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04-05/24

Fotoessay: Warum ich Feminist bin

Seine eindringliche Fotoserie über wartende Prostituierte in Spanien hat Txema Salvans „The Waiting Game“ betitelt. Michalis Pantelouris verleiht den Bildern mit seinem Text zusätzliche Brisanz.

The Waiting Game

Das nimmt kein gutes Ende. Dieses Warten. Es endet, wenn Kundschaft kommt, aber ein gutes Ende kann das nicht sein, nicht auf den Hinterlandstraßen der spanischen Küste, wo die Lastwagen fahren, denen die Autobahngebühren zu hoch sind. Die Zeit der Fahrer ist billiger als die Straße. Offenbar auch dann noch, wenn sie anhalten, um bei einer der Frauen oder einem der Mädchen Sex zu kaufen, die Txema Salvans für „The Waiting Game“ fotografiert hat, seine Serie über die wartenden Prostituierten am Rande des riesigen Nichts. Sie warten. Es endet ja auch nicht, das Warten, es wird nur unterbrochen. Ich kann nicht sagen, welcher Teil des Tages mich trauriger macht.

Wenn du hier schreist, hört dich niemand, und immer wieder gibt es an diesen Straßen Opfer in jeder Form von Schrecklichkeit. Wenn man nur Salvans’ Bilder sieht, kann man sich kaum vorstellen, dass es hier noch irgendetwas anderes geben mag als Opfer. Man könnte sogar den Gedanken hegen, dass selbst die Fahrer der billigen Straßen Opfer sind, Opfer von etwas, was stärker ist als sie.

Warum sollten sie sonst am Rande des riesigen Nichts ihr bisschen Geld aus ihrer Hose kramen und ihre Würde dabei gleich mit? Man kann das denken. Aber wenn man Vater von kleinen Töchtern ist, dann wird es schwieriger. Dann will man hinfahren, so einen Kerl nehmen und seine Eier in der Fahrertür seines Lasters einklemmen. Und sei es nur deshalb, weil einem nichts Besseres einfällt. 

ALS VATER VON TÖCHTERN
Ich bin Vater von zwei kleinen Töchtern. Es ist wahrscheinlich der machohafteste aller Impulse, ein Mädchen retten zu wollen, kein Grund jedenfalls, beruhigt zu sein ob der eigenen Motive – das ist etwas, was ich gelernt habe von den vielen Frauen und Mädchen, die mich umgeben. Ich bin so aufgewachsen: mit einer lauten Mutter und zwei Schwestern.

Heute habe ich zu den zwei Töchtern noch die Frau. Es waren immer Frauen um mich herum, und ich glaube nicht, dass ich Frauen gegenüber jemals respektlos war, weil sie Frauen waren. Niemals mit Absicht jedenfalls und nicht bewusst. Ich habe mir mein Leben lang sagen können, ich wäre nicht das Problem dabei, dass Frauen schlecht behandelt werden, dass sie weniger verdienen zum Beispiel. Dass weniger von ihnen in Führungspositionen sind. Und dass so viele von ihnen an einsamen Straßen stehen und ihren Körper vermieten, immer in der Gefahr, ums Geld geprellt, geschlagen oder ermordet zu werden.

Ich habe mit all dem direkt nichts zu tun. Aber plötzlich wurde es zu meinem Problem. Denn ich bin Vater von Töchtern. Und wenn ich mich ehrlich angucke, dann bin ich viel mehr Teil des Problems, als ich es je für möglich gehalten hätte.

ZU SIMPLE LÖSUNG
Gehen wir kurz einen halben Schritt zurück zu der Stelle, an der ich Hoden in einer Autotür zerquetschen will. Mit den besten Absichten natürlich, politisch vielleicht nicht korrekt, aber getragen von dem Wunsch, ein Problem zu lösen. Es sind zwei Punkte, auf die ich hinweisen möchte, und beide fallen mir in den vergangenen Jahren mehr und mehr als männlich auf: Da ist erstens der unbedingte Wille, Probleme zu lösen, und zweitens die Bereitschaft, die Probleme dafür so lange zu vereinfachen, bis sie zur eigenen Lösung passen.

Konkret: Vielleicht möchte ich Straßenmädchen helfen, von denen ich sicher bin, dass sie sich diesen Weg, ihr Leben zu fristen, nicht ausgesucht haben. Das ist eine Art, meinen Impuls zu beschreiben. Ich fürchte aber, es gibt noch einen anderen Blick darauf: Ich habe eine sehr geringe Toleranz, Dinge zu ertragen, die mir zeigen, wie wenig Kontrolle ich über die Welt habe. Ungerechtigkeit ist nur ein Teil davon. Da wir von männlichen Verhaltensmustern sprechen: Schon mal gesehen, wie zwei Männer über die subjektive Verletzung ihres Stolzes in Streit geraten? „Ey, was guckst du so?“ D

as Problem, nicht kontrollieren zu können, wie man angeguckt wird, löst gewalttätige Impulse aus – wie soll man das erklären? Und vor allem: Wie soll sich jemand, der nicht ähnlich gestrickt ist, in einer Umgebung durchsetzen, in der allen anderen die Fähigkeit fehlt, Dinge zu ertragen? In der ein Widerspruch ein Problem ist, das gelöst werden muss? Und in der die Lösung für fast alles ist, sich Erleichterung zu verschaffen?

Gucken wir uns kurz meine Lösung an: Eier in die Autotür klemmen. Das ist technisch kompliziert, vom Wesen her allerdings eher unterkomplex. Vor allem aber ist es eins ganz und gar nicht: eine Lösung. Die spanische Wirtschaftslage wird nicht weniger grausam diejenigen am unteren Rand der Gesellschaft zerquetschen, weil ich es mit Körperteilen tue. Es wäre bloß eine Erleichterung, genau wie der Halt am Straßenrand für den Trucker eine Erleichterung ist – ein kurzer Moment der Macht. 

ICH WILL GESETZE
Und das ist meine große Angst: dass das Leben meiner Töchter bestimmt wird von einer Reihe von Momenten, in denen irgendein bescheuerter Mann sein bisschen Macht braucht, seine Erleichterung. Seine Lösung. Seinen Halt am Straßenrand. Deshalb bin ich Feminist: weil ich glaube, dass es keinen Sinn hat, darauf zu vertrauen, dass Männer ihre Reflexe im Griff haben. Ich habe meine nicht im Griff, und ich halte mich für einen der Guten. Deshalb will ich Gesetze, Quoten und Förderung. Wenn jemand meine Töchter freiwillig fair behandelt: gerne! Aber ich vertraue nicht darauf. Ich bitte auch nicht darum. Und erst recht will ich nicht, dass sie darum bitten müssen.

Ich lebe mit lauter Frauen und Mädchen, und manchmal macht es mich wahnsinnig. Frauen und Mädchen haben auch noch jede Menge Freundinnen, und ständig wird irgendetwas diskutiert, irgendein Problem, irgendetwas, was furchtbar ist und sich nicht ändern wird, indem man darüber redet. Ich hasse das, ich kann nicht anders.

Und ich habe es viele Jahre lang für destruktiv gehalten, für problem- statt lösungsorientiert, für eine Art Äquivalent zur Koabhängigkeit bei den Angehörigen von Suchtkranken, die mit ihrer Unterstützung nur das Leiden verlängern. „Und dann hat er gesagt, und dann hab ich gesagt, yakyakyakyak.“ Morgen dann wieder, und übermorgen auch. Das sind Frauen. Männer sitzen daneben und denken: „Wenn irgendwas von dem, was da an Ratschlägen ausgetauscht wird, richtig wäre, müsste das Problem ja eigentlich mal gelöst sein. Und wenn es nie gelöst wird, müsste man doch irgendwann mal aufhören, sich gegenseitig Ratschläge zu erteilen.“ Irgendwie so habe ich, wenn schon nicht bewusst gedacht, aber doch gefühlt, und ich lerne nur sehr langsam, dass es eine andere Sicht gibt.

Mein System setzt nämlich voraus, dass es einen Zustand gibt, der alles im Gleichgewicht hält, wenn niemand zu viel falsch macht. Eine unsichtbare Hand wie bei Adam Smith, die zum Beispiel dafür sorgt, dass eine glückliche Ehe glücklich bleibt, solange keiner zu große Fehler begeht. Oder dass die Prozesse in einer Firma laufen, wenn sie richtig justiert sind und keiner durchdreht. Und wenn doch einer einen Fehler macht, dann kann man ihn darauf hinweisen, und dann stellt er es ab oder eben nicht. Fick ihn oder verlass ihn.

Ich glaube, so irgendwie habe ich mir die Funktion dieser POGs vorgestellt, wie ich sie nenne – problemorientierte Gespräche. Aber dann habe ich mir die Ratschläge angesehen, die Männer sich geben. Und die Ratschläge, die sie Frauen geben. Die ich meiner Frau gebe. Und ich habe gelacht. 

IDIOTISCHE SÄTZE
„Du darfst dir das nicht so zu Herzen nehmen“ ist mein Lieblingstipp in der Sammlung der idiotischen Sätze. Er sieht aus, als wäre er gut gemeint. Er wirkt von außen, als würde er einen Lösungsweg zeigen. In Wahrheit sagt er nichts anderes als: „Das Problem liegt in deinem Charakter, weil du unfähig bist, die Dinge richtig zu sehen.“ Er ist ein Musterbeispiel für Blödsinn. Eine Erleichterung für den, der ihn sagt, weil er alle Last ablädt auf den, der ihn zu hören bekommt.

Das Leben ist kein Weg, es ist eine Landschaft. Wenn wir Glück haben, bewegen wir uns in ihr. Wenn wir Pech haben, werden wir bewegt. Da sind Täler und Berge. Und Kommunikation ist natürlich mehr, als Ratschläge zu geben. Wenn ich mir die Frauen angucke, von denen ich umgeben bin, würde ich heute sagen: Ihre größte kommunikative Fähigkeit besteht darin, Gemeinschaft herzustellen, in der Widersprüche ertragen werden.

Ohne sogenannte Lösungen, die nur Erleichterungen sind. Wo Macht des einen nicht unbedingt Ohnmacht des anderen bedeutet. Wo klar ist, dass man manchmal durch die Landschaft seines Lebens geht und manchmal vom Leben herumgestoßen wird. Und ich kann mir keine Situation vorstellen, keine Gruppe, keine Firma, gar nichts, in dem diese Fähigkeit nicht unendlich wertvoll wäre. Allein das wäre mir Grund genug für eine Quotenregelung. 

Es ist auch genau das, was mir das Herz zerreißt, wenn ich die Bilder von Txema Salvans sehe. Sie sind genau das, was nicht passieren darf: die Einsamkeit, die Bewegungslosigkeit, die Ohnmacht. Das Verharren an der schlimmsten Stelle der Landschaft. Das Warten auf nichts Gutes. 

The Waiting Game

Txema Salvans war für dieses Fotoprojekt acht Jahre im spanischen Hinterland zwischen Barcelona und Gibraltar unterwegs. Die Prostituierten, die Salvans dabei fotografierte, warten an Landstraßen und Schotterwegen, an Kreuzungen und Verkehrsinseln, in Sackgassen, Vororten und Gewerbegebieten. Der Fotograf, selbst Spanier, weiß nichts über diese Frauen, doch ihre Verletzlichkeit rührt ihn derart, dass er sie der Welt zeigen möchte – in genau dem merkwürdig gleißenden Licht, in dem sie da sitzen und warten. Als der deutsche Journalist und Blogger Michalis Pantelouris diese Bilder sah, wurde ihm klar, wo das Problem mit Männern wie ihm liegt – und er hat den abgedruckten Text dazu verfasst.  

 

Erschienen in „Welt der Frau“ Ausgabe vom Juli 2015

Migrationshintergrund: „Meine Heimat Österreich“

Rund 17 Prozent der Menschen in Österreich haben einen Migrationshintergrund. „Ausländer“ sind viele von ihnen aber schon lange nicht mehr. Denn auf das Fremdsein folgt Ankommen und das Hineinwachsen in ein zweites Zuhause.

Als Milva Spina (48) nach Österreich kam, war sie 18 Jahre alt. Sie hatte damals, während ihres ersten eigenständigen Urlaubs auf Ibiza, einen Österreicher kennengelernt, sich Hals über Kopf in ihn verliebt, kurzerhand einen bevorstehenden Au-pair-Jahresaufenthalt in den USA abgesagt und war nach Linz gezogen. Ihre FreundInnen und ihre Familie in Italien fragten, ob sie komplett verrückt geworden sei, sie könne sich ja noch nicht mal richtig verständigen.

Aber Milva Spina war sich „200 Prozent sicher“, die Liebe ihres Lebens gefunden zu haben. Aus der ersten Zeit in Österreich erzählt sie eine schöne Geschichte: Tagsüber, während ihr Freund arbeitete, war sie oft allein. Doch weil sie eigentlich gewohnt war, viel zu reden, setzte sie sich im Wohnzimmer vor einen leeren Sessel, tat so, als ob jemand darin säße, und führte mit dieser unsichtbaren Person ausgedachte Gespräche.

Menschen gehen fort, weil sie auf ein besseres Leben hoffen.

Auf diese Weise schuf sie sich ein wenig imaginären Kontakt, und mithilfe ihrer Verliebtheit und dem kleinen Trick kam sie recht gut über die erste Zeit in der Fremde hinweg. Warum verlassen Menschen ihr Zuhause, warum setzen sie sich all den Ängsten und Schwierigkeiten, dem Heimweh, der Einsamkeit und möglichem Unglück aus? In dem Bestseller-Roman „Life of Pi“ (dt.: „Schiffbruch mit Tiger“), einer sehr speziellen und berührenden Migrationsgeschichte, heißt es dazu ganz einfach: „Menschen gehen fort, weil sie auf ein besseres Leben hoffen.“

Dieser Satz enthält alles. Denn natürlich gibt es verschiedene Gründe, woanders hinzugehen, sei es die Liebe, eine Heirat, ein neuer Arbeitsvertrag, Abenteuerlust oder die verzweifelte Flucht aus unerträglichen Zuständen oder Todesbedrohung, wie sie uns in den letzten Monaten wieder dramatisch vor Augen geführt wird. Die Gründe sind verschieden, aber letztlich wurzelt alles Weggehen in diesem einen Impuls: das eigene Leben oder das der Familie anders, besser zu machen, als es ist.

FISCH AM TROCKENEN
Wie ein Migrationsprozess verläuft und vom Einzelnen verarbeitet wird, dafür gibt es keine generellen Muster. „Das Erleben ist hier sehr verschieden und individuell“, sagt die Biografie- und Migrationsforscherin Roswitha Breckner von der Universität Wien. „Es hängt vor allem davon ab, in welcher Weise der Landeswechsel als ein Bruch mit dem bisherigen Leben erfahren wird.“

Ein Bruch aber, eine „Diskontinuitätserfahrung“, findet immer statt. Denn egal ob es sich um eine „kleine Migration“ innerhalb eines Landes handelt oder um eine große in einen anderen Kulturkreis, der Wechsel des Lebensmittelpunktes führt zunächst in eine Verunsicherung, er setzt das Gewohnte außer Kraft, in dem wir normalerweise schwimmen wie der Fisch im Wasser. 

Zu dem kommt der offene Ausgang. Denn während ein Tourist die Sitten im Ausland gefahrlos bestaunen kann, weil der Aufenthalt ja begrenzt ist und eine Rückkehr nach Hause absehbar, haben MigrantInnen diese Sicherheit nicht. Das gibt dem Fremdsein eine gewisse existenzielle Schärfe. Wie wird es sein, in einem Land zu leben, in dem die Menschen so wenig lachen und ein „face de citron“ (Zitronengesicht) aufsetzen, wie Sharon Pecnik das nennt?

Der oder die Zugereiste ist in der Minderheit, will bleiben und kennt sich nicht aus. Nicht nur die Sprache, auch Kleinigkeiten im Alltag können da zum Wahnsinn treiben: Wo ist die nächste Post? Wie beantragt man ein Bankkonto und einen Handyvertrag? Warum passt der Telefonstecker nicht in die Buchse und warum grüßt beim Greißler keiner zurück? In der Fremde wird alles Gewöhnliche zum Besonderen. Das kann anstrengend sein, belebend wirken, euphorisierend oder eben beängstigend. 

ITALIEN IST GUT
Fremd fühlen sich MigrantInnen aber nicht nur, weil sie fremd sind, sondern weil die anderen sie als Fremde wahrnehmen. Milva Spina hatte hier in Österreich so ihre Erlebnisse, natürlich mit der Fremdenpolizei, bei der sie jährlich um Verlängerung ihres Besuchsvisums ansuchen musste, aber auch in vielen Alltagssituationen. Einmal prüfte sie auf dem Bauernmarkt mit der Hand das ausgelegte Gemüse, da rief ihr die Verkäuferin zu: „Wir sind nicht in der Türkei, dass man sich das selbst aussucht.“

Als Spina in mittlerweile gutem Deutsch erklärte, sie sei aber Italienerin, schlug die Stimmung sofort um: Ah, Italien, na, das sei etwas ganz anderes! „Italienerin zu sein ist eine Visitenkarte“, erzählt Milva Spina, „die Leute denken an Mode und gutes Essen.“ So ist es eben, manche gelten als gute, manche als schlechte AusländerInnen, und das Bild, das die anderen im Kopf haben, bestimmt ein Stück weit auch, wie man sich selber sieht und fühlt.

Eigenartig, innerhalb der eigenen Kultur gilt die Person als Individuum – wenn aber Fremdheit dazukommt, sieht man zuerst „Typen“: den Serben, die Deutsche, den Österreicher. Diese Schemata sollen für Ordnung sorgen und sie helfen zunächst auch beim Verstehen. Deutsche haben keinen Humor, Rumänen sind Zigeuner, Österreicher können hinterhältig sein. Manchmal ist sogar etwas dran an solchen Zuschreibungen, aber natürlich stimmen sie im Einzelnen nie, und vieles geht in ihnen verloren. Manchmal fällt es auch schwer, gegen Vorurteile anzugehen, ohne selbst in welche zu fallen.

Frau mit Migrationshintergrund in Österreich

© Robert Maybach

ZWEIERLEI MASS
Wie ist es aber dann mit der Integration? Biografieforscherin Breckner hält den Begriff für problematisch. „Mit ihm geht oft die einseitige Anforderung einher, hier solle sich jemand anpassen und einfügen in ein System.“ Dabei sei Integration ein wechselseitiger Prozess, er brauche Willkommen, Respekt und Akzeptanz auch für das Fremde.

Als Schlüssel für das Ankommen in einem anderen Land gilt natürlich die Sprache, aber das ist nicht alles. Zum Verhältnis von Österreichern und Deutschen heißt es oft: „Nichts trennt uns mehr als die gemeinsame Sprache.“ Und das stimmt, denn viele Worte, die Betonungen und Akzente sind anders – und genau das schafft ein Befremden, auch wenn man sich eigentlich perfekt verständigen kann.

„Sprachkompetenz ist zwar für den Bildungserfolg extrem wichtig“, sagt Roswitha Breckner, „aber auch bei einer Putzfrau, die nur ein paar Brocken Deutsch spricht, in ­Österreich arbeitet und ihre Kinder großzieht, kann man von gelungener Integration sprechen. Sie nimmt ja am Arbeitssystem teil, die Kinder gehen hier in die Schule, und es gibt vermutlich ein funktionierendes soziales Umfeld.“ 

Auch bei der Sprachkompetenz messen wir überdies mit zweierlei Maß. Französisch und Englisch gelten als internationale Sprachen, da drückt man ein Auge zu und verlangt nicht mit Vehemenz, alle hiesigen Franzosen oder Amerikaner sollten die Landessprache lernen. „Meine Familie stammt aus der deutschen Minderheit in Siebenbürgen und meine Großmutter hat nie mehr als zwei Worte Rumänisch gekonnt. Das brauchte sie auch nicht, es wurde nie als Mangel angesehen“, erzählt Breckner. Dennoch sei ihre Großmutter sehr wohl zu Hause gewesen in Rumänien. 

KEIN ENTWEDER-ODER
Fortgehen ist nie ganz einfach, das zeigt schon unser Wort „Elend“, das aus diesem Zusammenhang stammt. „Ellende“ bedeutete im Mittelhochdeutschen „Ausland, leben in der Fremde, Verbannung“. Ein bisschen etwas von diesem Schatten, dem möglichen Elend, bleibt auch heute noch bei einem Umzug in die Fremde. Interessanterweise kann sich der Blick auf eine Migrationserfahrung im Nachhinein und im Lebensverlauf auch verändern.

Manchmal fällt auf das, was anfangs als gut erlebt wurde, später ein Schatten. Manchmal ist der Anfang schlimm, erweist sich dann aber als Beginn von etwas Gutem. Manchmal ist das Heimweh sofort da, manchmal kommt es erst viel später, wie bei Lynette Paulitsch (siehe Seite 18). Migration ist ein langer Prozess, aber nach einer Weile – und es scheint, als gebe es da gewisse Entwicklungsstufen – findet eine Angleichung statt, ein Hineinwachsen in die neue Kultur, ein unmerkliches Hinübergleiten, bei dem auch ein Stück der alten Herkunft verloren geht.

Milva Spina ist jetzt seit 30 Jahren im Land, die Beziehung zu ihrem Traummann hielt immerhin 22 Jahre, eine Tochter ging aus dieser Ehe hervor. „Natürlich nimmt man die Mentalität des Landes an, in dem man lebt“, sagt Spina, auch wenn immer ein Rest des anderen bleibe. In Italien sage man zu ihr: „Du bist eh eine Österreicherin“, aber hier in Österreich sei sie eben immer auch noch die Italienerin. Mit dem leichten Abstand zu beiden Kulturen findet sie, dass die Italiener zu viel Drama aus allem machen und die Österreicher wohltuend geordnet sind, leider aber der Familie keinen so großen Stellenwert einräumen. Das Gute an ihrem Status sei, dass sie sich aus beiden Ländern das Beste aussuchen könne. Und überhaupt, wer sagt denn, dass es ein Entweder-oder geben müsse, ein klares Hier oder Da? 

DAS GRÜN DER WÄLDER
„Heimat ist, wo die Familie ist“, sagt Sharon Pecnik und meint damit sowohl ihre österreichische wie ihre brasilianische Verwandtschaft. Dass sie in Österreich bleiben wird, war für sie klar, als ihr Sohn auf die Welt kam. Ihre Kinder sollen hier zur Schule gehen, eine gute Ausbildung erhalten. Das Gefühl, zu Hause zu sein, hat viel mit den Menschen zu tun, die nah sind. Auch das Aufgenommenwerden durch die Partner und die Schwiegereltern sei sehr wichtig, berichten viele, vor allem auch für das Erlernen der Sprache. Denn familiäre Intimität schafft die Geduld, den Willen, sich als Person und nicht nur als „Typus“ aufeinander einzulassen.

Ein Gefühl von Heimat wird aber auch durch bestimmte Orte ausgelöst, durch einen Raum, eine leibliche Erfahrung. In Österreich, so will es scheinen, ist die Natur eine große Heimatstifterin. Aus Brasilien und Indien kommend, bezeichnen Sharon Pecnik und Lynette Paulitsch das Grün Kärntens als einzigartig und beglückend. Für Tamar Davidischiwili (siehe oben) aber ist das Beste an Österreich die Sicherheit, dass es hier keinen Krieg gibt. 

Ob ein Migrationsprozess gut oder schlecht verläuft, hängt zu einem großen Teil an den Aufnahmebedingungen und daran, wie viel Freiheit den Zugereisten gewährt wird, wie viel Möglichkeiten sie haben, im neuen Land selbstbestimmt zu leben. Denn im Grunde komme es für alle Menschen darauf an, das „eigene biografische Projekt zu verwirklichen“, sagt Migrationsforscherin Breckner: „Ich bin mir sicher, dass viele Flüchtlinge trotz aller Widrigkeiten ihre Migrationsgeschichte als positiv empfinden, ganz einfach weil sie die Rettung ihres Lebens ist.“

„Mein Prinz kam mit dem Flugzeug“

Sharon Pecnik (34) stammt aus Brasilien und lebt seit rund zwölf Jahren in Kärnten. An Gulaschgerichte hat sie sich nicht gewöhnt, aber die Natur, ihren Mann und die Kinder liebt sie.
Ausländerin in Österreich

© Alexandra Grill

Von Österreich kannte sie nur Sissi und Kaiser Franz Joseph, und sie hatte einen Traum. Der hieß: „Wegkommen“. Sharon Pecnik wuchs unter acht Geschwistern und ohne Vater in der brasilianischen Region Minas Gerais auf. Arbeiten musste sie, seit sie sechs Jahre alt war, sie habe den Haushalt geführt, später tagsüber als Babysitterin und Hausangestellte Geld verdient und abends Sport studiert.

Über einen Kontaktdienst im Internet lernte Sharon dann Anton Pecnik kennen, der sie besuchte, heiratete und mitnahm auf seinen Bauernhof in Kärnten. 

Das erste Gefühl in der Fremde war Angst. Die dünne Luft auf 1.200 Meter Höhe war sehr gewöhnungsbedürftig, doch verliebt hatte sich Sharon in die Natur und in ihren Mann. „Der ist mein Prinz“, sagt sie. Er nimmt sie in Schutz, auch gegen das zuweilen fremdenfeindliche Misstrauen der Umgebung.

Vor allem die Sprache stellt eine Barriere dar. Mit ihren beiden Kindern (6 und 11) spricht Sharon Pecnik Portugiesisch, und sie antworten auf Deutsch. Sharon sei eine gute Mutter und eine gute Köchin, berichtet ihre Schwägerin, die mit im Haus lebt, in dem Sharon sich derzeit auch um die Pflege ihrer Schwiegermutter kümmert. 

Im Dorf unten sieht man Sharon Pecnik kaum, sie lebt zurückgezogen. 

Vier Freundinnen hat sie hier in Europa, allesamt Brasilianerinnen, mit zweien von ihnen telefoniert sie jeden Tag. Gerne würde sie den Führerschein machen, ein Auto bedeutete Freiheit, aber die letzte Fahrprüfung scheiterte an der Sprache, sagt sie. Vielleicht wird Sharon – trotz ausgeprägter Flugangst – doch einmal zurückfliegen, den Führerschein in Brasilien machen und dann in Europa anerkennen lassen? Das wäre eine gute Sache.

„Österreich ist die zweite Heimat“

Tamar Davidischiwili (27) kam vor neun Jahren als Flüchtling aus Georgien. Gerne würde sie hier mehr Menschen kennenlernen, einen normalen Beruf ausüben und frei reisen können. Aber das geht nicht so einfach.
Tamar Davidischiwili

© Robert Maybach

Seit neun Jahren hat Tamar Davidischiwili ihre Familie nicht mehr gesehen, also seitdem sie im März 2006 im Alter von 17 ganz allein und ohne ein Wort Deutsch zu verstehen am Bahnhof in Linz ankam. Die ganze Familie, die an der Grenze zu Russland lebte, hatte versucht, vor kriegerischen Auseinandersetzungen zu fliehen, aber nur Tamar gelang es mit einem gefälschten Touristenvisum. Im Zug gen Westen hatte sie ein Mädchen kennengelernt, bei dem sie drei Tage wohnen konnte, dann ging sie zurück zum Hauptbahnhof, ohne zu wissen, was sie jetzt tun sollte. Sie hörte jemanden Georgisch sprechen, einen Mann, der ihr dann half, Asyl zu beantragen. Ein halbes Jahr später wurden die beiden ein Paar.

Wenn sie gewusst hätte, was kommt, wäre Tamar Davidischiwili vielleicht besser zu Hause geblieben, meint sie rückblickend. Denn hier in Österreich wartete sie lange auf eine Anerkennung als Flüchtling, saß zur Untätigkeit gezwungen zu Hause mit 290,00 Euro Unterstützung für den Monat. Als ihre erste Tochter Ruska (6) zur Welt kam, erhielt auch Tamar Davidischiwili endlich Anerkennung und Arbeitserlaubnis, seither verdient sie den Lebensunterhalt als Putzfrau, was eine einsame Tätigkeit ist und keine, bei der man die Sprache gut lernt. Gerne würde sie eine Ausbildung machen und einer „normalen Arbeit“ nachgehen, als Verkäuferin etwa.

Ihre beiden Töchter – bald nach Ruska kam Gvantsa (5) auf die Welt – liebt Tamar Davidischiwili über alles. „Wenn ich viel Geld hätte, würde ich auch noch Waisenkinder adoptieren“, sagt sie. An Österreich findet sie eigenartig, dass die Familie hier keinen so hohen Stellenwert habe. Dass hier Sätze fallen wie „Ich hasse meine Mutter“, kann Tamar nicht verstehen. Ihr Vater ist vor Kurzem gestorben, ohne dass sie ihn vorher noch einmal hätte sehen oder zur Beerdigung nach Georgien hätte fahren können. Jetzt hat sie die österreichische Staatsbürgerschaft beantragt, damit sie frei reisen kann.

Lesen Sie mehr dazu in „Welt der Frau“ Ausgabe vom Juli 2015 

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