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04-05/24

So wahr wie ich bin

So wahr wie ich bin

Auf Mädchen warten unzählige Möglichkeiten. Und Herausforderungen, die ihre Mütter sich nicht haben träumen lassen. Wie Eltern die Selbstwahrnehmung von Töchtern stärken.

Quer über den Innenhof eines dreistöckigen Mietshauses in Wien-Neubau geht es in die Erdgeschoßwohnung, das gemütliche Heim von Gertraud Steurer und ihren beiden Töchtern. Die 48-Jährige ist Integrationslehrerin für Volksschulkinder, die Trennung vom Vater ihrer Töchter liegt 15 Jahre zurück. „Ich habe mich damals im Haus mit einigen alleinerziehenden Frauen angefreundet, sodass die Mädchen immer jemanden zum Reden und Spielen hatten“, erzählt die gebürtige Vorarlbergerin.
In der Wohnküche duftet es nach Spaghetti Carbonara, von der heute 18-jährigen Laura Steurer liebevoll zubereitet. Neben ihr auf der Couch genießt ihre 25-jährige Schwester Lea gerade eine Portion Nudeln. Die vierte „Frau“ im Bunde streift um ihre Beine: die Hauskatze Kamikaze. Während Laura leidenschaftlich gern kocht, ist Leas Kraftquelle der Kampfsport. Seit ihrem zwölften Lebensjahr geht sie zum Boxen, Kickboxen und Taekwondo. „Es macht mir bis heute großen Spaß“, schwärmt die Lehramtsstudentin und betont, dass die Eltern ihre Interessen immer gefördert hätten.

DIE INTERESSEN FÖRDERN
„Was will ich? Was tut mir gut? Wie möchte ich mich kreativ ausdrücken?“ Wenn Heranwachsende sich ausprobieren können, finden sie viel über sich selbst heraus. „Der Grundstein für eine positive Selbstwahrnehmung wird innerhalb der ersten Lebensjahre in der Familie gelegt“, erklärt Christine Bischof, die in Wien als Familienberaterin arbeitet und sich vorwiegend an den Prinzipien des dänischen Familientherapeuten Jesper Juul orientiert.
„Wie nehme ich mich wahr? Darf ich Fehler machen und scheitern? Fängt mich jemand auf?“ Dieser elterliche Rückhalt war bei Laura und Lea von klein auf gegeben. Ebenso die Möglichkeit, offen über alles zu sprechen.

OFFENE GESPRÄCHE FÜHREN
„Der Austausch und die Gespräche mit den Mädchen sind mir sehr wichtig“, betont Gertraud Steurer. Laura war immer schon kommunikativ, Lea hingegen sehr verschlossen, wie sie sagt: „Ich bin erst nach und nach aufgetaut.“ In Eltern, die ehrlich mit sich selbst und ihren Kindern sind und Verantwortung für ihre Fehler übernehmen, finden Kinder ermutigende Vorbilder. Was heranwachsende Mädchen noch stärkt: Eltern, die ihre Werte kennen und dazu stehen – egal, ob sie sich für den Umweltschutz engagieren, regelmäßig bergwandern oder mit Begeisterung musizieren. Wenn Töchter in der Pubertät gegen die elterlichen Werte aufbegehren, gewinnen diese eine neue Bedeutung. Bleiben die Eltern sich selbst treu, trotz der jugendlichen Rebellion, sind sie wie Leuchttürme, die regelmäßig signalisieren: „So denke ich. Das sind meine Ansichten.“ Daran können die Jugendlichen sich orientieren und überprüfen: „Was will ich? Was sind meine Werte?“

KONFLIKTEN STANDHALTEN
In konflikthaften Zeiten sollten Eltern Sparringspartner sein, die „maximalen Widerstand leisten und dabei minimalen Schaden anrichten“, veranschaulicht Familienberaterin Bischof. Gertraud Steurer hat mit ihren Töchtern herausfordernde Zeiten durchlebt. Nachdem Lea sich in der Pubertät zwei Jahre lang quasi in ihr Zimmer eingesperrt hatte, wusste sie: Ein Hobby musste her! „Wir haben viel gestritten. Aber ich habe nicht aufgegeben und sie von einem Kurs zum anderen geschleppt, bis wir Taekwondo gefunden haben“, erzählt Steurer. Mit Laura gebe es wiederum Reibereien, wenn sie wieder einmal einen familiären „Pflichttermin“ sausen lassen will. So anstrengend Konflikte sein mögen, sie haben ihren Sinn: Sie ermöglichen es den Mädchen, sich abzugrenzen, ihr Eigenes zu entdecken und sich zu autonomen Frauen zu entwickeln.
Wenn Eltern sich aufgrund ständig eskalierender Konflikte nicht mehr zu helfen wissen, sollten sie professionelle Hilfe suchen. Denn auch die Selbstfürsorge dürfe nicht zu kurz kommen. „Ich habe immer darauf geachtet, dass es mir gut geht und ich als Mama fit bin“, erzählt Steurer. „Um mich in einem geschützten Rahmen aussprechen zu können, bin ich auch in Therapie gegangen.“

FÜR SICH SELBST SORGEN
Die Bedeutung von Selbstfürsorge und Ruhephasen sollte man auch dem Nachwuchs nahebringen. „Nur in der Ruhe können wir spüren, was wir brauchen, unser kreatives Potenzial entdecken und zum Ausdruck bringen“, betont Bischof. Allerdings wird das Zu-sich-Kommen heute von bislang nie dagewesenen Ablenkungen sabotiert. Die Omnipräsenz der neuen Medien verunsichere viele Erwachsene, beobachtet Steurer, die sich große Sorgen wegen Lauras Handykonsum machte. „Ich gebe mein Handy nur ungern aus der Hand“, gibt Laura zu. Lea wiederum verschafft sich mit Tricks „Offlinezeiten“: Sie lässt das Handy am anderen Ende der Wohnung liegen oder geht zum Lernen in die Universitätsbibliothek, wo sie es wegsperren muss.

Der Grundstein für eine positive Selbstwahrnehmung wird in den ersten Lebensjahren gelegt.

Familientherapeutin Christine Bischof

SICH IM VERTRAUEN ÜBEN
Ob es um den Handykonsum oder schulische Leistungen geht: Heranwachsende brauchen vor allem das Vertrauen ihrer Eltern. „Eltern dürfen darauf vertrauen, dass ihre Kinder es so gut machen, wie sie können“, weiß Bischof. Wenn Kinder ständig ermahnt oder korrigiert werden, sind sie irritiert und verunsichert – sie wollen schließlich auch, dass ihre Eltern zufrieden mit ihnen sind.
Können Mädchen sicher sein, dass die Eltern ihnen vertrauen, sind sie frei, sich auf sich selbst zu konzentrieren. Das elterliche Vertrauen habe ihr den Rücken gestärkt, erzählt Lea. „Dadurch konnte ich herausfinden, was mich glücklich macht.“ Trotz allem sei die Pubertät eine große Herausforderung gewesen. „Als ich mit 13 die Monatsblutung bekam, fand ich das schrecklich.“ Auch habe sie sich eine Zeitlang nicht dünn genug gefühlt. „Heute ist mein Körpergefühl besser denn je. Und das, obwohl ich etwas mehr wiege als in der Pubertät.“ Lea führt dies darauf zurück, dass sich mit zunehmender Reife ihre Werte verändert hätten. „Und der Sport hat mir geholfen, meinen Körper als Instrument zu erfahren anstatt als Ornament.“ Laura war hingegen immer sehr dünn. „Als meine Freundinnen Brüste und Kurven bekamen, habe ich mich sehr unweiblich gefühlt“, erzählt sie.
Wieder ist es der Dialog mit den Eltern, der Mädchen durch Zeiten der Unsicherheit helfen kann. Für die Erwachsenen ist es manchmal das Schwierigste, auszuhalten, dass es der Tochter nicht gut geht. „Das Beste, was Eltern tun können, ist, für das Kind da zu sein und zu versuchen, es zu verstehen: ‚Was denkst du darüber‚ wie siehst du dich?‘“, rät Bischof. Es stärkt Mädchen, zu erleben, dass ihre Eltern ihnen zutrauen, eine Krise zu meistern. Im Optimalfall trägt die bewältigte Krise mit dazu bei, dass die Mädchen sich zu stabilen, verantwortungsvollen Frauen entwickeln, die wissen, wer sie sind.

GRENZEN SETZEN UND RESPEKTIEREN
Von klein auf sollten Mädchen dazu ermutigt werden, auf sich zu hören und ihre eigenen Entscheidungen zu treffen: „Will ich das? Kann ich Nein sagen?“ Ein starkes Selbstwertgefühl ermöglicht es, uneingeschränkt Ja zu sich zu sagen und abzulehnen, was sich falsch anfühlt. „Mädchen sollten wissen, dass so gut wie jede eigene Handlung besser ist, als jemandes Opfer zu sein“, ergänzt Bischof. Den gesunden Umgang mit Grenzen erlernen die Mädchen ebenfalls in der Familie: Von Eltern, die die Grenzen der Kinder respektieren und ihre eigenen Grenzen kennen und wertschätzend setzen. Eltern dürfen zeigen, wenn sie verärgert oder zu müde sind, um bei den Hausaufgaben zu helfen. Nur so lernen Kinder Empathie und erfahren, dass Erwachsensein nicht bedeutet, sich für andere aufzuopfern.

EHRLICHE RÜCKMELDUNGEN
Eine gesunde Selbstwahrnehmung ist vor allem realistisch und basiert auf einem ehrlichen Dialog. „Eltern meinen oft, sie müssten ihr Kind ständig und für Selbstverständliches loben“, beobachtet Bischof. Doch: Die Mädchen können sich nicht richtig einschätzen, wenn ihnen vermittelt wird: „Alles, was du machst, ist großartig!“ „Bei Kritik stürzt dann das großartige Selbstbild in sich zusammen“, sagt die Familienberaterin. Oft fehlt es den Mädchen an Wehrhaftigkeit und auch an den Werkzeugen, mit einer Kränkung umzugehen. „Dabei genügt es oft, sich umzudrehen und zu gehen, wenn einem jemand blöd kommt.“

WERTSCHÄTZUNG AUSDRÜCKEN
Andererseits sind Mädchen heute selbstbestimmter denn je. Manche Eltern fragen sich, was sie ihrer Teenager-Tochter überhaupt noch zu geben hätten. Das Beste ist auch hier Ehrlichkeit: „Ich war in deinem Alter sehr unsicher und bewundere, dass du so selbstbewusst bist.“
Kindern tut es enorm gut, wenn sie merken, dass Erwachsene von ihnen lernen. Erziehung dürfe keine Einbahnstraße sein, betont Christine Bischof. „Kinder wollen sich für ihre Eltern wertvoll fühlen.“ An ihren Töchtern bewundert Gertraud Steurer einiges. Etwa, wie entspannt diese ihr Singledasein sehen. „Früher wurde durch die Medien suggeriert, dass eine Frau nur mit einem männlichen Pendant perfekt ist. Das ist heute anders“, erklärt Lea. Eine gute Beziehung mit sich selbst und Freundschaften seien genauso wertvoll. „Ich bin gut, so wie ich bin“, sagt sie im Brustton der Überzeugung.
Laura hat inzwischen den Tisch abgeräumt und macht sich zum Weggehen fertig. Und Lea zieht sich in ihr Zimmer zurück, um Sachen auszumustern – in Kürze bezieht sie die erste eigene Wohnung.

Innere Freiheit schützt vor Süchten

In der Pubertät befreien sich die Heranwachsenden zunehmend aus der Abhängigkeit von den Eltern. Vor der Gefahr, in dieser sensiblen Phase in eine Sucht zu schlittern – ob nach Alkohol, Essen oder dem Smartphone –, schützt ein gesundes Selbstwertgefühl.

Pubertierende sind mit vielen verschiedenen Veränderungen konfrontiert. Auch das Gehirn befinde sich im Umbruch, informiert der Facharzt für Psychiatrie Kurosch Yazdi. Er leitet die Abteilung für Psychiatrie mit Schwerpunkt „Suchtmedizin“ am Kepler Universitätsklinikum in Linz. „Während das vernünftige Denken und die Kontrolle der Affekte noch nicht ganz ausgereift sind, ist das Belohnungssystem in der Pubertät hochaktiv“, erklärt Yazdi. Das bedeutet: Man entscheidet sich eher dafür, was kurzfristig belohnend ist, nicht dafür, was langfristig Sinn macht. Auch die Gefahr von impulsiven und kurzsichtigen Aktionen steigt. Hinzu kommt, dass sich die Identität in der Jugendzeit erst ausbildet. „Die gesunde Lösung wäre sicherlich, sich nun eine stabile eigene Identität aufzubauen“, betont Yazdi. Das Problem: „Teenager befreien sich zwar zunehmend aus der Abhängigkeit der Eltern, sind aber noch nicht reif genug, um wirklich unabhängig zu sein.“ Die Gefahr sei groß, dass Pubertierende die Abhängigkeit von den Eltern durch eine andere ersetzen und zum Beispiel ein Suchtverhalten entwickeln. Wovon Jugendliche abhängig werden, hängt stark von ihrer Peergroup, der sozialen Gruppe Gleichaltriger, ab.

Prinzipiell gilt ein gesundes Selbstwertgefühl als bester Schutz vor Abhängigkeiten und Süchten. Dieses basiert auf sicheren Bindungen in der Kindheit – das heißt: Kinder fühlen sich willkommen, so wie sie sind. „Abgesehen davon wissen wir aus der Gesundheitsforschung, dass geschlechtsbezogene Prävention Sinn macht, um Süchten vorzubeugen“, betont Universitätsprofessorin Karin Gutiérrez-Lobos, Fachärztin für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin in Wien. „Anscheinend verfügen Frauen bei allen stoffgebundenen Süchten, von Alkohol bis zu Medikamenten, über mehr individuelle und soziale Schutzfaktoren als Männer.“ Lediglich in puncto Essstörungen stünden sie unter deutlich größerem Druck von außen, sei es durch Freundinnen und insbesondere durch Medien.

Ein Problem ist heute vor allem die „Onlinesucht“ – mit vielfältigen Auswirkungen. „Viele Studien zeigen: Je mehr Facebook-Freunde Jugendliche haben, umso weniger Freunde treffen sie im echten Leben“, berichtet Psychiater Yazdi. Auch sei eine Werteverschiebung bei Freundschaften zu beobachten: weg von der Qualität hin zur Quantität. Dem Suchtexperten Yazdi erzählen onlinesüchtige Jugendliche, warum sie kaum Zeit in „analoge Treffen“ investierten: „In der Zeit, in der ich mit zwei Freunden ins Kino gehe, kann ich mich mit 500 auf WhatsApp austauschen.“ Die Onlinesucht kann sogar das Selbstbild verändern. „Immer mehr Jugendlichen ist ihre virtuelle Identität wichtiger als die reale“, beobachtet der Arzt. Es ist ihnen egal, ob sie in der Schule Außenseiter sind, solange sie in den sozialen Netzwerken online beliebt sind. Ein möglicher Grund? „Dank der virtuellen Ich-Bilder, die man aufbaut, kann man online viel leichter mithalten als in einem realen Freundeskreis“, erklärt Yazdi. Fatal sei daran, dass niemand aus einer virtuellen Peergroup da sei, wenn es einem wirklich schlecht gehe.

Statt Jugendliche bezüglich ihres Verhaltens zu belehren, sollten Erwachsene sie eher in ihrer Selbstwahrnehmung unterstützen. Letztlich braucht es die Einsicht der Jugendlichen: „Die von mir gesteckten Ziele werden umso unrealistischer, je mehr ich online bin.“ Einen gesunden Umgang mit den neuen Medien erlernen Kinder vorrangig durch das elterliche Vorbild. Auch sollte die Medienkompentenz gefördert werden: Persönliche Informationen und Bilder verbreiten sich im Netz blitzschnell, und es lässt sich nicht mehr kontrollieren, wer Zugriff darauf hat. Psychiater Yazdi ergänzt: „An den Gebrauch eines Handys sollen Eltern Bedingungen knüpfen, etwa: nicht während des Essens oder nicht, wenn deshalb die schulische Leistung nachlässt oder das Kind ein Hobby oder den Sport aufgibt.“

„Bei Süchten macht geschlechtsspezifische Prävention Sinn“, weiß Psychiaterin Karin Gutíérrez-Lobos.

Sozial gut aufgehoben

Pubertierende grenzen sich von ihrer Familie ab, um ihre erwachsene Identität zu finden. Das erweiterte soziale Umfeld schärft die Selbstwahrnehmung.

Die Entwicklung in der Pubertät stellt Mädchen vor eine große Aufgabe: Sie müssen zu einer erwachsenen Identität finden und sich im Familien- und Freundeskreis neu positionieren. Die Möglichkeiten, sich in sozialen Gefügen zu erleben, sind unbegrenzt. Ob Mädchen tanzen, Fußball oder Tennis spielen oder sich ehrenamtlich engagieren: „Jeder Austausch mit anderen birgt die Chance, sich selbst zu reflektieren, weil man ja ein Feedback bekommt“, betont die Familienberaterin Christine Bischof. Durch die Reaktionen der anderen lässt sich die Selbstwahrnehmung verändern oder stärken – ein realistisches Selbstbild festigt sich. Als besonders stärkend erachtet die Expertin das Vorhandensein von „Räumen, in denen man sich ausprobieren darf, ohne bewertet zu werden“.

Das schulische Umfeld kann ebenfalls viel dazu beitragen, die Selbstwahrnehmung von Mädchen zu schärfen. Integrationslehrerin Gertraud Steurer verweist auf das Beispiel ihrer Schule, der „Integrativen Lernwerkstatt Brigittenau“ in Wien. „Wir haben eine hohe Gesprächs- und Konfliktkultur. Für jegliche Art von Problemen gibt es ein Gesprächsumfeld“, berichtet sie. Als besonders stärkend erleben die Kinder, dass sie selbst Konflikte lösen können: Interessierte SchülerInnen lassen sich zu StreitschlichterInnen ausbilden und unterstützen andere Kinder im Streitfall. Durch tägliche Gesprächsrunden üben die Kinder sich in der Selbstwahrnehmung: „Was beschäftigt mich? Worüber möchte ich mich austauschen?“ „Selbst Kinder, die eher verschlossen sind, gehen nach einiger Zeit aus sich heraus“, beobachtet Steurer.
Was heranwachsende Mädchen in ihrer gesunden Entwicklung hingegen bremst, seien bestimmt Rollenklischees: „Sie wirken besonders nachhaltig und sind wie selbsterfüllende Prophezeiungen“, informiert Karin Gutiérrez-Lobos. „Dem Klischee zufolge sind Mädchen angeblich ruhig, angepasst und sprachlich begabt, Buben hingegen wild und an Naturwissenschaften und Technik interessiert.“ Hinzu komme, dass biologische Prozesse mit sozialen und kulturellen in ständiger Wechselwirkung stünden, ergänzt die Psychiaterin: „Hirnstrukturen unterliegen den Auswirkungen kultureller Einflüsse und sind veränderbar. Sagt man einem Mädchen beispielsweise, sie könne nicht gut rechnen, so wird sie bei Matheschularbeiten schlechter abschneiden.“ Eine gerade publizierte Studie aus den USA, für die der Psychologe David Miller von der Northwestern University in Evanston (Illinois) Zeichnungen ab den 1960er-Jahren ausgewertet hat, zeigt, dass für den Großteil der Kinder und Jugendlichen Forschung immer noch in erster Linie ein Männerberuf ist. Umgekehrt beeinträchtigen soziale Klischees die körperliche Selbstwahrnehmung. Untersuchungen zufolge verspricht man sich heute noch von einem schönen Körper bessere Partnerchancen, ein erfolgreicheres Berufsleben und höheres soziales Prestige.

Um die Spirale zu durchbrechen, sollten Eltern ihren Kindern Stereotype bewusst machen und diese gemeinsam hinterfragen. Mädchen sollten von klein auf gezielt in ihrem Forschergeist gefördert werden. Sie sollen experimentieren dürfen und dabei herausfinden, was ihnen Spaß macht.

„Jeder Austausch mit anderen fördert die Selbstwahrnehmung“,
betont Familienberaterin Christine Bischof.

Der Körper als Freund

Um eine gesunde Körperwahrnehmung zu entwickeln, brauchen Mädchen vor allem positive, angemessene und wertschätzende Berührungen von Geburt an.

Berührungen sind essenziell, damit Mädchen ein gutes Körpergefühl und eine realistische Körperwahrnehmung entwickeln können. „Auch das Urvertrauen in die Welt wird körperlich vermittelt“, erklärt Martin Grunwald, Leiter des Haptik-Forschungslabors an der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig. Er setzt sich intensiv mit der Bedeutung von Berührung auseinander. Studien zeigen, dass ein positiver elterlicher Körperkontakt entscheidend für die Körperwahrnehmung des Kindes ist. „Für Mädchen ist insbesondere die wertschätzende Körperlichkeit der Väter wichtig.“ Wenn Väter sich komplett zurücknähmen und keine positiven Signale an ihre Töchter sendeten, habe das schwerwiegende Folgen. Kinder, die von klein auf nicht oder nur wenig berührt worden sind, zeigen oft eine verzögerte kognitive, emotionale und körperliche Entwicklung.

Fehlt es am richtigen Maß angemessener Berührungen, steigt das Risiko für eine Körperwahrnehmungsstörung, die Dysmorphophobie. Vor allem weibliche Teenager zwischen 14 und 20 Jahren sind betroffen: Sie sind überzeugt, hässlich und körperlich entstellt zu sein, obwohl das objektiv nicht stimmt. „Gerade in der Pubertät, wenn das Gehirn sich nochmals neu strukturiert, steigt die Gefahr, in eine psychische Erkrankung wie die Magersucht abzudriften“, ergänzt Grunwald. Diese sei auf ein „gestörtes Körperschema“ zurückzuführen. Mit dem Begriff „Körperschema“ wird der „neuronale Bauplan des Körpers im Gehirn“ bezeichnet, also das, wie der eigene Körper erlebt wird. Anorektische Mädchen empfinden sich als dick, obwohl das objektiv betrachtet nicht der Fall ist. Solche Körperschemastörungen würden in den ersten sechs Lebensjahren „in der Familie erzeugt“ und nicht durch Model- beziehungsweise Castingshows im Fernsehen, kommentiert Grunwald die aktuellen Diskussionen um Schönheitswettbewerbe: „Ein gesundes, selbstbewusstes Mädchen, das die Erfahrungen eines wertgeschätzten und souveränen Körpers gemacht hat, wird dadurch nicht magersüchtig.“

Dennoch: Das Vergleichen mit den geschönten medialen Bildern verändert den Blick auf den eigenen Körper. Viele Mädchen und junge Frauen erleben ihren Körper nicht als wertvollen Ausdruck ihres Selbst, sondern als Ansammlung von Problemzonen.

Mädchen mit fragilem Selbstwertgefühl sind besonders gefährdet, eine Essstörung zu entwickeln: In Österreich sind drei Prozent der Elf- bis 17-Jährigen betroffen. Zu 90 Prozent beginnt das Leiden mit einer Diät, die sich verselbstständigt: Seelische Belastungen – Selbstwertprobleme oder Ängste – werden über den Körper ausgetragen. Untersuchungen bei österreichischen SchülerInnen zeigen: Mehr als ein Drittel der Jugendlichen fühlt sich zu dick, obwohl nur 15 Prozent übergewichtig sind. Fast genauso viele wollen abnehmen oder machen gerade eine Diät. Mädchen sollten mit einem gesunden Maß an Berührungen heranwachsen. Sie sollen erfahren, dass jeder Körper einzigartig ist. Außerdem sollten sie über ein gesundes Essverhalten sowie die Gefahren von Diäten informiert werden. Auch gemeinsame Mahlzeiten in entspannter Atmosphäre sind ein Schutz vor Essstörungen.

Über die Macht der Berührung hat Martin Grunwald gerade
das Buch „Homo hapticus“ veröffentlicht.

Fotos: goinginternational.eu, privat, Margarete Cane

Erschienen in „Welt der Frauen“ 06/18

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  • Veröffentlicht: 24.06.2018
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