Der Fall eines belgischen Medizinstudenten, der eine junge Frau vergewaltigt hat und unter anderem aufgrund seiner Begabung letztlich nicht zu einer Haftstrafe verurteilt wurde, hat Empörung ausgelöst. Wie die Juristin und Strafrechtsexpertin Simone Marxer den Fall einschätzt.
Frau Marxer, wie haben Sie als Expertin und als Frau auf das Urteil im Fall des belgischen Medizinstudenten reagiert, der lediglich zu einer Geldstrafe von 3.500 Euro verurteilt wurde? Was halten Sie insbesondere von der Begründung der RichterInnen, man wolle einem begabten jungen Mann nicht die Zukunft verbauen?
Ich habe einige Zeitungsartikel gelesen und mich über das Urteil aus rechtlicher und persönlicher Sicht sehr gewundert. In den zehn Jahren, in denen ich nun im Bereich des Strafrechts tätig bin, habe ich zahlreiche Gerichtsverfahren – darunter einige Vergewaltigungsvorwürfe – miterlebt und viele Erfahrungen zur richterlichen Strafbemessung gesammelt. Nach der österreichischen Strafprozessordnung ist der bisher ordentliche Lebenswandel beziehungsweise der Mangel an Vorstrafen ein Milderungsgrund. Das hat der belgische Richter in seinem Urteil korrekt mildernd berücksichtigt. Allerdings existiert hierzulande kein Milderungsgrund, der die Begabung und/oder das Ansehen eines Verurteilten zusätzlich berücksichtigen würde. Das sind Faktoren, die vom ordentlichen Lebenswandel umfasst sind und daher meiner Einschätzung nach zu Unrecht doppelt mildernd gewertet wurden. Zudem ist das junge Alter, das vom belgischen Richter angeführt wurde, nach dem österreichischen Strafgesetzbuch nur dann ein solcher Grund, wenn die Tat vor Vollendung des 21. Lebensjahres begangen wurde. Der Täter war 24. Auch das wurde meines Erachtens unzutreffend mildernd gewertet.

„Meines Erachtens wäre jedenfalls eine empfindlichere Strafe zu verhängen gewesen.“
Und als Frau finde ich vor allem den Umstand, dass es sich beim Täter um einen Gynäkologie-Studenten handelt, besorgniserregend. Wenn dieser wohlhabend ist, wird die verhängte Geldstrafe auf ihn wohl keine ausreichend abschreckende Wirkung entfalten. Ich sehe hier die Gefahr einer erneuten Begehung im Rahmen seiner künftigen Berufstätigkeit als Gynäkologe. Als solcher könnte er seine berufliche Stellung ausnutzen und leichter an Opfer gelangen. Dieser Gefahr könnte meiner Ansicht nach nur durch die Verhängung einer Freiheitsstrafe effektiv vorgebeugt werden. Daher wäre meines Erachtens jedenfalls eine empfindlichere Strafe zu verhängen gewesen.
Kann so ein Urteilsspruch auch in Österreich ergehen?
Bei einer Verurteilung eines erwachsenen Täters wegen Vergewaltigung nach § 201 StGB (Strafgesetzbuch) ist in Österreich keine alternative Geldstrafe, sondern nur die Verhängung von Freiheitsstrafen vorgesehen. Es existiert zwar eine Bestimmung, die in manchen Fällen – auch wenn dies in der Strafbestimmung nicht explizit vorgesehen ist – die Verhängung einer Geld- anstelle einer Freiheitsstrafe zulässt. Aufgrund der Mindeststrafdrohung von zwei Jahren ist diese Bestimmung bei Vergewaltigungen jedoch nicht anwendbar.
„Selbst wenn der Täter das Opfer in einem wehrlosen Zustand vergewaltigt und dieses keinen Widerstand angewendet hat, sollte dies mit einer Freiheitsstrafe geahndet werden.“
Zu berücksichtigen ist aber, dass das Opfer laut den Berichterstattungen im konkreten Fall stark alkoholisiert war und die Vergewaltigung unter Ausnutzung dieses schwachen Zustands begangen wurde. Bei einer starken Alkoholisierung, die zur Wehr- und Willenlosigkeit des Opfers führt, kann in Österreich anstelle einer Vergewaltigung nach § 201 StGB der mit einer geringeren Strafe bedrohte Tatbestand des sexuellen Missbrauchs einer wehrlosen Person gemäß § 205 StGB erfüllt sein. Dies ist dann der Fall, wenn der Täter diesen Zustand des Opfers nicht selbst herbeigeführt hat, ihn aber bewusst ausnützt, um mit dem Opfer Geschlechtsverkehr zu haben. Die Strafdrohung beträgt, sofern kein erschwerender Umstand wie eine schwere Körperverletzung hinzukommt, ein bis zehn Jahre. Im Falle einer Verurteilung könnte dann gemäß § 37 StGB eine Geld- anstelle einer Freiheitsstrafe verhängt werden. Voraussetzungen sind, dass die konkret zu verhängende Freiheitsstrafe nicht mehr als ein Jahr beträgt und keine präventiven Gründe gegen die Verhängung einer Geldstrafe sprechen. Zusammengefasst wäre daher bei Annahme des Tatbestands des § 205 StGB ohne Vorliegen erschwerender Umstände auch in Österreich die Verhängung einer Geldstrafe möglich. Ich fände allerdings die Verhängung einer bloßen Geldstrafe in einem solchen Fall verfehlt. Meines Erachtens entfaltet eine solche, ebenso wie im belgischen Anlassfall, keine ausreichend abschreckende Wirkung. Selbst wenn der Täter das Opfer in einem wehrlosen Zustand vergewaltigt und dieses keinen Widerstand angewendet hat, sollte dies mit einer Freiheitsstrafe geahndet werden.
„In den letzten Jahren wurden die Strafbestimmungen betreffend sexuelle Gewalt in Österreich verschärft. Das halte ich für eine sehr positive Entwicklung.“
In Belgien hat die Staatsanwaltschaft Berufung gegen das Urteil eingereicht. Mit welchen Rechtsmitteln könnte man in Österreich reagieren?
Auch in Österreich hat die Staatsanwaltschaft die Möglichkeit, gegen ein Urteil Strafberufung zu erheben. Davon macht sie dann Gebrauch, wenn aus ihrer Sicht eine zu geringe Strafe verhängt wurde. Über diese Strafberufung entscheidet das zuständige Berufungsgericht, gegen dessen Urteil kein weiteres Rechtsmittel möglich ist. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit der Erhebung einer sogenannten Nichtigkeitsbeschwerde, mit der die Staatsanwaltschaft Verfahrensfehler oder Rechtsfehler im Urteil geltend machen kann. Ein Beispiel hierfür wäre die fehlende Würdigung der Aussage eines Zeugen im Urteil, sofern diese Aussage für die Beurteilung der Schuld und Strafe relevant ist. Dieses Rechtsmittel würde die Staatsanwaltschaft insbesondere dann ergreifen, wenn es zu einem aus ihrer Sicht ungerechtfertigten Freispruch gekommen wäre. Auch das Opfer hat, sofern es sich dem Verfahren als Privatbeteiligter angeschlossen hat, um Schadenersatz geltend zu machen, eine Rechtsmittelmöglichkeit. Diese besteht im Falle einer Verurteilung des Täters im Schöffenverfahren wegen einer Vergewaltigung allerdings nur dann, wenn das Opfer vom Strafgericht gar keinen Schadenersatz zugesprochen erhalten hat. Das bedeutet, dass das Opfer weder ein Rechtsmittel gegen die Höhe der Strafe noch gegen die Höhe des zugesprochenen Schadenersatzes hat.
Wenn Sie die Rechtsprechung in puncto (sexueller) Gewalt an Frauen in Österreich betrachten, wie schätzen Sie die Situation ein? Gibt es viel Verbesserungsbedarf, würden Sie sich strengere Regelungen wünschen?
In den letzten Jahren wurden die Strafbestimmungen betreffend sexuelle Gewalt in Österreich verschärft. Das halte ich für eine sehr positive Entwicklung. Insbesondere wurden durch das Sexualstrafrechtsänderungsgesetz 2013 die Strafuntergrenze bei Vergewaltigungen angehoben und die Strafdrohungen für geschlechtliche Nötigungen und sexuellen Missbrauch von wehrlosen oder psychisch beeinträchtigten Personen verschärft. Eine weitere gute Entwicklung ist die durch das Gewaltschutzgesetz 2019 erfolgte Aufhebung der Privilegierung junger Erwachsener (zwischen 18 und 21 Jahren) bei schweren Sexualdelikten. Das sind jene Delikte, die mit mindestens fünf Jahren Freiheitsstrafe bedroht sind. Während für junge Erwachsene ansonsten im Strafrecht geringere Strafdrohungen bestehen, existieren diese Privilegierungen für schwere Sexualdelikte nun nicht mehr. Durch das Gewaltschutzgesetz 2019 wurde auch die Möglichkeit der Verhängung einer gänzlich bedingten Freiheitsstrafe bei Vergewaltigungen nach § 201 StGB abgeschafft – das heißt einer Freiheitsstrafe, die vom Täter bei Wohlverhalten in der festgesetzten Probezeit nicht verbüßt werden muss. Durch diese gesetzlichen Änderungen hat sich auch die Rechtsprechung verschärft. Allerdings werden bei weniger schwerwiegenden Sexualstraftaten als Vergewaltigungen, beispielsweise sexuellen Nötigungen, immer noch gänzlich bedingte Strafen, insbesondere gegenüber Ersttätern, verhängt. Hier würde ich mir eine strengere Rechtsprechung wünschen, damit Täter stärker abgeschreckt werden und künftigen Tatbegehungen besser vorgebeugt werden kann. Darüber hinaus würde ich mir auch eine konsequentere Verhängung von Aufenthalts- und Einreiseverboten gegenüber zu Vergewaltigungen verurteilten Tätern wünschen. Laut Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts stellt eine Verurteilung wegen Vergewaltigung eine gravierende Straffälligkeit dar, die dem Grunde nach selbst gegenüber einem im Bundesgebiet von klein auf aufgewachsenen und langjährig rechtmäßig niedergelassenen Fremden die Rechtmäßigkeit einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme rechtfertigen kann.
Anmerkung der Redaktion: Der belgische Medizinstudent wurde nach der Verurteilung von der Universität und der Uniklinik Leuven suspendiert.
Das Gesetz im Detail
- Eine Vergewaltigung ist gemäß § 201 StGB mit einer Freiheitsstrafe von zwei bis zehn Jahren bedroht. Kernelement einer Vergewaltigung ist üblicherweise die Anwendung von Gewalt, also von physischem Zwang gegen das Opfer, um dieses zum Geschlechtsverkehr oder einer sogenannten gleichzusetzenden geschlechtlichen Handlung zu nötigen. Unter gleichzusetzenden geschlechtlichen Handlungen sind Oral- und Analverkehr und alle geschlechtlichen Handlungen mit Penetration, zum Beispiel durch Finger oder Gegenstände, zu verstehen.
- Eine Vergewaltigung liegt darüber hinaus auch vor, wenn der Täter zwar keine Gewalt anwendet, das Opfer jedoch durch Freiheitsentziehung oder Drohung mit Gewalt zur Vornahme oder Duldung des Geschlechtsverkehrs oder einer gleichzusetzenden geschlechtlichen Handlung nötigt.
- Das Strafausmaß für Vergewaltigungen ist höher, wenn erschwerende Umstände hinzukommen, etwa eine schwere Körperverletzung oder eine Schwangerschaft des Opfers, besondere Qualen bei der Tat oder eine besondere Erniedrigung (in diesen drei Fällen fünf bis zu 15 Jahre) oder sogar der Tod des Opfers (in diesem Fall zehn bis 20 Jahre oder lebenslange Freiheitsstrafe).
- Seit dem Gewaltschutzgesetz 2019 kann im Falle einer Vergewaltigung keine gänzlich bedingte Freiheitsstrafe mehr verhängt werden. Das bedeutet, dass der Täter im Falle einer rechtskräftigen Verurteilung jedenfalls einen Teil der Strafe in Haft zu verbüßen hat.
- Bei der Vergewaltigung einer wehrlosen Person muss auch der mit geringerer Strafe bedrohte Tatbestand des § 205 StGB (ein bis zehn Jahre) erfüllt sein. Wehrlosigkeit besteht beispielsweise bei einer starken Beeinträchtigung durch Alkohol oder Suchtmittel. Die Tatbegehung nach § 205 StGB unterscheidet sich von einer Vergewaltigung nach § 201 StGB dadurch, dass der Täter keinen Widerstand und keine Drohung anwendet, sondern den wehrlosen Zustand des Opfers ausnutzt. Wichtig ist, dass dies nur gilt, wenn der Täter die Wehrlosigkeit des Opfers nicht selbst herbeigeführt hat. Ist der Täter für die Beeinträchtigung des Opfers selbst verantwortlich, zum Beispiel durch Verabreichung von KO-Tropfen, so ist der gravierendere Tatbestand der Vergewaltigung nach § 201 StGB erfüllt.
- Auch eine Tatbegehung nach § 205 StGB ist mit höherer Strafe bedroht, wenn erschwerende Folgen wie eine schwere Körperverletzung oder Schwangerschaft des Opfers, besondere Qualen bei der Tat, eine besondere Erniedrigung (in diesen Fällen jeweils fünf bis 15 Jahre) oder der Tod des Opfers (zehn bis 20 Jahre oder lebenslange Freiheitsstrafe) hinzukommen.
- Folgende Milderungsgründe nach dem Strafgesetzbuch können bei Vergewaltigungen (nach § 201 oder § 205 StGB) eine Rolle spielen:
– Tatbegehung nach Vollendung des 18., jedoch vor Vollendung des 21. Lebensjahres (vor dem 18. Lebensjahr gelten die milderen Regelungen des Jugendgerichtsgesetzes)
– bisher ordentlicher Lebenswandel (keine Vorstrafen)
– Ablegung eines reumütigen Geständnisses - Es existieren noch weitere Milderungsgründe, die allerdings konkret bei Vergewaltigungen meist nicht relevant sind, sondern bei anderen Delikten eine Rolle spielen, etwa eine erfolgte Schadensgutmachung.