Was können Eltern tun, um Kinder vor sexueller Gewalt zu bewahren? Psychologin Elena Persché und Mobbingexpertin Anja Ebenschweiger geben konkrete Tipps für Alltag, Schule und Internet.
In Sachen Aufklärung und Prävention wird viel getan. Warum kommt sexueller Missbrauch immer noch so häufig vor? Jedes dritte bis vierte Mädchen und jeder siebte bis achte Bub sind betroffen, die Dunkel- ziffer soll noch höher sein.
Elena Persché: Genaue Zahlen zu sexuellem Missbrauch zu erheben, ist schwierig. In der Aufklärungsarbeit geht es auch darum, dass Kinder oder Personen, die betroffen sind, ermutigt werden, darüber zu sprechen. Wenn sich mehr trauen, über ihre Erfahrungen zu erzählen, verändert das natürlich die Zahlen. Manche schweigen jedoch lieber, weil sie die Schuld bei sich suchen oder Angst vor Konsequenzen haben. Dass sexuelle Gewalt immer noch so häufig vorkommt, liegt vor allem daran, dass es immer noch TäterInnen gibt und wir in einer Gesellschaft leben, die diese hervorbringt.
Anja Ebenschweiger: Das Dunkelfeld sexuelle Gewalt ist riesig, und ja, es wird schon viel Aufklärungs- und Präventionsarbeit geleistet, dennoch sind die Angebote überschaubar. Daher finde ich auch unseren theaterpädagogischen Ansatz so wertvoll. Wir versuchen, den Kindern das Thema in spielerischer Art und Weise nahezu- bringen, ihnen Worte zu geben und ihnen Dinge zu zeigen, die vielleicht passieren könnten oder schon passiert sind, um darauf aufmerksam zu machen: Das ist nicht in Ordnung!
Julias Gäste
Anja Ebenschweiger: Präsidentin Zentrum für Gewaltprävention (aktiv4u.at), zertifizierte Fachkraft für Kriminalprävention, Mobbingexpertin
Worum geht es bei dem theaterpädagogischen Programm „Mein Körper gehört mir!“, welches das Zentrum für Gewaltprävention österreichweit an Volksschulen anbietet?
Ebenschweiger: Unsere speziell geschulten SpielerInnen zeigen in Schulen in dem interaktiven dreiteiligen Programm, dass sie über ihren eigenen Körper selbst bestimmen und sagen dürfen, was sie mögen und was nicht. Im ersten Teil geht es um Ja- und Nein-Gefühle, also gute und schlechte Gefühle. Im zweiten Teil geht es um Fremde, um jemanden, mit dem ich mich über einen Chat im Park verabrede und der aber gar nicht der Bursch ist, als der er sich ausgegeben hat, und um einen Exhibitionisten. Sollten Kinder später einmal in eine ähnliche Situation kommen, erinnern sie sich vielleicht an diese Szene und daran, was sie tun können: weglaufen, schreien, jemandem davon erzählen. Im dritten Teil geht es um sexuellen Missbrauch in der Familie. Ziel des Stückes ist es, Kinder zum Reden zu ermutigen und Nein- Gefühle auszudrücken. Sie bekommen auch Fragen zur Hand, die sie sich in verschiedenen Situationen stellen können.
Welche Fragen sind das?
Ebenschweiger: Habe ich ein Ja- oder ein Nein- Gefühl? Weiß jemand, wo ich bin? Bekomme ich Hilfe, wenn ich sie brauche? Wenn etwa der neue Nachbar fragt: „Magst du nicht mitkommen? Ich habe auch Kinder in deinem Alter“, dann stellt sich das Kind die drei Fragen und denkt: „Ich will mitkommen, aber keiner weiß, wo ich bin, daher bekomme ich auch keine Hilfe. Was mache ich? Okay, ich erzähle es zu Hause und frage, ob ich hingehen darf, dann weiß jemand, wo ich bin.“ Vorhin bekam ich einen Anruf von einem Spieler. Er berichtete von einem Kind, das nach der Aufführung erzählte, dass es zu Hause geschlagen wird. Die Verzweiflung des Kindes war groß, weil es nicht darüber sprechen sollte.
Persché: Dieses Angst-Machen ist typisch. Auch SexualstraftäterInnen arbeiten mit so manipulativen Strategien: „Wenn du das erzählst, kommt die Polizei, dann kommst du ins Heim.“ Sie nutzen die Urängste der Kinder, um sie dazu zu bringen, Dinge geheim zu halten.
BERATUNG
Wie geht man dann weiter vor, wenn ein Kind in der Schule so etwas erzählt?
Ebenschweiger: Bei unseren Aufführungen sind die KlassenlehrerInnen immer mit dabei, dann tritt die Schule in Aktion. Sie tritt mit den Eltern in Kontakt, mit dem Gewaltschutzzentrum, dem Kinderschutzzentrum oder dem Jugendamt, und dann schaut man, was die nächsten Schritte sein können. Wichtig ist, immer die Bedürfnisse des Kindes im Auge zu behalten und weitere Schritte mit dem Kind abzustimmen. Wir sind auch gut mit Psycho- logInnen und PsychotherapeutInnen vernetzt.
Betroffene haben häufig Schuldgefühle, wie Sie eingangs erwähnt haben, und schweigen daher lieber. Warum ist das so?
Persché: Zum einen ist das ein Schutzreflex und ein Versuch, die Situation zu kontrollieren: Wenn ich mir selber die Schuld gebe, ist es leichter aushaltbar. Zum anderen ist es auch unsere Gesellschaft, die das mitbeeinflusst. Wenn ein Mädchen sexuell belästigt wurde, geht es oft auch um die Frage, was es anhatte. Egal, wie man sich anzieht: Es gibt niemandem das Recht, jemanden sexuell zu missbrauchen.
„Wenn ein Mädchen sexuell belästigt wurde, geht es oft auch um die Frage, was es anhatte. Egal, wie man sich anzieht: Es gibt niemandem das Recht, jemanden sexuell zu missbrauchen.“
Sexuelle Gewalt findet am häufigsten in der Familie statt – warum ist sie dort oft so schwierig zu erkennen?
Ebenschweiger: Es sind tatsächlich wenige FremdtäterInnen und sehr viele TäterInnen in der Familie oder zumindest im näheren Umfeld des Kindes. Traurigerweise ist das auch logisch, weil die TäterInnen nahe am Kind sind und dem Kind häufig nur gesagt wird, es soll nicht mit einem fremden Mann mitgehen. Und von Frauen wird sowieso nicht gesprochen. Wenn es sich um eine Person aus dem nahen Umfeld handelt, ist der Missbrauch für das Kind viel schwieriger zu erkennen, zumal der oder die TäterIn auch mit manipulativen Strategien arbeitet. Der Klassiker ist das schlechte Geheimnis. Aber es gibt kein Geheimnis, das man für sich behalten muss. Man darf sich immer Hilfe holen.
Buchempfehlungen zum Thema
Dagmar Geisler: Mein Körper gehört mir. Loewe Verlag, 15 Euro
Kristin Ritter, Nicole Ziese: Mein Körper, meine Grenzen. Impuls Verlag, 14,99 Euro
Wann spricht man von sexuellem Missbrauch?
Persché: Wenn ein Erwachsener oder Jugendlicher ein Kind zur Befriedigung seiner sexuellen Bedürfnisse nutzt oder über die Geschlechtsteile sein Machtbedürfnis stillt, gilt das als sexuelle Gewalt und ist strafbar. Bei betroffenen Jugend- lichen geht es oft um Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse.
Auf welche Signale sollte man bei Kindern achten?
Ebenschweiger: Kinder erzählen oft ein wenig kryptisch, zum Beispiel, dass der Fußballtrainer es angreift und etwas macht, das ihm nicht so taugt. Aufmerksam zuzuhören und behutsam nachzufragen, wäre eine gute Idee: „Was macht er denn genau?“ Erwachsene sind auch oft hilflos und überfordert, daher raten wir dazu, sich zuerst Selbsthilfe zu holen – beim Gewaltschutzzentrum, Kinderschutzzentrum oder Rat auf Draht – und dann erst dem Kind zu helfen. Das Wichtigste ist, dass das Kind merkt, dass es ernst genommen wird und darüber sprechen darf. Persché: Es gibt keine klassischen Signale bei Kindern, die auf Missbrauch hinweisen. Wichtig ist, zu wissen, dass ein Kind nichts ohne Grund macht. Wenn es sich plötzlich sehr zurückzieht, aggressives Verhalten oder körperliche Symptome wie Einnässen zeigt, dann weist das darauf hin, dass gerade etwas für das Kind nicht passt. Dann sollte man ihm besondere Aufmerksamkeit schenken und einen Raum schaffen, wo es offen darüber sprechen kann, was ihm am Herzen liegt.
Einen 100-prozentigen Schutz gibt es nicht: Wie kann man Kinder dennoch bestmöglich schützen?
Persché: Es ist wichtig, Kinder schon in jungen Jahren für ihre eigenen Gefühle zu sensibilisieren, ob sich etwas angenehm oder unangenehm anfühlt, und sie zu ermutigen, auch wirklich Nein zu sagen, wenn sich etwas unangenehm anfühlt – egal, ob zu einem anderen Kind oder einem Erwachsenen. Eltern sollten schon früh mit ihren Kindern über ihren Körper sprechen und die Geschlechtsteile benennen. Ein gutes Körpergefühl und sexuelle Bildung von Anfang an sowie eine sichere Bindung zu einer Bezugsperson erhöhen die Resilienz von Kindern. Mit diesen Voraussetzungen sind sie nicht nur besser vor Übergriffen geschützt, sondern werden auch seltener selbst zu SexualtäterInnen. Das heißt: Es ist Prävention in alle Richtungen.
Verlagert sich sexuelle Gewalt heute auch zunehmend in den virtuellen Raum? Und wie kann man vorbeugen?
Ebenschweiger: Ja. In den Volksschulen, wo wir unterwegs sind, zwar noch weniger, aber bei den Jugendlichen auf jeden Fall. Das beginnt mit dem Verschicken von Fotos. Wenn man Fotos verschickt oder etwas auf Instagram oder Tiktok stellt, sehen das viele Leute. Dieses Bewusstsein fehlt oft.
Persché: Kinder haben noch kein Bewusstsein dafür, was im Internet alles möglich ist. Deshalb ist es auch so wichtig, dass Eltern ihre Kinder bei all diesen Tätigkeiten begleiten und aufklären.
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Fotos: Alexandra Grill, privat (2)