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01/02/25

Weltflucht im Wohnzimmer

Weltflucht im Wohnzimmer
Foto: Amiga Zwift

Kennen Sie Zwift? Achtung: Es kann glücklich machen.

Am Anfang verstand ich nur Bahnhof, wenn mein Mann und mein Sohn über FTP-Werte und Watt fachsimpelten. Inzwischen habe ich gelernt, dass FTP jene Leistung bezeichnet, die man beim Radfahren während 60 Minuten konstant erbringen kann, und Watt jene Kraft ist, die jemand auf die Pedale bringt. Auslöser für die Diskussionen ist das US-Label Zwift, eine virtuelle Trainingsplattform, die wie ein Computerspiel mit Levelaufstiegen aufgebaut ist. Man braucht dafür einen „smarten“ Rollentrainer, der mit einem Bildschirm verbunden ist, und ein Abo, das im Monat ungefähr so viel kostet wie ein Netflix-Abo. Ich bin nicht besonders technikaffin, mag Fahrtwind und frische Luft und konnte anfangs über das schweißtreibende Kurbeln meiner beiden Männer nur den Kopf schütteln.

Nun ist es aber draußen rutschig, kalt und dunkel, und irgendwann saß auch ich im Fahrradsattel. Der Sohn stattete meinen Avatar mit einem blonden Zopf („Dann kriegst du mehr Daumen hoch“), einem blauschwarzen Trikot, dazupassenden Socken, Schuhen, Helm und Radbrille aus. Nun radle ich also durch die Avenues von Paris, durch den herbstlichen Central Park in New York, über die Fantasieinsel Watopia oder nehme an einem Rennen mit StarterInnen aus der ganzen Welt teil. Entlang der virtuellen Rennstrecke winken mir Menschen zu, ich spule meine Spotify-Playlist ab. Am Ziel angekommen bin ich schweißgebadet, glücklich erschöpft – und die (reale) Welt ist weit weg. Die Tochter findet das alles „strange“. Und ich muss sagen: Sie hat recht. Aber ist das Leben nicht ohnehin oft ein wenig seltsam?

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  • Veröffentlicht: 20.01.2025
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