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Ausgabe:
Bewegung
04-05/24

Jedes Vielleicht stört den Hass

Die Wahlkämpfe 2016 sind ausgewertet, Hass im Netz ist mehr als ein Schlagwort und die Hetze geht weiter: gegen Homosexuelle, gegen Flüchtlinge, gegen alle, die anders sind. Da hassen die Unteren die Elite, selbst wenn es nur der schlecht bezahlte Probelehrer des Sohnes ist, der dessen Genie noch nicht zu erkennen imstande war. Da gibt es die Bildungsschickeria, gegen die gehetzt wird, die besser Verdienenden, denen jede Leistung abgesprochen wird. Flüchtlingsheime zu attackieren, gilt nicht als schockierend, wird als „Sorge haben“ konnotiert, natürlich, das sollte schon nicht geschehen. Die einen spotten über die politische Korrektheit, die anderen meinen, nun sei aber Schluss mit der Toleranz.

Nun, ich halte es für keinen zivilisatorischen Zugewinn, wenn ungebremst gebrüllt, beleidigt und verletzt werden darf. Ich halte es für keinen Fortschritt, wenn jede innere Schäbigkeit nach außen gekehrt werden darf, weil angeblich neuerdings dieser Exhibitionismus des Ressentiments von öffentlicher oder gar politischer Relevanz sein soll. Wie viele andere will ich mich nicht daran gewöhnen. Ich will die neue Lust am ungehemmten Hassen nicht normalisiert sehen. (S. 15)

Wie sehr ein Name die soziale Existenz bestätige, festschreibe, zeigt Carolin Emcke am Beispiel der Transpersonen: Diese sollen auf einen Namen hören, der das verleugnet und bestreitet, was sie leben. Warum sollten diejenigen, die ausgegrenzt und missachtet werden, um ihre Rechte und Freiheiten kämpfen? Zahlreiche Belege demonstrieren die Mechanismen der Ausgrenzung, die Erwartungen, die die Gesellschaft gegenüber den „anderen“ hegt. Emckes Hinweis, es gelte, sich wieder den Freiraum der Phantasie zurückzuerobern, sich die Geschichten vom Glück in Erinnerung zu rufen. Es gehe darum, Geschichten vom gelungenen, dissidenten Leben und Lieben zu erzählen, es solle sich die Möglichkeit des Glücks festsetzen.

Die Analyse ist genau, präzise und visionär: Emcke analysiert Ausschreitungen gegen Wehrlose und spricht dabei auch die Rolle der schweigende Masse sowie der Exekutive an. Sie erzählt die Historie des Hasses und der Verleumdungen; sie verweist darauf, dass Hass nie plötzlich ausbricht, sondern gezüchtet wird, dass er weder individuell noch zufällig ist. Es ist an der Zeit, diesen Hass nicht weiter zu nähren.

Gegen den Hass aufzubegehren, sich in einem Wir zusammenzufinden, um miteinander zu sprechen und zu handeln, das wäre eine mutige, konstruktive und zarte Form der Macht. (S. 218)

 

 

Was Sie versäumen, wenn Sie das Buch nicht lesen: eine kritische Reflexion über Rassismus, Fanatismus und Demokratiefeindlichkeit, eine feine Differenzierung der Vielstimmigkeit, feinsten Humor im zweiten Kapitel „Homogen – natürlich – rein“ sowie im dritten Teil „Lob des Unreinen“, geschliffene Formulierungen, kühle Differenziertheit bei aller Empathie und allem Engagement der Autorin.

 

Die Autorin: Jahrgang 1967, studierte Philosophie in Frankfurt, London und Harvard, sie bereiste von 1998 bis 2013 Krisenregionen, arbeitet als freie Publizistin; seit über 10 Jahren organisiert und moderiert sie die monatliche Diskussionsreihe „Streitraum“ an der Schaubühne Berlin. Sie ist eine mehrfach ausgezeichnete Journalistin und Autorin. 2016 erhielt sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

 


 

Carolin Emcke:

Gegen den Hass.

Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 2016.

239 Seiten.

 

Alles mit einer Prise Zurückhaltung

Gertrud, Kilian, Linus, Jasmin und Nicole begleiten uns durch diesen Roman, die einzelnen Skizzen: Zuerst gibt sich Gertrud die Ehre und die ist da gar nicht ziperlich. Wohl verletzt, wohl ein wenig skurril, abgewiesen und abweisend, Opfer und Täterin in einem, alles sehr dezent. Jetzt hat sie ihre Stelle verloren, dabei hat sie nie in der Arbeit – Gertrud ist Buchhalterin – gefehlt, sogar auf Krücken hat sie sich hingeschleppt. Und jetzt die totale Zurückweisung bei der Arbeitssuche: Sie solle sich doch anschauen, so wie sie auftrete und sich kleide, das gehe doch gar nicht! So klettert Gertrud in den Müllcontainer, schließlich gehört dort ja auch hin, was entsorgt werden muss. Gertrud hat schon immer darauf gehört, was andere ihr so (an)sagten. Nach dem Besuch eines Stadtfuches in ihrer nächtlichen Abgeschiedenheit im Müllcontainer wird der Deckel erneut geöffnet und ihr, der Ausgesonderten, fällt ein Neugeborenes in die Arme. Schnitt. Es ist ausgerechnet Linus Kaufmann, ihr netter Nachbar, dem sie zurufen kann: „Kümmern Sie sich um das Baby!“, bevor sie und das ausgesetzte Baby von der Rettung abgeholt werden. Ganz anders ergeht es diesem Kilian, der gerade in einer Klinik ankommt: Auszeit, keine Emails, Entspannung, Runterkommen – er wirkt erfolgreich, er ist anscheinend ein gefragter Mitarbeiter seiner Bank mit dem sprechenden Namen „Alta prima“. Wäre da nur nicht dieses Geräusch im Kopf, das ständige Zählen von Münzen, wäre da nicht die Angst vor Existenzverlust: Was, wenn alle Kunden ihre Gelder abziehen? Wie kann er dann seine eigenen Kredite bedienen, Wohlstand für seine Frau und ihr Kind garantieren? Auf Gertrud und Kilian folgt die Kurzgeschichte von Linus in Großaufnahme: Dieser trifft seine ehemalige Geliebte Jasmin bei dieser Diskussionsrunde zum Thema „Organtransplantation/Organspende“ wieder. Jasmin entsetzt viele, als sie dabei direkt in die Kamera erzählt, welch Ekel ihr Vater doch war und wie verschwendet ein Spenderherz an diesen herzlosen Mann doch gewesen sei. Nein, dieser Mann habe kein Herz, überhaupt kein Organ verdient, er, der Familientyrann hätte einfach sterben, verrecken sollen, ja, doch, am Ende geriet er unter einen Schnellzug. Ob das wirklich ein Unfall und kein Suizid war? Schade um das neue Herz!

Die Schicksale sind enger verwoben, als es im ersten Kapitel den Anschein hat. Da wird aus der einsamen Gertrud auf einmal die Tante von Nicole und aus Linus ein guter Nachbar, ein noch besserer Sohn und ein phantastischer Geliebter von Jasmin. Alle ProtagonistInnen tun ihr Bestes, passen sich an, versuchen einfach, gut zu leben, gute Menschen zu sein und ein bisschen reich und erfolgreich zu werden. Die Abgründe zeigen das von der Philosphin Hanna Arendt beschriebene Banale des Bösen: Kilians Karriere ist zu Ende, noch einmal fährt er im Lift hoch in sein Büro.

Kilian ist der Mörder! Er ist der Amokläufer, der heute drei Leute in seiner Bank erschossen hat!“ Nun weinte Nicole los, direkt in den Hörer. „Um Gottes willen, Kind!“ Gertrud schluckte trocken. „Womit hast du so etwas verdient? Gott sei Dank ist dein Mann nicht zu Hause Amok gelaufen!“ Nicole schluchzte immer lauter und konnte nicht antworten. „Ja, wenn das so ist, dann … dann … Hoffentlich kann er sterben … Hoffentlich stirbt er! (S. 244)

 

 

Was Sie versäumen, wenn Sie das Buch nicht lesen: Verwobenheit, das Ineinandergreifen von Lebensentwürfen, Erkennen von Ausbeutungsstrukturen, Verständnis, warum der Neoliberalismus Menschen verachtet, fünf Minuten Nachdenken über Organspenden, eine gesunde Wut, gelegentliche Heiterkeit, die Suche nach Integrität, jede Menge verletzte Seele, die man ja nicht durch Organspenden heilen kann, großes Können, Absage an Selbstoptimierung, Lust darauf, jemandem jetzt sofort etwas Gutes zu tun.

Große Literatur in kleinen Episoden, komplexe Charaktere – das müsste jetzt aber reichen!

 

Die Autorin: 1963 in Stara Zagora, Bulgarien, geboren; sie lebt seit 1996 in der Schweiz, wo sie u. a. als niedergelassene Psychiaterin und Psychotherapeutin arbeitet. Bereits im Roman „Vaters Land“, 2014 bei Braumüller erschienen, verband sie Analyse mit Poesie, Verstand mit Herz.

 


Evelina Jecker Lambreva:

Nicht mehr.

Roman.

Wien: Braumüller 2016.

277 Seiten.

Flucht vor der Unerbittlichkeit der Zeit

17 Kapitel erzählen vom Schmerz des englischen Uhrmachers Alister Cox, dessen Versuch, diesen zu lindern und sich dafür technischen Herausforderungen zu stellen. Die Reise führt weg von England, weg vom Grab der fünfjährigen Tochter Abigail und seiner seit deren Tod in Schweigen verfallenen Ehegattin Faye. Alles, was Cox außer Mechanik und Präzision je etwas bedeutet hat, ist gestorben, ist ausgelöscht und vergangen.

So nimmt Cox die Einladung des Kaisers von China an, segelt mit dreien seiner besten Handwerker zu ihm, um in der Verbotenen Stadt Uhren nach dessen Geschmack, dessen Vorgaben und Befehlen zu erbauen bzw. zu erschaffen. Genau zwei Monate Bedenkzeit hatte sich Cox erbeten, bevor der diese Einladung Quánlóngs angenommen und zum Zeichen seines Einverständnisses den mit Tusche gezeichneten Plan eines Eisvogels nach Beijing geschickt hat.

Der Hofstaat des Kaisers von China, seine Konkubinen und die Übersetzer sind überrascht von dem Vertrauen, das Meister Cox und seinen Gehilfen – selbst wahre Meister – geschenkt wird. Keine Materialbestellung ist zu speziell oder kostspielig: Die Intrigen beginnen zu brodeln und erreichen ihren Höhepunkt, als der Kaiser die Hütte der Handwerker nur in Begleitung seiner Lieblingskonkubine und des Übersetzers betritt.

Der Zauber dieser Momente liegt in deren detailreicher Beschreibung, Meister Cox hat genau diese Konkubine vom Schiff aus gesehen und verzehrt sich seither vor Sehnsucht nach ihr. Sie erinnert ihn an seine Frau, die er seit sie ein Kind ist, kennt. Sie hat ihn bewundert, ihr Vater, dessen Brotherr Cox ist, drängte sie zur Heirat und ignorierte ihre Verzweiflung ob der sexuellen Begierden ihres Ehemannes, so hatte sie sich Erfüllung nicht vorgestellt.

Furcht herrscht in der Verbotenen Stadt, niemand wagt es, dem Kaiser zu widersprechen, nur diese Konkubine darf ihn foppen und mit ihm lachen und er – der Engländer, der so Kurioses produziert, der stets neue Ideen aufbringt und den Herrscher auf magische Weise zu verstehen scheint. So konstruiert er für ihn auch das Silberschiff und reist mit ihm nach Jehol am heißen Fluss; auf dieser Reise stirbt einer der Gehilfen und wird – sei es Zufall oder Bestimmung – so begraben, dass sein Grabmal den Lauf und das Verrinnen der Zeit symbolisiert.

Daß der Kaiser seine Ankunft im Sommer mit dem ersten Ton des Glockenspiels dieser Uhr verbinden wolle und mit diesem Klang den Beginn einer neuen Jahreszeit festlege, sagt Kiang, sei vielleicht ein Zeichen der höchsten Gunst, das allein seinen Gästen galt. … Selbst ein graues Ding der Wirklichkeit, das unter Verschluß gehalten und nur selten gezeigt wurde, konnte dadurch ins Maßlose, ja Wunderbare überhöht werden und adelte jeden damit Befaßten. (S. 204)

Hierarchien, Graumsamkeit und Willkür eines Herrscher, Intrigen, Sehnsüchte, Verzweiflung und Ergriffenheit sind hier verwoben; es gelingt auf einmal nicht mehr den Kaiser von China nur noch als machtbesessenen Egomanen zu erleben, der sich an Hinrichtungen zu erfreuen mag. Cox empfindet Zuneigung zu seinem Auftraggeber und willigt ein, das perpetuum mobile als Verwirklichung einer jahrhundertealten Sehnsucht für ihn zu bauen. Cox erinnert sich an Faye und Abigail, an sein Sehnen nach diesen beiden Menschen, die er verloren glaubte.
 

Was Sie versäumen, wenn Sie das Buch nicht lesen: Zeitgefühl, Lust, über Zeit zu philosophieren, Nachdenken über Macht und Machtgebärden, Sehnsucht und Leidenschaft, Facetten des maßlosen Kaisers von China und dessen Insignien der Macht, Ideen zum Verrinnen der Zeit und der Zeitmessung.

 

Der Autor, 1954 in Wels geboren, macht mit Werken wie „Die letzte Welt“, „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“ und „Morbus Kitahara“ das Erzählen selbst immer wieder zum Thema; seine Bücher, in mehr als 30 Sprachen übersetzt, führen gleich nach ihrem Erscheinen sofort die Bestenlisten an.

 

 

Christoph Ransmayr:
Cox oder der Lauf der Zeit.
Roman.
Frankfurt: Fischer Verlag 2016.
302 Seiten.

Ein Fenster für mich allein

Da schaut jemand aus dem Fenster und wagt es gleich auf der ersten Seite gegen die vorgeschriebene Fahrtrichtung, also gegen die Einbahn denken, aufwärts strömen die Gedanken, tröpfeln die Erinnerungen sanft. Und schon melden sich die Erinnerungen an ein Damals, an eine so genannte Zweizimmerwohnung für den Fenstergucker, die Katze und die Eltern. Diese Wohnung hat der Vater, ein exzellenter Fotograf, gegen einen Mantel eingetauscht: Der Vorbesitzer konnte den Tod seiner Liebsten nicht verwinden, die da in dieser Wohnung starben, weil eines der Zimmer einfach abstürzte. Unvorstellbar, ein Zimmer, weggebrochen, die Liebsten dahin. Den Mantel wiederum hat der Vater von einem riesigen Russen bekommen im Tausch gegen Fotos: Das funktionierte damals.

Die Leute da unten auf der Straße, sie ergeben ein buntes Bild, manche Männer tragen Brillen, weil sie blind sind, andere gehen auf Krücken, weil sie ein Bein verloren haben. Wie das klingt!

Der Erzähler reflektiert, wie wohl das Kind damals aus dem Fenster gesehen haben mag, was es dachte, fühlte, sich wünschte. Dachte es so kompliziert, hätte es diese Worte gewählt?

Von einem Kind, das gern eine Katze sein wollte. Das heißt, ein Kater. Denn es handelt sich um ein Kind männlichen Geschlechts. Peter. Oder soll ich den kleinen Buben, der am Fenster steht oder kniet, lieber Paul nennen? Peter oder Paul, der sich der Katze, mit der er aus dem Fenster schaut, sehr nahe fühlt. (S. 16)

Friedi, die Freundin des Buben, kommt gern bei ihm vorbei, die beiden verständigen sich von Fenster zu Fenster ohne Worte, sie haben ihre eigene Zeichensprache für ihre Verabredung. Pech, dass die Aktfotos im Vorzimmer, Meisterwerke des Vaters, das Interesse Friedis erregen: Ob sie deshalb nicht mehr kommen darf? Und da ist noch die Gasse, auf die der Bub will und vor der die Mutter ihn warnt: Willst gar ein Gassenbub werden?

Während wir mit dem Buben aus dem Fenster schauen, erfahren wir vom Erzähler, dass die eine Oma eben diese sehr kleine Frau war, die so wunderbar erzählen konnte und der er ein eigenes Buch „Eine sehr kleine Frau“ gewidmet hat. Henisch entwirft die Skizze eines Kindes, des lebensschlau aus dem Fenster blickt, geübt im Umgang mit Erwachsenen und unbeholfen im Kontakt mit Gleichaltrigen ist. Und gleich nach dieser Schilderung ein neuerlicher Bezug zu einem seiner Romane „Die Kinder, das sind die anderen“ – dieser Satz steht in einem Buch über einen gewissen „Pepi Prohaska“. Klar, da kommt noch ein Lesezeichen dazu, man solle den Pepi Prohaska und den Peter nicht verwechseln, sie seien aber literarische Verwandte.

Eins meiner Talente war eindeutig das Lesen. Ich hatte ganz einfach ein Interesse am Entziffern von Buchstaben und Freude am Umgang mit allem Geschriebenen. (S. 118)

 

Was Sie versäumen, wenn Sie das Buch nicht lesen: Unvorstellbar, dass Sie überhaupt erwägen, das Buch nicht zu lesen. Sie versäumen einfach alles, was das Leben so ausmacht. Vertrautheit, Sicherheit, das Schnurren einer Katze, stundenlanges Am-Fenster-Stehen, Rausschauen, Glauben und Hinterfragen, Hingabe, eine Reise durch alle Werke von Peter Henisch.

 

Der Autor: Jahrgang 1943, Mitbegründer der Zeitschrift „Wespennest“ prägt die österreichische Literaturszene; mit Romanen wie „Die kleine Figur meines Vater“ (1975) bis hin zu „Mortimer & Miss Molly“ (2013) lässt sich Geschichte bzw. Zeitgeschichte lesen und sogar verstehen.

 

 

Peter Henisch:

Suchbild mit Katze.

Roman.

Wien: Deuticke 2016.

203 Seiten.

Karl Hellmann sucht das Glück

Wer hat noch nicht davon gelesen: Das kleine Königreich Bhutan setzt auf das Bruttonationalglück und könnte doch damit Vorbild für die sogenannte westliche Welt werden. Ausgerechnet Karl Hellmann, linkisch, zurückgezogen, ständig im inneren Monolog hat sich aufgemacht, Menschen nach ihrem Glück zu fragen. Er, der pensionierte Lehrer, will Leute – die er wirklich sorgfältig als Sample ermittelt hat – treffen, sie fragen, was sie glücklich macht, welche Rituale sie haben, welche Visionen. Lebenszufriedenheit, ja, das käme in etwa hin, daher bricht er auf, nimmt sich ein Zimmer und startet sein Projekt.

Doch so schnell geht es im Roman nicht. Da fährt Karl weg, im inneren Monolog mit sich und mit Margit, die so schlecht mit Zimmerpflanzen kann und sehr spitzfindig im Begründen ist. Überhaupt ist Margit kompliziert, sie will jetzt sicher wissen, warum Karl einfach losgefahren ist. Der Protagonist testet sein Aufnahmegerät, ja, das funktioniert. „Aufbruch heute, zwanzigster Oktober, elf Uhr zehn. Der Ort wurde durch Zufallsprinzip ermittelt.“ Die Wirtin im Hotel Post erscheint ihm als „schnelle Frau“, die hier auf beinahe verlorenem Posten die Heizung abdreht und fürs Sparen steht und mit keinem Wort verrät, dass Hellmann derzeit ihr einziges Gast ist. Aber vielleicht kommt der Schnee und mit dem Schnee die Gäste, aber auch die kriegen keine wohlig-warmen Zimmer. Wofür auch!

Mit Bedacht kauft er sich eine Wurstsemmel, der Verkäufer trägt den Schriftzug „Kapitän“ auf seiner Schürze, ob das eine Vorstufe des Glücks ist? Dieser Verkäufer mag seine Arbeit, er tratscht mit den KundInnen und legt ihnen einen Kalender zur Bestellung dazu, eine kleine Geste, ein kleines Geschenk. Hier werden Termine noch in diese Kalender eingetragen, die wir alle von unseren Großmüttern kennen, wenn das nicht eine Spur Gemeinwohl ist? So streng die Wirtin beim Heizen ist, so gütig ist sie zu Annemarie, dem Hund, den ein Gast namens Annemarie einfach im Hotel vergessen hat. Szene reiht sich hier an Szene, alles mit Sorgfalt gestaltet und inszeniert: Hier hat es niemand eilig, hier will niemand sich selbst optimieren, hier werden alte Frauen im Rollstuhl schon einmal am Balkon vergessen. Nein, es ist nur eine und die ist an sich gut umsorgt: Nach diesem Roman ist man für immer für Selbsthilfebücher und Ratgeber versaut, man hat Lust darauf, eine Wurstsemmel beim Kapitän zu kaufen, den Leuten beim Reden zuzuhören und eine Runde spazieren zu gehen. Karl Hellmanns „Ich“ setzt aktiv in seinen Selbstgesprächen mit Margit ein, manchmal führt er den Dialog auch nur um den verlegten Garagenöffner.

Während Karl die letzten Butterreste auf das dritte Brot streicht, wartet er darauf, dass Margits Theorie der unerträglichen Stille greift. Gibt jemand wenig Auskunft, kann es hilfreich sein, in Stille abzuwarten, dass das Gegenüber in einen Redeschwall gerät. Aber die Wirtin schweigt. Sie liest weiter Zeitung und schaut nur kurz aus dem Fenster, als draußen ein Auto vorbeifährt. Die Fenster der Gaststube sind niedrig, man hat einen guten Blick. Jetzt, denkt Karl, als keine Butter mehr übrig ist, er räuspert sich, er sagt: Ich hätte eine Frage an Sie, beziehungsweise wären es mehrere, wenn Sie gestatten. (S. 26)

Hellmann kehrt nach einigen Interviews zurück nach Hause in den Jupiterweg sieben: Eigentlich müsste ihn Margit doch gehört haben? Er erkennt: Wir dürfen nicht aufhören, Fragen zu stellen und wir müssen viele sein.

 

Was Sie versäumen, wenn Sie das Buch nicht lesen: bizarre Charaktere, Lust an Einsamkeit, Lust auf Selbstbestimmung, Lust, sofort in düstere Orte und noch düstere Hotels, Gasthäuser/Gasthöfe zu ziehen, Freude daran, dass es diese Orte noch gibt, für die niemand wirbt, Ehrlichkeit, Redlichkeit, Irrsinn.

 

Die Autorin, 1984 in Linz geboren, lebt seit 2002 in Wien; 2012 erscheint ihr Roman „Der Winter tut den Fischen gut“, für den sie u. a. den Preis der Leipziger Buchmesse erhält.

 

 

Anna Weidenholzer:

Weshalb die Herren Seesterne tragen.

Roman.

Berlin: Matthes und Weitz Berlin 2016.

190 Seiten.

Weil ich so eine Wut hab’ über die Menschen

Das Buch ohne Titel“ ist das einzige Buch von Lina Loos, die als Feuilletonistin und Schauspielerin bekannt ist und als Wiener Institution gilt, das zu ihren Lebzeiten veröffentlicht wurde. Diese Sammlung ihrer Geschichten, Essays und Erinnerungen an ihr Nahestehende gilt es ebenso zu entdecken und immer wieder zu lesen wie den vorliegenden Band, diese Briefsammlung, ein Schatz aus Leidenschaft, Offenheit, Zuwendung, heute wohl als Resonanz zu beschlagworten.

Bereits 1966 gaben Franz Theodor Csokor, ein lebenslanger Freund und Bewunderer von Lina Loos sowie Leopoldine Rüther, ihre Begleiterin der letzten Jahre, eine Briefsammlung heraus. Der Buchtitel geht übrigens auf einen schwärmerischen Brief zurück, den Peter Altenberg ihr schreib. Übrigens kommt dieser Brief in der Sammlung von 1966 nicht vor. Die aktuelle Ausgabe versteht sich als Ergänzung, als Vervollständigung der Zeitdukmente wie auch des daraus entstehenden Porträts der 1882 in Wien als Karoline Obertimpfler geborenen Lina Loos.

Die hier vorliegende neue Anthologie mit Briefen an Lina Loos – und auch einigen erhalten gebliebenen von ihr – soll dazu beitragen, das Porträt dieser außerordentlichen Frau zu vervollständigen, einige neue Farbtöne hinzuzufügen und bis im Verborgenen Gebliebenes ans Licht zu rücken – auch wenn natürlich manches ungesagt bleiben muss, das nicht in die Öffentlichkeit gehört. (S. 10)

Persönlichkeiten wie Peter Altenberg, Adolf Loos Egon Friedell, Alfred Polgar, Joseph Roth, Else Lasker-Schüler und besonders interessant auch Kerstin Strindberg als VerfasserInnen von Briefen in unterschiedlicher Sachlichkeit und Leidenschaft, Wut und Sehnsucht, Selbsterklärung und Hinwendung kennenzulernen, ist besser als jede Literaturgeschichte, faszinierender als ein Film. Man stelle sich nur die Reise dieser Briefe vor, die Leidenschaft ihrer VerfasserInnen, das Hinsehnen auf Antwort, die Direktheit der Gefühle und die Zeitgeschichte hinter diesen Texten.

 

Was Sie versäumen, wenn Sie dieses Buch nicht lesen: Briefkultur, Freude am Lesen sehr unterschiedlicher Briefstile, eine Mini-Literaturgeschichte rund um Lina Loos, einer brillanten Kolumnistin und Schauspielerin, Freude daran, mehr von den einzelnen BriefschreiberInnen zu erfahren und zu lesen.

 

Die Autorin wurde am 9. Oktober 1882 in Wien geboren, hieß mit bürgerlichem Namen Karoline Obertimpfler, kam aus betuchtem Hause, ihr Vater löste sie und ihren Mann Adolf Loos aus Gasthäusern aus, bezahlte die Rechnungen des Ehepaars; Lina Loos soll später dann die Sorglosigkeit ihres Ehemanns in finanziellen Belangen als einen Grund des Scheiterns ihrer Beziehung nennen.

 

 

Lina Loos:

Du silberne Dame Du.

Briefe von und an Lina Loos.

Neu herausgegeben von Adolf Opel.

Wien: Edition Atelier 2016.

Vergib und heile

Gäbe es den Prolog dieses Buches nicht, wäre es vermutlich schwierig, die Grund- und Kernbotschaft von Eva Mozes Kor zu verstehen: Wie kann eine Frau den Verbrechern von Auschwitz, den NS-Schergen, vergeben? Wie kann sie es zulassen, 2015 von Oskar Gröning, einem ehemaligen SS-Mann, der zwei Jahre bei den Verbrechen in Auschwitz dabei war, die Hand zur Versöhnung zu reichen?

Im Prolog erzählt die Autorin von ihrer Reise zum ehemaligen NS-Arzt Dr. Hans Münch. Sie hält Small-Talk mit einem Auschwitz-Arzt, der Tausende Menschen in den Tod schickte, sterben sah. Damals in Auschwitz waren Eva und Miriam in den Fängen des Lagerarztes Mengeles gewesen, der auch an ihnen seine Zwillings-Experimente durchführte. „Haben Sie in Auschwitz in die Gaskammern gesehen?“, so die Frage der Besucherin aus den USA an den Münch.

So beginnt die Geschichte und endet die Spur des Hasses in Mozes Kor. Damals, in Portz, dem 100-Seelen-Dorf in Siebenbürgen, waren sie die einzige jüdische Familie. Dass nicht Hitler nach Portz kam, sondern die ungarische Polizei und sie abholte, damit hatten auch die Eltern nicht gerechnet: Als 10-Jährige kamen Miriam und Eva mit ihrer Familie nach Auschwitz, als Zwillinge werden sie von der Familie getrennt – sie werden sie nie mehr lebend sehen!

Ich beschloss, mich Auschwitz zu stellen. Und ich scheiterte sogleich daran. Wie das Unfassbare fassen, wie das Unsagbare sagen? Und außerdem: Was wusste ich überhaupt? Die Leute fragen pausenlos nach Einzelheiten. Über das Lager an sich, die Gaskammern, die Art der Experimente, die Dr. Mengele durchführte. Aber ich hatte nie Details darüber erfahren. Ich war bei einer Selektion dabei und ich kannte das Mädchenlager, den Krankenbau, das Labor. Und ich hatte dort Schreckliches gesehen und erlebt. (S. 99)

Als Eva Mozes Kor ihre Vergebungserklärung – Auschwitz, 50 Jahre danach – formuliert, reift in ihr die Erkenntnis „Ich bin kein Opfer mehr“, was nicht bedeutet, nicht in Erinnerungen an die Getöteten, an die Familie, an die Situationen zu sein.

Doch ich bin nicht länger das Opfer, das in Auschwitz am Boden liegt. Ich kann alles sehen, ich kann mich an alles erinnern – und ich kann mir sogar den Schmerz in Erinnerung rufen. Aber immer dann, wenn der Schmerz mir zu nahe tritt, dann bin ich mittlerweile in der Lage, mich selbst davon zu entfernen, denn ich mag das Gefühl des Leidens nicht sonderlich. (S. 126)

 


Was Sie versäumen, wenn Sie das Buch nicht lesen: Geschichtswissen, den Bericht einer Zeitzeugin, die Idee, Verfügungsgewalt über das eigene Leben zu haben, Auseinandersetzung mit Hass und Schuld, eine besondere Art der Biografie.

 

Die Autorin Eva Mozes Kor wurde 1934 in Portz, Siebenbürgen, geboren; Nach der Befreiung aus Auschwitz zog sie zuerst nach Israel, später nach Terre Haute, Indiana, wo sie bis heute lebt und das CANDLES Holocaust Museum und Education Center leitet. Sie hält Vorträge, reist einmal pro Jahr nach Europa, wo sie in Auschwitz Führungen macht, von ihrer Zeit in diesem KZ, von den Zwillingsexperimenten Mengeles, berichtet.

 

Guido Eckert verfasst Bücher, Hörspiele und Drehbücher, erfolgreich und mit Stipendien und Preisen ausgezeichnet.

 

 

Eva Mozes Kor und Guido Eckert:

Die Macht des Vergebens.

Benvenuto Publishing 2016.

235 Seiten.

Und alles wird gut

Mit dem ersten Band der Trilogie „Totenfrau“ hat er das Fundament der Folgebände gelegt, ein gutes und sicheres Fundament: Da ist eine, die rächt ihren ermordeten Mann. Die geht den Schweinen an den Kragen, die immer davon kommen und für die alle Schandtaten immer gut ausgingen, für die einfach immer alles supergut endete. Dem setzt Blum, die Bestatterin aus Innsbruck, ein Ende: Sie killt die Mörder und zerteilt deren Leichen, niemand hätte etwas bemerkt, Blum versteht ihr Handwerk.

Aus Blum, der Liebenden, der Glücklichen mit Mann, zwei kleinen Mädchen und einem aufmerksamen Schwiegervater wird Blum die Killerin am Ende von Band eins und Blum die Flüchtende, die Verzweifelte in Band zwei. Jetzt in Band drei „Totenrausch“ ist Blum beinahe angekommen, in einem neuen Leben in Hamburg, mit Wäsche auf der Leine, guten Kindergartenplätzen und einer Stelle bei einem Bestatter, schwarz, versteht sich.

Doch da ist der, der ihr geholfen hat und der jetzt seinen Lohn dafür fordert. Drei neue Pässe, ein sicheres Leben, drei neue Identitäten gegen einige Morde, nur wenige. Blum widersetzt sich lange, überlegt eine List, ist Täterin und Opfer zugleich und stellt sich und uns die wichtige Frage: Wer entscheidet, wer leben darf oder sterben muss. Gibt es einen gerechtfertigten Mord? Was gilt Rache? Wann hat ihr, Blums, Töten sein Ende, wie funktioniert Vergebung?

Blum und ihre beiden Töchter vermissen den Schwieger- bzw. Großvater: Blum erfährt bei einer Recherche von dessen Tod. Wie geht es Reza, ihrem Vertrauten, schließlich Geliebten, der ihr half, die Leichenteile in den anderen Särgen unterzubringen? Doch jetzt gibt dieser Schiele, Zuhälterkönig und Betrüger, den Takt an: Er entführt Blums Mädchen und will sie zwingen, erneut und nochmals und nochmals zu morden. Schiele, der „seine“ Mädchen grausam zerstört, sie mit Brandzeichen als sein Eigentum markiert, ausgerechnet Schiele will den Rächer spielen?

Jedes Wort, das sie gesagt hat. Jeder Satz. Es war Überwindung, Zurückhaltung, es war Hass, Lüge, Wut. Blum und Schiele im Zug. Sie musste es tun, ihn bei Laune halten, ihm das Gefühl geben, dass er die Kontrolle über die Situation hat, dass sie tatsächlich auf dem Weg zu seiner Schwester sind, er sollte nicht daran zweifeln, dass sie die Wahrheit sagt.

Drei Bände über Blum, mit Blum, die Welt und ihre Verbrechen durch Blums Augen gesehen: Das ist ein Erlebnis, das war jetzt eine längere Reise mit vielen Stationen. Da fährt sie schließlich wieder auf dem Meer, dort, wo wir Blum kennenlernten, als junge Frau, die sich an ihren Eltern rächt für deren Brutalität. Ein kleines Mädchen, das immer zur Strafe in einen Sarg gesperrt wurde, hat sich endgültig befreit, hat Peiniger beseitigt oder beseitigen lassen, hat Zuhälter und Lügner – ja, das waren alles Männer, daher kein Gendern nötig!! – bestraft: Blum segelt im Mittelmeer, der Horizont verändert sich „Alles, was passiert ist, verschwindet“.

 

Der Autor, Osttiroler des Jahrgangs 1972, Sillianer, liebt Schlipfkrapfen und hat mit 15 beschlossen, Schriftsteller zu werden, er wurde auch Fotograf und schreibt u. a. auch Hörspiele und Theaterstücke.

 

Was Sie versäumen, wenn Sie diesen Thriller nicht lesen: Den Ausgang von Blums Reise, Spannung, imponierende Charaktere, die man nicht schnell einmal so auf der Straße trifft, zügiges Erzählen, quasi auf der Überholspur des Lesens, dass das Böse manchmal das Gute ist und das dann auch siegen darf.

 

 

Bernhard Aichner:

Totenrausch.

Thriller.

München: Randome House 2017.

471 Seiten.

Der Mensch, ein wegloses Wesen

Der vorliegende Roman gehört nicht in die Systematikgruppe „Historischer Roman“, das würde nämlich nur einem Teil von ihm gerecht werden. Hier erzählt einer, damit die anderen aus seinen Erlebnissen lernen, er sitzt nicht geschützt auf einer Bühne, in einem Theater, sondern auf einem dieser Boote, die ihn und andere Flüchtlinge in die Sicherheit des Westens bringen sollen. Aber wo ist die Sicherheit? Dreht sich das Boot nicht im Kreis?

Muzafari Subhdam wird nach 20-jähriger Gefangenschaft frei gelassen; er, der ehemalige Peschmerga-Kämpfer, wird in den Plast seines Freundes und Anführers der Revolution Jakobi Snauber gebracht: Beide haben sich verändert, Snauber ist zum Zyniker geworden, die Not des kurdischen Volkes in den Krisenregionen scheinen ihn kaum mehr zu berühren. Anders agiert, fühlt und plant Muzafari, der einst Snauber rettete und dafür selbst ins Gefängnis ging, der jetzt seinen Sohn Saryasi suchen will, der an eine größere Vaterschaft als die körperliche glaubt und der daher auf dem Boot erzählt und erzählt.

Die Suche nach dem Sohn wird eine Reise in die Vergangenheit und für westliche Leserinnen und Leser ein Blick auf eine Generation, der die Väter genommen wurden: Hintergründig bietet der Autor seinem Helden gleich drei Söhne an, alle im gleichen Alter, alle Saryasi heißend und alle einst mit einem gläsernen Granatapfel in ihrer Wiege beschenkt. Ein Sohn arbeitet als Straßenverkäufer, er will Gutes, lässt sich quälen und herabwürdigen, opfert seine Selbstachtung seiner Sehnsucht, anderen zu helfen und für Gerechtigkeit zu sorgen. Drei junge Männer, ein ehemaliger Freund, alt und zynisch geworden, mehrere Generationen beschädigter Menschen: Kindersoldaten, Gefangene, Flüchtende.

Auf einem verirrten Boot, von dem keiner weiß, wo es sich gerade befindet. Meine Freunde, über dieses Meer führen zahllose Wege, jede Handbreit Wasser ist ein Weg. Trotz all unserer Orientierungslosigkeit. Wenn der Mensch seine Richtung kennt, kann er sich nicht verlieren. Ich weiß, dass Menschen so leicht in die Irre gehen. … Auf dieser Erde ist der Mensch der Meister des Verirrens. Er ist der große Wegverlierer und Irrgänger. (S. 303)

Irgendwann versteht der ehemalige Gefangene, dass jede Handbreit Boden eines verwischten Weges der Anfang eines neuen Weges sein kann. Jetzt, auf dem Boot, erzählt er seine Geschichte Nacht für Nacht, damit das Meer sie sich merkt, damit das Meer seine Geschichte nie mehr vergessen kann: „Bleibt bei mir und hört!“

 

Was Sie versäumen, wenn Sie das Buch nicht lesen: Wissen um Zusammenhänge von Flucht, Diktatur, innere Migrationen, große Poesie, gekonnte Dramatik, Rückblenden, Psychogramme von Freundschaft und Liebe und Verzweiflung.

 

Der Autor wurde 1966 in Sulaimaniy im Nordirak geboren; er geriet 1983 aufgrund seiner Beteiligung an den Studentenprotesten in Konflikt mit dem Regime Saddam Husseins. Seit Mitte der 90er-Jahre lebt und schreibt er Romane, Gedichte und Essays in Deutschland. Er gilt als der bedeutendste kurdische Schriftsteller.

Ute Cantera-Lang, 1974 in Erlangen geboren, lebt seit vielen Jahren in Österreich; mit Rawezh Salim übersetzt sie aus dem Kurdischen (Sorani).

Rawezh Salim, 1973 im kurdischen Teil des Iraks geboren, studierte in England und Österreich Translationswissenschaften; er arbeitet als Übersetzer und Dolmetscher; als Bautechniker ist er in Österreich und im arabisch- und kurdischsprachigen Raum tätig.

 

 

Ali Bachtyar:
Der letzte Granatapfel.
Roman.
Aus dem Kurdischen (Sorani) von Ute Cantera-Lang und Rewezh Salim.
Zürich: Unionsverlag 2016.
343 Seiten.

Gluschtig, stur und gscheit!

Inge Prader nahm also ihre Kamera, vielleicht mögen es auch mehrere Kameras gewesen sein, und machte sich auf, ihrer Heimat Osttirol eine Liebeserklärung zu fotografieren: Sie hat Menschen, Land- und Leidenschaften und regionale Produkte ins richtige Format gesetzt: Hier verbiegt sich niemand, hier sind Originale vor der Kamera und die sind so was von waschecht! Da wird nicht inszeniert, wohl aber gut positioniert, da darf das raue Klima und auch die Spröde bzw. Rauheit der Menschen sicht- und lesbar werden. Wunderschön auch einer der Sätze der Künstlerin Inge Prader im Vorwort:

… denn Heimat ist vor allem ein Ort des Miteinanders. Es liegt an uns.

Das Konzept dieses Bildbandes ist von gesuchter Klarheit, die Arbeit dahinter lässt sich erahnen, da muss viel bedacht, gedreht und verändert worden sein, um diesen Guss zu schaffen: Zuerst das Produkt – gleich zu Anfang „Apfel“ „Epfl“ mit dem Porträt eines Bauern, einer Bäuerin, eines Metzgers, eines Kochs, eines Kindes, mehrerer Wirtinnen – Menschen hinter Produkten halt! – dann ein Rezept mit dieser Zutat und wieder das Porträt der Köchin, des Kochs. Dazwischen beruhigende zumeist monochrome Natur, ohne Touristen, ohne Lärm, Stille, Struktur – ein Leben Ton in Ton, eine Landschaft, die viel bietet, sich aber nichts gefallen lässt. Die Rezepte variieren im Schwierigkeitsgrad, den Schmarrn von Seite 46 kriegt man hin und dem Johann Resinger, Mitteldorfer Alm, Frosnitztal, am Porträt, das dem Schmarrn-Rezept gegenüber steht, liegt, leuchtet, scheint es ja zu schmecken. Bernhard Aichner schreibt hier nicht von Blum, das würde das Buch versauen, die mordende Bestatterin findet andere Medien, hier denkt der Sillianer Autor und Fotograf, der jetzt schon lange in Innsbruck lebt, innig über Schlipfkrapfen nach. Weil ich den Bernhard Aichner sehr gern mag, entnehme ich das Zitat dieser Empfehlung dann doch völlig parteiisch und persönlich seinem Beitrag. Nichts gegen die Texte von Christine Brugger oder dem Beitrag von Helmut Krieghofer, Hans Salcher, Daniela Ingruber, Andreas Schett oder Thaddaeus Ropac: Der Aichner-Traum vom Schriftstellerwerden passt so gut in meinen Blog, das wähle ich jetzt einfach „aus purer Luscht“ – so der Text am roten Bändchen, dem Lesezeichen dieses Bilderbuchs für OsttirolerInnen und andere Menschen. Aichner schreibt mutig und ehrlich, vom nichtsnutzigen Schreiben: Aber Literatur hatte keinen Platz zwischen den Bergen.

Ich wollte mehr sehen von der Welt, ich wollte meinen Traum leben, wollte Schriftsteller werden. Ich war fünfzehn. Mit Worten wollte ich mir meine Welt erschaffen. Alles war möglich. Egal wie hoch diese Berge waren, zwischen denen ich aufgewachsen war, ich konnte plötzlich das Meer sehen. Wenn ich am Gipfel stand, konnte ich es rauschen hören. Die kleine Terrasse vor der Sillianer Hütte war mein Stand, der Himmel war Weite und der Blick in die Ferne mein Glück. Die Bilder, die sich in meinem Kopf formten. Meine Zukunft. Ich wollte Bücher schreiben.

Wem der Aichner gehört, das wird er wohl auch oft gefragt worden sein. „Griaß di, wem kheaschtn du?“ – mit diesem Gruß setzt sich Isolde Hausner in ihrem Beitrag auseinander. Ja, das ist der übliche Gruß in Osttirol – dort kheat ma am besten schon zu wem, man ist die Tochter oder der Sohn vom und dann kommt der Hof- oder Vulgoname. In der Bezirkshauptstadt Lienz reicht es, den Namen des Vaters zu nennen, die „Gitsche vom“ zu sein und dann kennt man sich auch aus – Inge Prader hat es wunderschön beschreiben:

Eine Rückkehr in die Heimat auf diesem Weg ist eine Erinnerung an Bleibendes, an Werte und Eigenschaften, die auf Nachhaltigkeit und Ausdauer setzen …

 

 

Was Sie versäumen, wenn Sie den Bildband nicht lesen: Heimat, echte Leit, Luscht, Witz, feine Ironie, Rezepte, die man gut nachkochen kann, Kennenlernen einer Region, die Rückeroberung des Heimatbegriffs, die Idee, sofort nach Osttirol zu fahren und dort gut essen zu gehen, Texte, die am Punkt sind, Fotos, die man wieder und wieder anschaut.

 

Die Fotografin Inge Prader, 1956 in Lienz geboren, lebt und arbeitet als Fotografin in Wien.

 

Die Journalistin Christine Brugger, 1962 in Deutschland (Stadt wird nicht genannt, auch recht!) geboren, lebt und arbeitet seit fünfzehn Jahren u. a. als Geschäftsführerin von Radio Osttirol und als Journalistin in Osttirol.

 

Die Grafikerin Clara Monti, 1962 geboren, studierte in Rom Grafik und ist seit vielen Jahren als Grafikerin, Illustratorin und Set-Designerin in Wien tätig. Übrigens entdeckte sie während der Arbeit am vorliegenden Buch viele Parallelen zwischen ihrer Heimat Umbrien und Osttirol.

 

 

Inge Prader:

Wie schmeckt Osttirol?

Die Menschen und die Küche einer naturbelassenen,

sagenumwobenen Grenzregion.

Texte: Christine Brugger.

Wien: Brandstätter Verlag 2016 (2. Auflage)

239 Seiten.

 

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