. Indem wir uns der Wunde zuwenden und sie mitfühlend versorgen, indem wir Trost und Beistand bei geliebten Menschen suchen, können schmerzhafte Gefühle sich schließlich wandeln und Raum öffnen für Verständnis, Mitgefühl und tiefere Erkenntnis.

Die Bereitschaft, sich beherzt einen Weg durch das Leid zu bahnen und sich mit dem eigenen Schicksal auszusöhnen, gilt in der Psychologie als eines der auffälligsten Merkmale seelisch widerstandsfähiger Menschen.

Selbst schwere Verletzungen können ihr grundlegendes Vertrauen in das Leben nicht zerstören. Die erstaunliche Fähigkeit von Menschen, schmerzvolle Lebenserfahrungen nicht nur zu meistern, sondern gegen alle Wahrscheinlichkeit auch noch menschlich daran zu wachsen und zu reifen, ist in der Resilienzforschung als „posttraumatisches Wachstum“ bekannt. Die Worte des Auschwitz-Überlebenden Yehuda Bacon bezeugen dies:

Das Leid hat mich als Mensch vertieft.

„Wer von euch ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein“, sagte Jesus zu den Pharisäern, die daraufhin schweigend ihre Steine fallen ließen. Und wer von uns könnte heute behaupten, anderen Menschen noch kein Leid und Unrecht zugefügt zu haben? Indem wir erkennen, dass wir als Menschen fehlbar sind, bewahren wir uns vor Selbstgerechtigkeit und Mitleidlosigkeit und erkennen zugleich an, dass wir Teil der einen Menschheitsfamilie sind, die auch Täterinnen und Täter nicht ausschließt.

Vergebung findet im Herzen statt

„Tim Kretschmer war schließlich einer von uns“, sagt Gisela Mayer (Lesen Sie weiter unten im Interview) und nimmt mit diesen Worten den Mörder ihrer Tochter, der sich mit seiner Tat so radikal an der Menschlichkeit verging, wieder in die Gemeinschaft der Menschen auf.

Ein Anrecht auf Vergebung jedoch gibt es nicht. „Es ist keine Aufgabe, die zu leisten ein Mensch aufgefordert werden kann“, stellt Gisela Mayer klar. Denn Vergebung findet in einem freien Raum statt: dem menschlichen Herzen. Das macht sie, wie es der Jurist und Journalist Heribert Prantl einmal so treffend ausdrückte, zu einem „gesetzlosen Wunder“. Und auch wenn sie unseren ganzen Einsatz als Mensch verdient, so bleibt sie letztlich doch wohl eines: Gnade. Ein Moment menschlicher Teilhabe an einer größeren und allumfassenden Barmherzigkeit.

„Das Leben meiner Tochter hatte einen Sinn.“

webGiselaMayer

15 junge Menschen verloren bei dem Amoklauf des 17-jährigen Tim Kretschmer an der Realschule von Winnenden im Jahr 2009 ihr Leben. Unter ihnen Gisela Mayers Tochter Nan: „Mit Nan ist für uns eine ganze Welt gestorben“, sagt Mayer. Um anderen Menschen ein solches Leid zu ersparen, gründete sie gemeinsam mit betroffenen Eltern das „Aktionsbündnis Amoklauf Winnenden“, eine Stiftung zur Gewaltprävention an Schulen. 

„Der Täter hat uns eine Aufgabe gestellt. Eine Tat wie diese, von einem Menschen verübt, muss auch von Menschen wiedergutgemacht werden.“ Ihr Appell richtet sich an uns alle, frühzeitig und bewusst hinzusehen, wenn junge Menschen aus Beziehungsnetzen herausfallen und in Gewaltfantasien abgleiten.


Tim Kretschmer war kein Monster.

sagt Gisela Mayer. „Er war Teil der menschlichen Gemeinschaft, der genau diese Gemeinschaft zerstören wollte, weil er ihr die Schuld für das eigene Leid gab.“ Mehr als sechs Jahre sind seit dem gewaltsamen Tod ihrer Tochter vergangen. „Es nahm mein ganzes Leben auseinander“, sagt sie zurückblickend. Doch niemals kam es für sie in Betracht, sich vor dem entsetzlichen Schmerz zu schützen und das Geschehene zu verdrängen. Vielmehr spürte sie ganz deutlich: „Der einzige Weg ist mitten durch den Schmerz.

Der Weg aus dem Tal führt nur durch das Tal.  Über die Jahre hat sich dadurch ihr Blick auf den jungen Todesschützen, der ihr die Tochter nahm und so viel Leid über ihr Leben brachte, verändert. „Ich kann heute seine Not und Verzweiflung erkennen und Mitleid für ihn empfinden.“ Ihre Tochter ist ihr hierfür Leitbild: „Nan war dem Leben zugewandt. Sie schützte es, wo immer sie konnte, und sah in anderen Menschen immer das Gute. Ihre Freude am Leben wirkt in meinem Leben und durch mich fort.“

Buchtipp

Wolfers_Vergebung.inddMelanie Wolfers: Die Kraft des Vergebens. Wie wir Kränkungen überwinden und neu lebendig werden. Herder Verlag. 12,99 Euro

 

 

 

 

 

Erschienen in „Welt der Frau“ 01/16 – von Christa Spannbauer

Die Kunst des Abschaltens

Commenda-Grill

Die »Fülle an Möglichkeiten« ist auch für Laya Kirsten Commenda, Coach, Journalistin und Yogalehrerin, immer wieder eine Herausforderung.

Wir sind rund um die Uhr erreichbar und online, ständig bemüht, die steigenden Anforderungen privat wie beruflich zu erfüllen. Ein Lagebericht über die Sehnsucht nach dem Funkloch, das Trauma der Entscheidungen und die Kunst des Abschaltens.

Handygedudel überall, SMS-Fluten, verstopfte E-Mail-Boxen und ein Dauerbeschuss mit Informationen aus Radio, Fernsehen und Zeitung. Stündliche Werbebotschaften, die sich via Magazine, Newsletter oder Postkasten hartnäckig in unser Unterbewusstsein schleichen. Hunderte Joghurtvarianten im Supermarktregal, täglich neue Diäten und ungefragte Meinungen auf Facebook. Waschmaschinen mit 20 Programmwahl-Möglichkeiten, die niemand braucht, daumendicke Bedienungsanleitungen von Elektronikgeräten, seitenweise Kleingedrucktes in Kaufverträgen.

Der Alltag lässt grüßen und liefert noch mehr: eine schier unüberblickbare Zahl an Freizeitbeschäftigungen für den Nachwuchs und druckfrische Ratgeber zur Steigerung der individuellen Lebensqualität. Ganz zu schweigen von den zunehmenden persönlichen Ansprüchen an PartnerIn, Familie, FreundInnen und sich selbst sowie den steigenden Herausforderungen am Arbeitsplatz.

Wer kann da schon mit? Ist mit dem richtigen Zeitmanagement, dem bewussten Setzen von Prioritäten, einer ausgeklügelten Infrastruktur – von BabysitterIn bis Putzhilfe – und ein paar Nahrungsergänzungsmittel in petto unser Alltag durchaus zu schaffen? Vielleicht sogar, ohne krank zu werden?

Ist so ein Leben wirklich lebenswert? Macht das alles noch Sinn?

Nein, sagen PsychologInnen, VerhaltensforscherInnen und MedizinerInnen. Fazit:

Viele der modernen Errungenschaften, die uns ursprünglich Zeit sparen helfen oder unseren Alltag vereinfachen sollten, sind zu Zeit- und Energieräubern geworden.

Zu Stressfaktoren, die uns orientierungs- und besinnungslos machen anstatt glücklich und zufrieden. Angesichts von neuen Kommunikationstechnologien wie Handy, iPad und Internet müssen wir täglich, ja stündlich zahllose Entscheidungen treffen. Für oder gegen etwas. Haben oder nicht haben. Wollen oder brauchen, verzichten, verschieben oder vergessen. Kein Wunder, dass all dies zu einer andauernden Überforderung führt.

»Schätzungen zufolge enthalten die Ausgaben von nur einer Woche der ,New York Times mehr Informationen, als eine Person im 18. Jahrhundert in ihrem ganzen Leben erfahren konnte«, schreibt Bernd Remmers in seinem Buch »Winning Ways. Change-Management in einer nicht perfekten Welt« (Hanser Verlag) und bringt das Problem unserer Zeit auf den Punkt.

DAS GEDUDEL IST IMMER UND ÜBERALL.

»Als Ausgleich zu allen beruflichen Anforderungen, die ich als Selbstständige und Mutter gegenüberstehe, ist es essenziell, regelmäßig Auszeiten zu nehmen. So kann ich auch wirklich für meine Kunden und für meine Familie da sein«, erzählt Susanne Prosser, PR-Fachfrau und Online-Marketing-Expertin in Wien.

Ich finde die Anforderung unrealistisch, immer und überall verfügbar und gesprächsbereit zu sein.

Klar, für ihre KundInnen sei eine gute Erreichbarkeit wichtig. »Es muss aber klar sein, dass man auch noch eine Privatperson ist mit Freizeit und Wochenende sofern nichts Dringendes anliegt.« Ihre Strategie: »Klar zu trennen, wann bin ich im Job und wann privat. Dann aber mit ganzer Hingabe!« Auch habe die zweifache Mutter inzwischen gelernt, sich » abzugrenzen von Dingen und Personen, die mir nicht guttun«.

Eine Erfahrung, die auch Herta Rössl, langjährige Schuldnerberaterin und ausgebildete Psychotherapeutin in Baden bei Wien, teilt. Vor etwa einem Jahr machten sich erstmals Burn-out-Symptome bei der  zweifachen Mutter bemerkbar. »Ich fühlte mich erschöpft, war grantig und antriebslos.« Die Beschäftigung in ihrem Garten, intensive Gespräche mit Freundinnen, die Unterstützung ihres Mannes und nicht zuletzt auch das Überdenken des eigenen Lebens mit professioneller Unterstützung halfen ihr schließlich, das emotionale Tief zu überwinden.

So habe die Niederösterreicherin gelernt, manche Dinge zu delegieren, Belastendes schneller loszulassen und die Ansprüche an sich selbst und ihre vielen Rollen als Frau herunterzuschrauben. »Ich nehme mir jetzt auch viel bewusster Zeit für mich.« Im Sommer gönnt sich Herta Rössl sogar zwei Monate Auszeit »für mich, aber auch für meine Familie«.

An der heutigen Gesellschaft kritisiert sie vor allem eines: »Ich bekomme mehr Anerkennung, wenn ich Stress habe und viel beschäftigt bin, als wenn ich sage, dass ich gemütlich lebe.«

Weg vom »TECHNO-STRESS«

Neben der viel zitierten Reizüberflutung und den Informationslawinen interessiert der Begriff »Techno-Stress« zunehmend die Wissenschaft. Im Verlauf eines einzigen Tages wird man in unserer Kulturgesellschaft 70- bis 100-mal mit irgendeinem Prozessor oder Mikrochip konfrontiert. Am Morgen holt uns ein digitaler Wecker aus dem Schlaf, danach verlassen wir uns auf die Helfer im Haushalt (Kaffeemaschine, Kühlgeräte, Mikrowelle etc.). Mit dem Auto, in dem durchschnittlich 200 Mikrochips im Verborgenen wirken, geht es zum Arbeitsplatz, der mit Telefon und Fax, Computer, Scanner und Internet ausgestattet ist. Wir vertrauen der kybernetischen Steuerung von Heizung, Klimaanlagen, Transportsystemen, der digitalisierten Verwaltung und der Medizintechnik. Und wir verschenken zeitgemäßes Spielzeug vom Nintendo bis zum elektronisch gesteuerten Schmusehund.

Die Technik ist Teil unseres Lebens geworden. Doch die »Interfaces«, also die »Schnittstellen« zwischen Mensch und Maschine, funktionieren selten reibungslos. Das im Alltag erlebte Defizit zwischen den technischen Möglichkeiten und der eigenen Nutzungskompetenz kann aus einem »User« schnell einen »Loser« machen. Die Folge ist eine ganze Ansammlung verschiedener körperlicher, geistiger und seelischer Symptome, die ÄrztInnen und PsychologInnen unter dem Überbegriff »Techno-Stress« zusammenfassen.

Typische Auswirkungen sind Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen, Erschöpfung und Gleichgültigkeit, innere Anspannung, Aggressivität und Hyperaktivität, Depressionen und Burn-out.

Betroffen sind keinesfalls Technik-VerweigerInnen, sondern durchaus begeisterte Technik-AnwenderInnen. »Gerade jene, die sich besonders für Hightech interessieren oder beruflich darauf angewiesen sind, tappen schnell in die größte Falle des Infozeitalters«, meint die Psychologin Michelle Weil, Koautorin des Buchs »Technostress: Coping with Technology«.

»Frei nach dem Motto ,Because we can, we do? – Weil es möglich ist, tun wir es auch – versuchen sie, immer mehr in immer kürzerer Zeit zu bewältigen. Und vergessen dabei, dass Menschen eben keine Maschinen sind, die auf multifunktionelles Arbeiten programmiert wurden.« Hinzu kommen gesellschaftspolitische Entwicklungen und neue wirtschaftliche Bedingungen. So steht u. a. fest, dass Zeitdruck und Arbeitsintensität in den vergangenen Jahren EU-weit in allen Branchen zugenommen haben (»European Survey on Working Conditions«).

maximal sieben Hüte tragen

In der Psychologie gibt es eine sehr anschauliche Methode, um herauszufinden, ob man sich tatsächlich zu viel zumutet und sich deshalb überfordert fühlt. Das Prinzip setzt jede Anforderung bzw. jede Rolle, die wir im Leben übernehmen, mit einem (Lebens-)Hut gleich. Mit jedem neuen Lebenshut, den wir uns auf den Kopf setzen (lassen), kommen wir stetig einer Situation näher, in der wir nur noch reagieren statt agieren. Da es viele verschiedene Lebensrollen bzw. Lebenshüte gibt, müssen wir immer wieder von Neuem eine Auswahl treffen.

Denn das Ziel heißt: »Maximal sieben Hüte tragen«. Ist eine Frau also beispielsweise Mutter, Ehefrau, Arbeitskollegin bzw. Unternehmerin, Freundin und Tochter (weil sie sich um ihre alten Eltern kümmert), trägt sie bereits fünf Hüte. Ist sie auch noch Vereinsvorsitzende und begeisterte Tennisspielerin, hat sie mit sieben Hüten die maximale Belastbarkeit erreicht. Es wäre daher nicht ratsam, auch noch die Elternsprecherin in der Klasse ihres Sprösslings zu werden oder eine offizielle Funktion in der Gemeinde zu übernehmen. Möchte sie es dennoch, sollte sie dafür einen anderen »Hut« zumindest vorübergehend ablegen.

Immer wieder das Tempo herauszunehmen und ,kleine Inseln in den Tag einzubauen. Yoga und Meditation haben mir sehr geholfen, mein Leben wieder in Balance zu bringen.

Mindestens ebenso wichtig sei Humor und der regelmäßige Austausch im Freundeskreis. Die »Fülle an Möglichkeiten« ist auch für Coach Laya Commenda immer wieder eine Herausforderung. »So absurd es klingt und so dankbar ich dafür bin, so viele Potenziale und Optionen zu haben, vor allem im Vergleich zu den Frauengenerationen vor mir: Ein derart hohes Maß an Freiheit verlangt ein ebenso hohes Maß an Disziplin, immer wieder neu für mich selbst herauszufinden: Was ist es, was ich wirklich will? Wie will ich arbeiten, wie will ich leben? Ich fühle mich gefordert  und manchmal eben überfordert ob der zahlreichen Entscheidungen.« Ihr Nervenkostüm sei oft schon durch das »ganz normale« Alltagsleben ziemlich beansprucht. »Wenn ich mir dann wieder einmal zu viel vorgenommen habe, die Wochenenden heillos verplant sind, dann auch noch mein Kind krank wird oder die Waschmaschine kaputt, wird es eng.«

Es ist höchste Zeit, offline zu gehen.

Davon ist Miriam Meckel, Professorin für Corporate Communication an der Universität St. Gallen, überzeugt. In ihrem Buch »Das Glück der Unerreichbarkeit« (Goldmann Verlag) kritisiert sie den zeitgeistigen »homo connectus«, dessen Bestreben offenbar darin liegt, immer und überall informiert, erreichbar, vernetzt oder Teil irgendeiner Community zu sein.

Meckel: »Die weltweite Datenmenge nimmt stetig zu. Informationen gelangen immer schneller zu uns. Der Mensch kann unmöglich auch nur einen Bruchteil dieser Datenflut bewältigen.« Wir drohen also im Treibsand der Informationen zu versinken. »Glücklicherweise kann der Mensch ausblenden. Wir können verwerfen und gewichten. Nur so überleben wir in einer komplexen und widersprüchlichen Welt, ohne schlicht verrückt zu werden«, so Meckel.

Auch Susanne Strobach, Unternehmensberaterin, Mediatorin und Coach, empfiehlt, mit einfachen Maßnahmen das individuelle »Zuviel« einzudämmen:

1. Trennen Sie sich von Kundenkarten, stornieren Sie Werbemails und Newsletter.

2. Überprüfen Sie Ihr Konsumverhalten.

3. Schränken Sie Ihre ,elektronische Zeit? bewusst ein.

4. Lernen Sie eine Entspannungs- oder Meditationstechnik, schaffen Sie sich ein angenehmes Umfeld, zu Hause wie am Arbeitsplatz.

5. Umgeben Sie sich mit positiven Menschen  und üben Sie sich in humorvollen, charmanten und provokanten Reaktionen.


Erschienen in „Welt der Frau“ 11/ 2011 – von Susanna Sklenar

Das Date mit dem Ich

Sind Sie schon mit sich selbst befreundet? Ja? Dann Gratulation! Nein? Dann passen Sie nun gut auf. Die Idee von Ordensfrau Melanie Wolfers weckt nämlich die Lust zum Nachmachen.

Barfuß, in Jeans und bunter Bluse und mit einer Tasse Kaffee in der Hand öffnet die Ordensfrau Melanie Wolfers (45) die Tür zu ihrem lichtdurchfluteten Wiener Vorstadthaus, in dem sie mit vier Mitschwestern des Salvatorianerinnen-Ordens lebt. Die Seelsorgerin strahlt, als ob sie FreundInnen zu Besuch hätte. Dabei ist es einzig und allein ihre eigene Gesellschaft, die Wolfers gerade so genießt.

Seit vielen Jahren „verabredet“ sich die gebürtige Deutsche, die Theologie und Philosophie studiert hat, regelmäßig mit sich selbst. Denn nur so könne sie, wie sie sagt, „die Freundschaft mit sich selbst pflegen“. Wie jetzt: Freundschaft mit sich selbst? Das klingt witzig. „Ja, und es ist ein origineller Weg zu gelebter Spiritualität!“, schwärmt sie.

Frau Wolfers, der Begriff „Freundschaft“ wird recht inflationär verwendet, unter anderem für Zweckfreundschaften, die auf Profit abzielen statt auf zwischenmenschliche Beziehung. Facebook suggeriert sogar, dass man FreundInnen per Mausklick finden kann. Gleichzeitig wächst aufgrund der hohen Scheidungsrate die Sehnsucht nach tragfähigen, verlässlichen Freundschaften. Sie plädieren nun dafür, sich mit sich selbst zu befreunden. Warum?
Melanie Wolfers: Weil die längste Beziehung unseres Lebens diejenige mit sich selbst ist. Je mehr wir mit uns selbst in Berührung kommen, umso reicher gestalten sich auch unsere Verbindungen im Außen. In meiner seelsorglichen Tätigkeit fällt mir auf, wie oft sich Menschen selbst im Weg stehen. Auch ich finde es manchmal ziemlich anstrengend, ich selbst zu sein … Daher habe ich mich gefragt: Wie können wir Freundschaft mit uns schließen und gut mit uns klarkommen, statt uns hart zu begegnen und uns das Leben schwer zu machen.

wohlwollend mit uns selbst umgehen

Ihre Erfahrungen beschreiben Sie in Ihrem neuen Buch „Freunde fürs Leben“. Die Zeiten für so ein Werk scheinen ideal.
Das sehe ich auch so. Ein Grund liegt im irrsinnigen Selbstoptimierungsdruck unserer Gesellschaft. Immer höher und schneller soll es gehen. In der Folge stellen wir auch an uns selbst zu hohe Erwartungen und glauben, schneller, dünner, erfolgreicher, anders sein zu müssen. Sind wir mit uns selbst befreundet, können wir Schwächen eingestehen, ohne uns dabei schlecht zu fühlen, und gehen auch dann wohlwollend mit uns um, wenn’s einmal nicht so gut läuft.

Wortkünstler Karl Valentin meinte: „Morgen gehe ich mich besuchen. Hoffentlich bin ich zu Hause!“
(lacht) Sein Spruch verdeutlicht, wie oft wir aus dem Häuschen sind, wie selten in uns selbst daheim. Und wie essenziell diese Selbstbesuche sind. Denn wenn ich nicht auf mich höre, höre ich primär auf andere und führe eine Existenz, die mir im Grunde fremd ist. Sobald ich aber mit meinem Körper und seinen feinen Signalen, mit meinen Gefühlen, Visionen und Werten in Verbindung trete, werde ich heimisch im eigenen Leben. Ich nehme echte Bedürfnisse wahr, nicht bloß suggerierte, und ich kann als Persönlichkeit wirken, nicht als Teil einer Mainstream-Masse.

Wo auch immer Sie stehen, genau dort können Sie damit beginnen, Ihre Umgebung bewusst wahrzunehmen.

Wann ist ein guter Zeitpunkt für den Beginn einer Freundschaft mit sich?
Jeder Augenblick eignet sich dafür, mit dem Hier und Jetzt auf Tuchfühlung zu gehen. Sogar das Warten auf den Bus, wo man oft gedankenlos über das Smartphone wischt. Womöglich haben Sie das Gefühl, hoffnungslos verliebt zu sein. Vielleicht haben Sie drei Kinder und einen Vollzeitjob und gehen im Stress unter. Oder Sie leiden an einer Krankheit. Wo auch immer Sie stehen, genau dort können Sie damit beginnen, Ihre Umgebung bewusst wahrzunehmen oder inneren Empfindungen zu lauschen, ohne eine davon mundtot zu machen. In einer echten Freundschaft darf man ja auch so sein, wie man ist, und muss nicht entsprechen.

Freundschaften leben von der Qualität der Treffen. Wo „daten“ Sie sich selbst?
Ich stelle mich jeden Abend zehn Minuten ans Fenster, blicke in den Himmel und lasse den Tag noch einmal durch die Erinnerung lebendig werden. Dann freue ich mich, spüre Dankbarkeit. Auch schwierigen Situationen gebe ich nochmals Raum. So lasse ich meine Seele atmen und vertraue alles Gott an. Andere Menschen betrachten ihr Leben etwa beim Joggen, Malen oder einer Tasse Kaffee aus einem Abstand heraus. Zeit dafür kann jeder finden. Denn diese Zeitpartikel, die uns in die Gegenwart ziehen und Fenster zu einer tiefen Wirklichkeitsdimension öffnen, sind überall verstreut.

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In der Stille der Natur sich selbst näher zu kommen ist Melanie Wolfers wichtig für das Heimischwerden im eigenen Leben.

Trotzdem weichen viele Menschen sich selbst lieber aus. Warum?
Tja, wer weiß, wen ich da treffe! (lacht) Im Ernst: Es ist keineswegs selbstverständlich, sich selbst näher kennenlernen zu wollen. Das Reich der Innenwelt kann verängstigen, Fragen aufwerfen, die das bisherige Lebenskonzept infrage stellen. Außerdem liegt unserer Gesellschaft nicht viel daran, dass ihre Mitglieder den Wert der Selbstbegegnung und Stille erfahren. Denn je weniger wir in Kontakt mit uns selbst stehen, umso manipulierbarer sind wir. Freundschaft mit sich selbst hat also viel mit Selbsttreue zu tun, mit der Würde und Freiheit, seinem Wesen entsprechend zu leben, anstatt gelebt zu werden.

Sie schreiben: „Stell dein Licht nicht unter den Scheffel. Lass es leuchten und lass andere dasselbe tun!“ Ein schöner Ansatz, vor allem, wenn man bedenkt, dass die Kirche Frauen bis heute kleinhält.
Stimmt, die Kirche hat Frauen im Namen einer falschen Demutsforderung oft entwertet. Selbstbewusstsein wurde als Stolz verdächtigt. Zweifelsohne bildet Geltungssucht einen Straßengraben. Doch der andere Graben ist es, die eigenen Gaben zu beerdigen. Das ist nicht im Sinne des göttlichen Erfinders. Gerade weil Frauen lange die Dienerinnenrolle zugeschrieben wurde, ist es wichtig, sich selbst gut zu behandeln. Viele können Komplimente und Lob nicht annehmen. Geht es Ihnen auch so? Dann fragen Sie sich: „Warum bin ich so knausrig mit mir und rede mein Gutes selbst schlechter?“ Freuen Sie sich lieber an Ihren Gaben, loben Sie sich und halten Sie das Licht in Ihnen dankend hoch! Wem das nämlich bei sich gelingt, der kann es auch bei anderen zulassen.

Freu mich auf dich!

Tragen Sie eigentlich ein Freundschaftsband oder einen Ring, der das Bekenntnis zu Ihnen selbst besiegelt?
Nein, aber das ist ein origineller Gedanke. Genauso wie die Idee, sich Briefe zu schreiben oder ein Smiley auf sein Handydisplay zu speichern mit der Botschaft „Freu mich auf dich!Wo auch immer Sie stehen, genau dort können Sie damit beginnen, Ihre Umgebung bewusst wahrzunehmen“. Solche Symbole helfen, aus dem Funktionsmodus auszusteigen und sich der göttlichen Wirklichkeit gewahr zu werden, in der wir uns bewegen.

Gehen Sie mit Emotionen wie Wut, Ärger, Neid et cetera auch so pfleglich um?
Ich versuche es, denn auch diese Gefühle teilen uns etwas mit. Wut etwa teilt mir mit, dass jemand meine Grenzen überschritten hat. Sobald ich das erkenne, kann ich Wut in Mut umwandeln, für mich einstehen oder meine Grenzen neu definieren. Gerade bei Kränkungen spielen Angst und Ärger eine große Rolle. Und da die tiefsten Wunden unseres Lebens Beziehungswunden sind, wird deutlich, wie wichtig und heilsam ein fürsorglicher Umgang mit diesen Kränkungsgefühlen ist.

Grenzen anerkennen

Spätestens da wird vielen wohl schmerzlich bewusst, dass sie in der Vergangenheit sich vergessen oder sich vernachlässigt haben.
Ja. In meiner Begleitungstätigkeit fällt mir auf, wie viele Menschen ihren Körper ausbeuten, indem sie etwa pausenlos aktiv sind. Sterbende, die sich der Begrenztheit ihres Lebens bewusst werden, bedauern häufig: „Hätte ich doch nicht so viel gearbeitet!“ Ich glaube, wir brauchen eine tiefe Einsicht in die Begrenztheit unserer Kraft und Lebenszeit. In unserer „entgrenzten“ Kultur – immer weiter, schneller – ist das freilich unmodern, aber wir sind und bleiben begrenzte Wesen. Ein altes Wort für den Grenzzaun heißt „Umfriedung“. In der Freundschaft mit mir selbst anerkenne ich meine physischen, charakterlichen und lebensgeschichtlichen Grenzen als einen „Raum, in dem ich in Frieden leben kann“, und bleibe in meiner Mitte. Überschreite ich hingegen permanent meine Grenzen, herrscht innerer Bürgerkrieg.

Apropos: Streiten Sie hin und wieder auch mit sich selbst?
Natürlich, in jeder Freundschaft kommt Zwist vor. Es gibt ja genügend Stoff, um mit sich und der eigenen Vergangenheit im Streit zu liegen. Aber Konflikte sind nicht schlimm. Ich bin dann noch achtsamer mit mir. Tappe ich etwa zum dritten Mal mit einem Menschen in die gleiche Falle, trete ich mir nicht selbst ins Schienbein und sage: „Du bist echt blöd, du lernst nie dazu.“ Nein, ich tröste mich und stelle mir Fragen, warum es wieder passiert ist. Dann begreife ich, dass ich mir vieles selbst angetan habe. Diese Einsicht gehört wohl zum Schwierigsten, aber auch zum Befreiendsten. Sie macht wieder handlungsfähig und erinnert an Grenzen. Und dort fängt Freundschaft mit sich selbst aufs Neue an.

Weiterlesen

Melanie Wolfers: Freunde fürs Leben. Von der Kunst, mit sich selbst befreundet zu sein. Adeo Verlag, 17,90 Euro

Pilotin des eigenen Lebens

Zu den weiteren digitalen Angeboten:  Melanie Wolfers

Erschienen in „Welt der Frau“ 10/16 – von Petra Klikovits

Das Leben neu ausrichten

 

 


 

Eigensinnig macht einmalig

„Du Dickkopf!“ Früher war Eigensinn verpönt, heute erkennt man ihn als wichtiges Element für Kreativität und den Fortschritt einer Gesellschaft. Wo er echt ist, tut der Eigensinn aber auch heute immer noch ganz schön weh.

Diese Person war beunruhigend. Heftig schwang sie sich mit ihren Krücken durch die Mittelreihe des U-Bahn-Wagens und rief in strengem, grellen Ton: „Geben Sie mir etwas für meinen Lebensmut!“ So durchstreifte sie regelmäßig die Berliner U-Bahnen, man erkannte sie schon an der Stimme und wagte nicht hinzusehen, denn die Person war schrecklich ausgezehrt bis auf die Knochen und von papieren blasser Haut. Um die Handgelenke hatte sie Fetzen gewickelt und auf dem Kopf trug sie eine Art Turban. Die Augen lagen tief in ihren Höhlen, während die Nase scharf hervortrat; und ob dieses Gespenst männlich oder weiblich war, ließ sich nicht erkennen. Aber stolz und mit unheimlicher Energie forderte es Geld als Belohnung für seinen Lebensmut.

Ist das Eigensinn? Die Städte sind voll mit bettelnden Menschen, und es sind wirkliche Originale unter ihnen, in ihrem Sosein nicht zu stoppen. Sie stehen am Rand der Gesellschaft.

EIGENSINN KANN NICHT ANDERS

Aber genau das ist der Weg des Eigensinns: eine Gratwanderung zwischen Dazugehören und Alleinsein, die Mut erfordert oder auch einen gewissen Wahnsinn.

Die englische Übersetzung von Eigensinn ist „obstinacy“, also Sturheit, Starrsinn, Hartnäckigkeit. Der Eigensinn hat keinen guten Leumund, und tatsächlich hat er etwas mit Unbeweglichkeit zu tun, mit Festhalten, Nicht-Loslassen, Beharren auf dem eigenen Standpunkt. „Sei nicht so dickköpfig!“ Wer hat das nicht schon einmal gehört? Wichtig ist aber, daran zu erinnern, dass Eigensinn nicht unbedingt eine bewusste Entscheidung ist oder eine einfach zu steuernde Eigenschaft. Richtig eigensinnige Menschen können sich nicht einfügen – es sei denn, sie erstickten. Gut drückt das der Martin Luther zugesprochene Satz aus:

Hier stehe ich und kann nicht anders.

Auch wenn es von außen so aussehen mag, als sollten sich die Starrköpfe einfach nur zusammenreißen, es geht nicht, denn Eigensinn ist keine Sache der ganz freien Wahl.

EIGENSINN TUT WEH

Dass Eigensinn nicht immer gern gesehen ist, versteht sich von selbst, denn er ist anstrengend, und zwar nicht nur für die anderen, sondern auch für die eigensinnigen Menschen selbst. Sie führen ja einen Kampf, und nicht selten bezahlen sie ihn mit Einsamkeit, Depressionen oder körperlicher Krankheit – wenn sie nicht sehr robust sind oder ein gutes Umfeld haben. Oder wenn nicht ihre Zeit oder soziale Stellung ihnen Extravaganzen erlaubt: Eine Simone de Beauvoir konnte im Paris der 1950er-Jahre ihren Eigensinn schon ganz anders ausleben als eine Ende des 19. Jahrhun­derts im viktorianischen England erzogene Virginia Woolf. Doch beide waren extrem eigenwillige Schriftstellerinnen und, wie es sich gehört, keine einfachen Personen.

EIGENSINN TUT GUT

Zum Eigensinn gehört, sich von Urteilen und Meinungen der anderen nicht beirren zu lassen. Das kann schmerzlich sein auch für die Menschen, die den Eigensinnigen nahestehen, sie lieben und zu ihnen halten müssen. Nicht selten schämen sich Kinder für ihre eigensinnig-verrückten Eltern.
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Andererseits: Jeanne d’Arc und Pippi Langstrumpf, Mary Stewart und Madame Bovary, Katharina die Große und Anna Karenina – Geschichte und Geschichten schreiben nur die Eigensinnigen. Das ist die andere Seite der Medaille.

Es tut gut, dass es einige gibt, die nicht auf die anderen hören, denn paradoxerweise entwickelt sich ohne eine gewisse „Asozialität“ keine Gesellschaft weiter. Es gäbe keinen Widerstandskampf und keine Frauenbewegung ohne den Eigensinn und den Mut, sich dem Zeitgeist entgegenzustellen, sich um Konventionen nicht zu scheren.

Was der Gesellschaft guttut, ist auch für die Individuen nicht falsch. In ihrem Buch „Eigensinn“ erinnert die Psychologin, Publizistin und ehemalige Kolumnistin von „Welt der Frau“, Ursula Nuber:

Zum Eigensinn muss man ermutigt und erzogen werden.

Wer nicht gelernt hat, dass der eigene Wille zählt, könne keinen Eigensinn entwickeln. Eigensinn sei nicht zu verwechseln mit Egoismus, sondern sei ein klares Gefühl für die eigenen Bedürfnisse und daher auch das beste Mittel gegen Burn-out und Depression.

EIGENSINN IST (KEINE) MODE

Das klingt wie eine Befreiung, gerade auch für Frauen, denen zu lange beigebracht wurde, sich unterzuordnen und anzupassen. Eigensinnige Frauen wurden als Hexen verfolgt, Wahnsinn wurde ihnen nachgesagt. Die Ständegesellschaft brauchte keine Querköpfe (auch wenn es immer welche gab), aber die moderne Gesellschaft ist eine, die sich stets weiterentwickeln will, daher gelten Autoritäten und feste Konventionen weniger als früher. Es steigen der Wert und auch der Nutzen des individuellen Ausdrucks, immer mehr Menschen dürfen, wollen und sollen auch eigensinnig sein.

EIGENSINN TUT ETWAS

Echter Eigen-Sinn will gar nicht in erster Linie eigensinnig sein; die eigensinnige Einzigartigkeit ist eher ein Nebenprodukt. Sie entsteht im Handeln, im Leben. Eigensinn ist der Sinn für das Eigene, aber auch das eigene Gespür für die Sache, um die es geht. Er ist weder Zweck noch Mittel, sondern eine Weise zu sein. Die allerdings kann jeder und jede entwickeln und auch üben, meint Ursula Nuber.

Also: Tun, was man glaubt tun zu müssen und sich nicht so sehr beirren lassen. Wenn alle eigensinnig sein wollen, ist es vielleicht besonders eigensinnig, da nicht mitzumachen. Auf eigensinnige Weise
natürlich.

Bühnen-Allrounderin Eva Billisich (53) brennt für vieles.

„Der Sinn für das Eigene braucht Ausdruck“

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Erst war Eva Billisich Kabarettistin, dann Kinderbuch- und Musicalautorin, Palliative-Care-Begleiterin und CliniClown, jetzt ist sie Sängerin und Schauspielpatientin für angehende MedizinerInnen. „Bei allem, was ich tue, verlasse ich mich auf meine Intuition. Das Leben per se hat keinen Sinn. Also müssen wir den Sinn für das Eigene herausfinden“, sagt sie. Eigensinn sei also eine sinnliche Erfahrung und habe nichts mit Verkopft- oder Sturheit zu tun: „Wo es uns hinzieht, lässt sich nur erspüren“, sagt sie.

Kinder brächten das Gespür für das Eigene von Natur aus mit, doch leider werde es oft unterbunden: „Sobald wir Kinder lehren, eigenständig zu denken, wachsen Persönlichkeiten heran, die dem Leben einen individuellen Sinn geben können. Nicht umsonst schwärmt meine 16-jährige Tochter von LehrerInnen, die aus der Reihe tanzen, Bewusstsein für sich selbst ausstrahlen und auch die Kinder dazu inspirieren.“

Sie sind eigensinnig, wenn…

es Sie wenig interessiert, was andere von Ihnen denken.

Sie keine Angst haben, sich lächerlich zu machen.

Sie sich nicht mit anderen vergleichen.

Sie wissen, dass Sie Dinge selbst beeinflussen können.

Sie nicht über verschüttete Milch grübeln.

Sie wertschätzend mit sich umgehen.

Sie in Stresssituationen einen eigenen Sinn sehen.

Sie sind nicht eigensinnig, wenn…

Sie oft darüber nachdenken, was andere von Ihnen halten.

Ihnen das Wort „Entschuldigung“ allzu häufig über die Lippen kommt.

Sie „FreundInnen“ haben, die Ihnen eigentlich nicht viel bedeuten. Aber Sie bringen es nicht fertig, sich von diesen Menschen zu distanzieren oder die Beziehung abzubrechen.

Sie meist automatisch Ja sagen, wenn Sie eingeladen oder um einen Gefallen gebeten werden,

Sie jemand mit einer dummen Bemerkung verletzt, sie getroffen sind, aber nichts sagen.

es Menschen in Ihrer Umgebung gibt, von denen Sie sich ausgenutzt fühlen.

Sie es nur schwer aushalten können, dass andere Menschen sich über Sie ärgern oder enttäuscht von Ihnen sind.

Sie manchmal Klartext reden möchten, aber die Bemerkung dann doch wieder hinunterschlucken.

„Es hat ja doch keinen Sinn“, denken Sie.

Sie auf ein Wunder hoffen: Vielleicht verlässt der tyrannische Chef die Firma, vielleicht gewinnen Sie im Lotto, vielleicht verliebt sich der ungeliebte Partner in eine andere Person, dann wären Sie endlich frei.

 

D Diese Beschreibungen sind Ursula Nubers Buch entnommen: Eigensinn. Die starke Strategie gegen Burn-out und Depression – für ein selbstbestimmtes Leben. / Fischer Verlag /  15,50 Euroiese Beschreibungen sind Ursula Nubers Buch entnommen: Eigensinn. Die starke Strategie gegen Burn-out und Depression für ein selbstbestimmtes Leben. / Fischer Verlag /  € 15,50 (A)

 

 

 

 

 

Pfarrerin Marianne Pratl-Zebinger (35) ist mit einer Frau verpartnert.

„Eigensinn braucht die Gemeinschaft“

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Schon als Kind folgte Marianne Pratl-Zebinger allem, was ihr Herz erfuüllte. So war es, als sie beim Hören religiöser Musik eine „spirituelle Sehnsucht“ verspuürte und fortan jeden Sonntag zur Kirche ging. Und so war es auch später, als sie Theologie studierte und sich mit einer Frau verpartnerte. In ihrer Familie war stets Raum für „dasjenige, was zu einem gehört“.

Inzwischen ist die Grazerin evangelische Pfarrerin in Leibnitz und lockt Junge, Alte und sogar Flüchtlinge zu ihren Predigten. Warum? Weil sie alle darin bestärkt, ihren Eigen-Sinn in der Gemeinschaft zu leben: „Je mehr unterschiedliche Gegenuüber es gibt, umso besser kann jeder seine Identität stärken, Grenzen und Werte erspuüren, Verwurzelung erfahren und auch andere sein lassen, ohne sich durch abweichende Meinungen verletzt zu fühlen.“ In Bibelkreisen etabliert sie eine „Kultur der Achtsamkeit“.

Dass Pratl-Zebinger sich so engagiert, liege an ihrer „evangelischen Mentalität“, meint sie: „Im katholischen Österreich wurden wir ProtestantInnen über Jahrhunderte hinweg nur schwer ertragen. Dem Eigensinn sei Dank! Ohne ihn gäbe es uns heute nicht.“

Erschienen in „Welt der Frau“ 03/17 – von Andrea Roedig & Petra Klikovits

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